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Archiv "Ernst, sauer und wuchtig" (02.01.1975)

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Bericht und Meinung

DER KOMMENTAR

In einer Volksabstimmung haben die Schweizer zweimal zu Gesetz- entwürfen nein gesagt, mit denen das System der Krankenversiche-

rung mehr oder weniger geändert, wenn nicht „reformiert" werden sollte (in Heft 51/1974 wurde auf Seite 3665 bereits kurz darüber be- richtet). „Ernst und sauer" — so bezeichnete eine österreichische Zeitung die Stimmung, in der diese Volksabstimmung stattfand.

Es bleibt also in der Eidgenossen- schaft zunächst einmal alles beim alten, das heißt: Nach wie vor gibt es in der Schweiz ein Krankenver- sicherungssystem, das von den So- zialversicherungssystemen anderer Länder in manchen Punkten erheb- lich abweicht. Zwar gibt es in eini- gen Kantonen eine vollständige Versicherungspflicht ohne Rück- sicht auf das Einkommen, in ande- ren Kantonen wieder bestehen Gruppeneinteilungen der Bevölke- rung in solche, die pflichtversichert sein müssen, in andere, die zwar auch versichert sein müssen, aber bei denen die Ärzte nicht mehr an feste Honorare gebunden sind, und schließlich in die dritte Gruppe der nicht Versicherungspflichtigen. Der entscheidende Unterschied zu an- deren Sozialversicherungen ist der, daß die Krankenkassen durch lei- stungsgerechte Prämien, nicht aber durch Solidarbeiträge finanziert werden. Der sozial-solidarische Aspekt kommt auf einem anderen Wege in das System hinein: Dieje- nigen Kassen, deren Leistungsum- fang bestimmten zentral vorge- schriebenen Kriterien entspricht, werden als Sozialversicherungs- kassen anerkannt und erhalten Subventionen aus der Bundeskas- se.

In diesem System sind die Gestal- tungsmöglichkeiten recht vielfältig.

Und viel Raum steht auch zur Ver- fügung, den die Ärzte und die Krankenkassen durch ihre Verträ- ge ausgestalten können. Allerdings kommt es auch des öfteren vor, daß für längere oder gar lange Zei- ten kein Vertrag zustande kommt

— und die Schweizer sind da über- aus preußisch: Der „vertragslose Zustand" ist so gut geregelt, daß er bisweilen mindestens ebenso- gut funktioniert wie der Vertragszu- stand.

Auch über die beiden Vorschläge, die der Volksabstimmung zugrun- de lagen, ist im DEUTSCHEN ÄRZ- TEBLATT (Heft 46/1974, Seiten 3342 ff.) ausführlich berichtet wor- den. Eine dieser Vorlagen hatte das ganze, seit Jahren laufende Verfahren seinerzeit überhaupt in Gang gebracht: eine von der so- zialdemokratischen Partei ausge- hende Initiative für ein Krankenver-

sicherungs-Neuregelungs-Gesetz, das über eine einheitliche Organi- sation, einheitliche Beiträge und einheitliche Honorare schließlich eine Einheitsversicherung anvisier- te — für Schweizer Verhältnisse war dieser Vorschlag schon arg sozialistisch, und es war klar, daß er recht wenig Chancen haben würde, wenn es vernünftige Gegen- vorschläge gäbe. Um solche Vor- schläge war dann auch in den letz- ten Jahren lange verhandelt und gerungen worden, und dies führte zu einem recht spektakulären Er- eignis: Ein „Gegenvorschlag" kam schließlich zustande, als sich die ärztlichen Organisationen und die Vereinigung der Krankenkassen zusammengerauft hatten. Dies Zu- sammengehen der Partner im Krankenversicherungswesen war so eindrucksvoll, daß das eidge- nössische Parlament den von die- ser Aktionsgemeinschaft ausgear- beiteten Entwurf mit geringen Än-

derungen als offiziellen Gegenvor- schlag zur Krankenversicherungs- initiative der Sozialdemokraten ak- zeptierte. Das Wichtige an diesem Gegenvorschlag war, daß er vor- sah, die entscheidenden Grundsät- ze für das Krankenversicherungs- system nicht nur mit einfachem Gesetz zu regeln, sondern sie zu Verfassungsrecht zu machen — damit wäre eine höherwertige Ga- rantie für die freie ärztliche Berufs- ausübung, die freie Arztwahl und das gegliederte Krankenversiche- rungswesen erreicht worden.

