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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Heft 26
vom 1. Juli 1983
Luthers kompromißlose Welt
Die Luther-Literatur aus Anlaß des 500. Geburts- tags des Reformators erreicht einen zum Fürchten großen Um- fang. Offenbar reizt die innerlich so wider- sprüchliche Gestalt die Autoren. Luther war be- herzter Fürsprecher sei- ner Botschaft, kompro- mißloser Gegner des Mißbrauchs christlicher Verkündigung, Schöpfer geistig-geistlicher Er- neuerung und erneuer- ter deutscher Sprache — alles unter dem Risiko des Henkerbeiles und Scheiterhaufens. Lu- ther: das war aber auch der maßlose Polemiker gegen die Bauern und Juden, der Antisemit.
Luther zerstörte in Mit- teleuropa die römisch- katholische Herrschaft, konnte aber nicht ver- hindern, daß sich die dortigen Territorialher- ren an Roms Stelle setzten .
Praktisch alle Luther-Ken- ner resümieren bei ihren Rezensionen: Die bisherige
„Lutherwelle" brachte fast ausschließlich Bemerkens- wertes bis Hervorragendes an Ergebnissen. Wer die Abgründe ausleuchten will in einer Person wie der Luthers, der muß gut gerü- stet an diese schwere Forschungsarbeit heran- gehen.
Der von dem Züricher Theologen Ebeling einge- leitete und von dem Nürn- berger Nationalmuseums- direktor Bott edierte Lu- therband und die von Karin Bornkamm und ebenfalls von Ebeling besorgte sechsbändige Auswahl von Luthers Schriften sind glei- chermaßen Gütearbeit ver- sierter Kenner. Text und sehr gut reproduzierte Bil- der (darunter neu aufge- nommene Fotografien der wichtigsten Lutherstätten in der Bundesrepublik und Mitteldeutschland) führen durch die graue, ständig gefährdete geistige Werk- statt Martin Luthers, der im Laufe seines relativ kurzen Lebens geschichtsprägen- den geistigen Sprengstoff schuf, eine mächtige Lite- ratur aus sich herauspreß- te, der aber auch in seiner Menschlichkeit geschildert wird, der guten Trunk und gute Speise liebte, zugleich gegen das „Sauflaster' an den deutschen Höfen wet- terte, der schwer litt an sei- nen Nieren- und Blasen- steinen.
Das Gestaltungsprinzip, Biographie, Milieu und Mit- arbeiter Luthers als Trias zu vereinen, ist gelungen.
Luther lebte in einer kom- promißlosen Welt. Für den, der nicht parierte, qualmte das Feuer, rasselte die Ket-
te. Verschlossen die Ge- sichter der Menschen, herb der Gesichtszug der Frau- en insbesondere, gigan- tisch die Mauern der Klö- ster, Schlösser und Stadt- türme, bis an die Zähne be- waffnet die Männer, martia- lisch die Kunst. Es ist auf- schlußreich, daß diese Zeit die Technik der Schlösser, die Kunst zu verriegeln und abzuschließen, bis zur Per- fektion entwickelte. In die- ser Welt gedieh keine Tole- ranz, Rom konnten um die- se Zeit auch keine from- men gehorsamen Seelchen imponieren.
Der Band unterschlägt auch nicht die fragwürdi- gen Kompromisse, die Lu- ther einging und der evan- gelischen Sache schwer schadeten, so etwa in der Frage der Doppelehe des Landgrafen Philipp von Hessen. Luther stöhnt oft unter dem Alltag, macht seiner Frau Käthe oft gehö- rigen Kummer mit seiner gastlichen Freizügigkeit, ächzt unterm Joch des Übersetzers aus dem He- bräischen und Griechi- schen, in der er „solche Wacken und Klötze aus dem Weg räumete, auf daß man könnte so fein daher- gehen", unterm Kreuz sei- ner Krankheiten, die er mit Galgenhumor trug. Mit der Dokumenten- und Bilder- auswahl wird genau vorge- führt, daß die Reformation weniger ein glänzender Ti- tanenwurf und -sturz war, sondern eine verschleißen- de Kärrnerarbeit.
Die Gegner zollten erst Re- spekt, wenn sie geschlagen waren — Toleranz zu ent- wickeln und zur Blüte zu führen, war erst Voltaire und der Aufklärung ver- gönnt.
Der beste Begleiter zu die- sem Band scheinen uns die vom gleichen Verlag edier- ten sechs Bändchen mit den Schriften Luthers. Die Auswahl trifft nach unse- rem Ermessen seine Kern- werke.
Ekkhard Häussermann, Köln
Karin Bornkamm, Gerhard Ebeling (Hrsg.): Martin Lu- ther, Jubiläumsausgabe, Aus- gewählte Schriften in sechs Bänden, 1982, 1900 Seiten, gebunden, 42 DM
Gerhard Bott, Gerhard Ebe- ling, Bernd Moeller (Hrsg.):
Martin Luther, Sein Leben in Bildern und Texten, Insel Ver- lag, Frankfurt/M., 1983, 344 Seiten, 291 Abbildungen, Ganzleinen mit Schutzum- schlag, 98 DM
Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Antho- logie 6, Gedichte und Inter- pretationen, Insel Verlag, Frankfurt am Main, 1982, 318 Seiten, Leinen, 28 DM Die Idee dürfte den Lesern der Sonntagsbeilage der FAZ vertraut sein: Zeitge- nössische Autoren inter- pretieren Gedichte ihrer Kollegen. Diese Interpreta- tionen sind so subjektiv, daß sie den leidgeprüften Absolventen höherer Gym- nasien zum Trost und den Kultusministern zur Beleh- rung überreicht werden sollten. Aber auch die Grenzen der Lyrikinterpre- tationen werden da sicht- bar: Gedichte sind ja, wie Musik, oft eher analoge als digitale Mitteilungen, et- was, das es eher zu erfüllen als zu durchdenken gilt, und gerade bei Interpreta- tionen von Gedichten von Paul Celan zeigen sich doch die Grenzen dieses Bemühens. Peter Gundel,
Lörrach Ausgabe A DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 26 vom 1. Juli 1983 79