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Archiv "Reform der sozialen Sicherungssysteme: Großer Handlungsspielraum" (04.04.2003)

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er Handlungsspielraum des Ge- setzgebers bei der Gestaltung der sozialrechtlichen Beziehung ist, an der Verfassung gemessen, sehr weit, an der gesellschaftlichen Wirklichkeit ge- messen, dagegen sehr eng. So lautete das Fazit der Ausführungen von Renate Jae- ger, Richterin am Bundesverfassungs- gericht in Karlsruhe, beim 1. Kölner So- zialrechtstag, der sich mit der Reform der sozialen Sicherungssysteme ausein- ander setzte. Die Verfassung gebe keine bestimmte Sozialordnung vor, betonte Jaeger.Auch bei der Gesundheitsversor- gung innerhalb der Gesetzlichen Kran- kenversicherung (GKV) entscheide die Politik, nicht die Verfassung über Maß- nahmen, die die Gemeinwohlbelange sichern. Punktuelle Benachteiligungen seien hinzunehmen, wenn eine Rege- lung insgesamt dem sozialen Ausgleich dient; Beschränkungen der Berufsfreiheit könnten begründet sein, wenn sie für die soziale Sicherheit als einem zentralen Gemeinwohlbelang erforderlich sind.

Das Bundesverfassungsgericht habe 1987 in einem Urteilsspruch den solidari- schen Charakter, den Gedanken des so- zialen Ausgleichs unter den Versicherten innerhalb der GKV unterstrichen. Nach Einschätzung von Jaeger hat in dem rela- tiv kurzen Zeitraum bis heute ein Werte- wandel hin zur Ökonomisierung stattge- funden. Das Bundesverfassungsgericht sei, indem es für Kontinuität in der Sozi- alversicherung steht, offenbar die letzte Institution, die dem Gedanken der Soli- darität noch anhängt. Allerdings trage der sozialpflichtig Versicherte nicht nur die Chancen, sondern auch die Risiken des Systems. Inzwischen sei es notwendig geworden, Anpassungen, das heißt Ein- schränkungen von Leistungen vorzu- nehmen. Dies führe zu einem kaum zu lösenden Spannungsverhältnis: Der Staat zwinge den Bürger in eine Pflichtversi-

cherung und binde damit Beiträge, die anderenfalls für die private Vorsor- ge aufgewandt würden. Inwieweit darf der Gesetzgeber dann Leistungen ein- schränken und den Anspruch auf all- umfassende Versorgung verweigern?

Skeptisch beurteilte Dr. jur. Ulrich Wenner, Richter am Bundessozialge- richt in Kassel, die in den ersten Roh- entwürfen zum Gesundheitssystemmo- dernisierungsgesetz enthaltenen Passa- gen zur weiteren Öffnung der Kranken- häuser für die ambulante fachärztliche Behandlung. Eine kurzfristige Realisie- rung ohne eine Vielzahl von Begleitre- geln würde mehr Probleme schaffen, als sie löst. So sei etwa die Legitimation der vertragsärztlichen Bedarfsplanung bei einer generellen Öffnung infrage ge- stellt. Allerdings sei diese dem Roh- entwurf zufolge nur bei Unterversor- gung, die von den Landesausschüssen der Ärzte und Krankenkassen festge- stellt werden muss, vorgesehen. Dass dieser Fall jemals eintritt, sei unwahr- scheinlich.

Gesetzliche Vorgaben sollten besser genutzt werden

Wenner plädierte dafür, die vorhande- nen Möglichkeiten zur Verzahnung von ambulanter und stationärer Versorgung besser auszuloten, bevor das ganze Sy- stem gekippt wird. Immer neue gesetz- liche Regelungen würden geschaffen, ohne dass bestehende Regelungen eva- luiert worden seien. So sei etwa das In- strumentarium zur vor- und nachsta- tionären Behandlung im Krankenhaus nur ansatzweise genutzt worden. Auch hinsichtlich des im Gesetz verankerten Grundsatzes „ambulant vor stationär“

vermisst Wenner in den Vereinbarungen der untergesetzlichen Normgeber, das

heißt der Vertragspartner in der Ge- setzlichen Krankenversicherung, hin- reichende Festlegungen. Notwendig sei ein präziser Katalog operativer Eingrif- fe, die grundsätzlich ambulant vorge- nommen werden sollen. Solche Eingrif- fe dürften dann nur in eng begrenzten, medizinisch zu begründenden Ausnah- mefällen stationär erbracht werden.

Wenner verwies auf den derzeit zu beobachtenden Trend, dass Ausschlüs- se von Untersuchungs- und Behand- lungsmethoden im ambulanten Bereich durch stationäre Aufnahmen umgangen werden. Vergleichbar dem Bundesaus- schuss der Ärzte und Krankenkassen für die ambulante Versorgung müsse deshalb der Ausschuss Krankenhaus normativ festlegen, welche Methoden im Krankenhaus nicht dem Standard der GKV entsprechen.

Am Beispiel der Kieferorthopädie machte Wenner deutlich, wie problema- tisch es ist, wenn der Gesetzgeber den prinzipiell unbegrenzten Behandlungs- anspruch des Versicherten auf medi- zinisch Notwendiges durch Ausschluss bestimmter Leistungen reguliert. So sei- en Implantate auch dann, wenn wegen einer Kieferatrophie die normale Kau- funktion nicht wieder hergestellt wer- den kann, von der GKV-Versorgung ausgeschlossen. Dies kollidiere mit den Regelungen zur Bezahlung medizini- scher Leistungen in der Sozialhilfe, die den Leistungsausschluss in der GKV nicht mittragen – das heißt, in diesem Fall erhält der Sozialhilfeempfänger ei- ne bessere Versorgung als der GKV- Versicherte.Am gleichen Beispiel zeigte Wenner Verwerfungen auf, die zu weite- ren verfassungsrechtlichen Bedenken führten: Implantate seien zwar aus dem GKV-Leistungskatalog herausgenom- men, nicht aber der darauf befestigte Zahnersatz. Also bezahlen diejenigen, die sich Implantate nicht leisten kön- nen, mit ihren Beiträgen den Zahn- ersatz für diejenigen, die die Kosten für Implantate tragen können. Absch- ließend mahnte Wenner eine offene Debatte darüber an, ob oder inwieweit finanzielle Aspekte der Krankenver- sorgung Grenzen setzen dürfen. Diese könne nicht auf die GKV beschränkt bleiben, sondern müsse auch Beihilfe, private Krankenversicherung und So- zialhilfe einschließen. Thomas Gerst P O L I T I K

Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 144. April 2003 AA887

Reform der sozialen Sicherungssysteme

Großer Handlungsspielraum

Die Politik, nicht die Verfassung entscheidet über Maßnahmen,

die Gemeinwohlbelange sichern. Bestehende gesetzliche

Möglichkeiten sollten jedoch zunächst ausgeschöpft werden.

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