Den beiden Vorschlägen gemein- sam war jedoch ein Abgehen von der bisherigen reinen Prämienfi- nanzierung. Der sozialdemokrati- sche Vorschlag sah insgesamt ein Beitragswesen nach „Lohnprozen- ten" vor, der Gegenvorschlag woll- te einen Teil der Krankenversiche- rungsausgaben mit solchen ein- kommensangepaßten Beiträgen fi- nanziert sehen.

Nun kann die Fragestellung in ei- ner Volksabstimmung nicht „ent- weder/oder" heißen. Das System verlangt es, daß dem Stimmbürger Vorlagen angeboten werden, zu denen er ja oder nein sagen kann.

Am 8. Dezember gab es also zwei verschiedene Vorlagen auf ver- schiedenen Stimmzetteln, und der Stimmbürger mußte zu jeder ein- zeln Stellung nehmen.

Dieses birgt natürlich ein großes verfahrenstechnisches Risiko, denn es könnten auch einmal zwei wi- dersprechende Vorlagen angenom- men oder abgelehnt werden. Letz- teres passierte. Daß die sozialde- mokratische Initiative keine großen Aussichten hatte, bestätigte sich;

die Nein-Mehrheiten waren erdrük- kend oder, wie man auf schweize- risch sagt, „wuchtig". Nur in einem einzigen Kanton kam die zustim- mende Minderheit in die Nähe der 50 Prozent: im Tessin. Der Gegen- vorschlag konnte aber auch nur in einem einzigen Kanton eine Mehr- heit erreichen: in Schaffhausen.

Aber insgesamt gab es immer noch fast doppelt soviel Nein- wie Ja- Stimmen.

Ernst, sauer und wuchtig

Volksabstimmung in der Schweiz endete mit „Zweimal Nein"

2 Heft 1 vom 2. Januar 1975 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Die Information:

Bericht und Meinung

Was nun? Die Schweizer organi- sierte Ärzteschaft stand recht ge- schlossen hinter dem „Gegenvor- schlag", an dem sie ja auch inten- siv mitgearbeitet hatte. In den letz- ten Wochen vor der Volksabstim- mung hatte man in den ärztlichen Hauptquartieren in Bern und Zü- rich sehr genau erkannt, daß ein Abstimmungsfiasko bevorstand, und man hatte mit ganz erhebli- chem publizistischen Aufwand vor- nehmlich gegen die Parole des

„Zweimal Nein" gekämpft — ver- geblich.

Man muß also zur Kenntnis neh- men, daß der Schweizer Stimmbür- ger einen Schritt zur Ausdehnung von Sozialversicherungseinrichtun- gen und damit zur Einschränkung seiner persönlichen Dispositions- freiheit nicht einmal dann zu ma- chen bereit ist, wenn die Ärzte ihm dazu raten.

Man kann auch den Schluß ziehen, daß die Schweizer mit ihrer bis- herigen ärztlichen und krankenver- sicherungstechnischen Versorgung zufrieden seien. Krankenkassen und Ärzte dürfen das mit einem gewissen Stolz registrieren — aller- dings sind damit mancherlei existie- rende Probleme nicht aus der Welt geschafft.

Diese Probleme sind in der Schweiz nicht anders als sonstwo in der Welt: Die Krankheit, die Krankenbehandlung und insbeson- dere das Krankenhauswesen wer- den immer teurer. Gegen den fi- nanziellen Bagatellfall wirkt in dem schweizerischen System die Selbstbeteiligung erheblich brem- send; was Ärzte und Krankenkas- sen gemeinsam beunruhigt, ist das Steigen der Kosten für das vor- nehmlich in der Krankenhausbe- handlung liegende „Katastrophen- risiko", das man mit dem bisheri- gen Prämiensystem nicht mehr glaubt finanzieren zu können.

Damit aber wird auch eine Be- trachtung der Abstimmungsergeb- nisse erforderlich, die über die rei- ne politische Systemfrage hinaus- geht. Denn die Stimmbürger hatten

gleichzeitig mit der Stimmabgabe zum Krankenversicherungssystem ebenso ernst, sauer und wuchtig ihrem Parlament eine weitere Nie- derlage beigebracht. In den Ab- stimmungs-Briefumschlägen lagen nämlich noch zwei weitere Stimm- zettel: Der eine ersuchte um die Ermächtigung zur „Verbesserung des Bundeshaushaltes", mit klare-

-ZITAT

Funktion der Vermassung

„Auf dem Bauernhof schar- ren zwei Dutzend Hühner im Mist — ihr Medikamenten- konsum ist gleich Null. In der Hühnerfabrik dagegen drän- gen sich rund 140 000 Hühner bei konzentrierten Tempera- turen und Lichtverhältnissen.

Hier werden die Medikamen- te kiloweise unter das Futter gemischt. Anders wäre diese Massenkonzentration nicht zu realisieren. Arzneimittel- verbrauch ist also eine Funk- tion der Vermassung. Die Probleme der Massenwirt- schaft werden durch Medika- mente zu einem großen Teil aufgefangen."

Professor Dr. Herder-Dorn- eich, Ordinarius für Sozial- politik an der Universität zu Köln, anläßlich eines Vortra- ges vor der Hauptversamm- lung des Hartmannbundes im September 1974 in Baden- Baden.

ren Worten auch „höhere Steuern"

zu nennen; der andere Stimmzettel enthielt einen Gesetzentwurf, der als Gegengewicht oder schmack- hafte Versüßung dieses Steuervor- schlages dienen sollte, nämlich ein Programm, das Ausgabenbeschlüs- se durch Regierung oder Parla- ment erschweren soll. Diese Er- schwerung von Ausgabenbeschlüs- sen wurde mit großer Mehrheit gut- geheißen, die „Verbesserung des

Bundeshaushalts" wurde aber trotzdem abgelehnt. Für den für die Finanzen zuständigen Bundesrat ist dieses Ergebnis eine mittlere Katastrophe.

Nimmt man aber die vier Abstim- mungen zusammen, dann ergibt sich ein ganz klares Bild: keine Er- höhung der Staatseinnahmen, schärfere Kontrolle der Staats- ausgaben, keine Ausdehnung des Krankenversicherungswesens in organisatorischer Hinsicht, womit aber auch mit Sicherheit eine Stei- gerung der persönlichen Leistun- gen jedes einzelnen verbunden sein muß — dies insgesamt ist als eine Absage an die allgegenwärti- ge Tendenz zur Ausweitung des

„öffentlichen Sektors" zu bewer- ten.

Die Schweizer haben „Stop" ge- sagt. Sie mußten sich dabei — im Abstimmungskampf ist das mit aller Deutlichkeit gesagt worden — darüber im klaren sein, daß ein solches Aufhalten des Staatsein- flusses in mancherlei Hinsicht — so zum Beispiel beim „großen Krankheitsrisiko" — von jedem einzelnen Bürger bezahlt werden muß.

Aber man darf auch annehmen, daß die Schweizer dies bezahlen wollen.

Gewiß ist in der Schweiz manches anders als sonstwo auf der Welt.

Aber daß die Bewohner eines hochdifferenzierten und hochspe- zialisierten Industriestaates mit ei- ner weitentwickelten Infrastruktur sich der Tendenz zur Ausweitung des „öffentlichen Sektors" entge- genstemmen, ist auch für andere ein Signal.

Die Parlamentarier, die sich ja in anderen Ländern nicht mit dem für die Gesetzgebung so schwierigen Hemmschuh des In- struments der Volksabstimmung abzuplagen haben, sollten darüber nachsinnen, ob ihre Wähler, die sich nicht in Volksabstimmungen artikulieren können, nicht vielleicht ähnlich denken. Walter Burkart

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Heft 1 vom 2. Januar 1975 3

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