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Archiv "Individualisierte Medizin: Die neue Medizin und ihre Versprechen" (28.05.2010)

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A 1062 Deutsches Ärzteblatt

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28. Mai 2010

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ersonalisierte oder individua- lisierte Medizin ist in aller Munde. Die beiden, in der Regel synonym verwendeten Bezeichnun- gen stehen für einen stärker ge - wordenen Trend in der Medizin.

Groß angelegte Forschungsverbün- de (etwa der „Greifswald Approach to Individualized Medicine“ – GANI_MED), die zunehmende An- zahl von Publikationen, öffentliche

Veranstaltungen zum Thema und offizielle Stellungnahmen (zum Beispiel vom Büro für Technikfol- gen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag) bestätigen diesen Ein- druck (1). Dabei haftet dem Begriff, so wird allseits festgestellt, eine terminologische Unsicherheit an.

Ja, der Verweis auf das Individuum beziehungsweise die Person führt geradewegs in die Irre, handelt es

sich doch gerade nicht um eine Me- dizin, die sich an den individuellen Bedürfnissen des einzelnen Patien- ten orientiert.

Wofür individualisierte Medizin steht, variiert tatsächlich von Kon- text zu Kontext und von Redner zu Redner. Ob damit eine pharmako - genetische Forschungsrichtung ge- meint ist, die genetische und bioche- mische Unterschiede und Varianten im menschlichen Körper zu erfassen versucht, ob es sich um individuell maßgeschneiderte Therapieansätze, um die prognostische Ermittlung ei- nes individuellen Risikoprofils oder um eine stärkere Patientenorientie- rung im Gesundheitswesen handelt – eines scheint jedenfalls festzustehen:

Individualisierte Medizin weckt bei Forschungsinstitutionen, Leistungs- anbietern und Patienten gleicherma- ßen hohe Erwartungen. Selbst die Politik verspricht sich von der perso- nalisierten Medizin Einsparungen im Gesundheitswesen. Längst bieten auch internistische und allgemein- medizinische Praxen die Erstellung eines individuellen Risikoprofils an und nennen dieses Verfahren „perso- nalisierte Medizin“. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann sich dieser Be- griff auch in einer breiteren Öffent- lichkeit etablieren wird.

Patientenverbände reagieren be- reits jetzt auf die neue Medizin und geben sich durchaus hoffnungsfroh.

So setzt der Vorsitzende des Lan- desverbandes Nordrhein-Westfalen des Deutschen Diabetikerbundes, Martin Hadder, seine Hoffnungen auf die erst kürzlich ins Leben geru- fene Gesellschaft für Personalisier- te Medizin in Europa (www.epma net.eu): Ein personalisierter Thera- pieansatz, so Hadder auf der Home- page der Gesellschaft, sei lebens- wichtig für Diabetiker, die allzu oft nach einem Standardverfahren, aber nicht individuell angepasst therapiert würden.

Welche Erwartungen suggeriert eine Medizin, die sich als personali- sierend und individualisierend be- zeichnet, und entsprechen diese Er- wartungen den tatsächlichen Zielen in diesem zukunftsorientierten For- schungsbereich? Man wird zu- nächst gut daran tun, die Begriffe wie Individualität, Individualisie- INDIVIDUALISIERTE MEDIZIN

Die neue Medizin und ihre Versprechen

Die individualisierte Medizin birgt Potenziale, aber auch Gefahren, die erkannt werden müssen. Sie muss sich ihrer Verantwortung gegenüber dem einzelnen Patienten bewusst werden.

Foto: mauritius images

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28. Mai 2010 A 1063 rung und Personalisierung in ihren

aktuellen wie historischen Verwen- dungen näher zu betrachten.

Der individuelle Faktor in der Medizin

Im Zeitalter der Globalisierung, in dem Massenanfertigung sogar den Luxuskonsumbereich erreicht hat, gehört es zu den kleinen Auswegen, Objekte – etwa Autos, Handys, Laptops – „personalisieren“ zu las- sen. Und vielleicht ist die provoka- tiv anmutende Parallele zwischen personalisierter Medizin und dem kommerziellen Bestreben nicht all- zu abwegig. Offenbar scheint den zwei Bereichen die Motivation ge- meinsam zu sein, der Standardisie- rung von Produkten (Autos wie auch Medikamenten) einen indivi- duellen Bedarf entgegensetzen zu wollen, welcher der Ausdifferenzie- rung von Wünschen und Ansprü- chen entspricht.

Medizinhistorisch betrachtet ist dies kein neues Phänomen. In der Medizin besteht eine viel ältere Tra- dition, in der die Auseinanderset- zung mit der Person des Patienten, mit seiner ganz individuellen Situa- tion im Kranksein, wesentlich ist.

Es ist der Duktus der hippokrati- schen Medizin, in der das Individu- um, seine Krankheit und die Um- welt drei konstitutive Varianten dar- stellen, durch die der Arzt immer von Neuem herausgefordert wird.

Generationen von Medizinern ha- ben um diesen individuellen Faktor gerungen und darin sowohl die Es- senz einer praktisch orientierten Medizin als auch eine Bedrohung für den wissenschaftlichen An- spruch der Disziplin erkannt. Als sich im 19. Jahrhundert die Medizin als exakte Wissenschaft zu profilie- ren begann, hat sie sich umso ent- schiedener vom individuellen Fak- tor zu distanzieren versucht. Die Quantifizierungsbestrebungen und die Suche nach aussagekräftigen, sicheren Durchschnitts-, Normal- und Abweichungswerten begleiteten den anstrengenden Kampf gegen die Willkür der Variation. Die natur- wissenschaftlich-exakte Medizin – so sehr sie sich in mancherlei Hinsicht auch als Erfolgsmodell entpuppte – blieb allerdings nicht unwiderspro-

chen. Immer wieder traten Ärzte mit dem Anspruch hervor, die Me- dizin müsse stärker am In dividuum ausgerichtet sein. Im 20. Jahrhun- dert wurden diese Forderungen im- mer dann besonders laut, wenn sich die Medizin und der Medizinbetrieb in einer Krise befanden. Beispiels- weise in den 1920er Jahren, als sich unter den Medizinern eine Gegen- bewegung zur naturwissenschaft- lichen Medizin des ausgehenden 19. Jahrhunderts formierte. Den Pa- tienten wieder in den Mittelpunkt rücken, lautete die damalige Devise.

Der Arzt behandele nicht Bakterien oder defekte Organe, sondern kran- ke Menschen, so etwa einer der be- rühmtesten Vertreter der anthro- pologischen Medizin, Viktor von Weizsäcker (2). Dieser ganzheitli- che Ansatz, der nicht zuletzt die Psychosomatik entscheidend voran- brachte, war jedoch nicht die ein- zige Strömung, die von diesem neu- en Anliegen der Individualisierung profitierte. Die Konstitutionsfor- schung der 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts ist der heutigen Forschung über Gen- und Biomar- ker in mancherlei Hinsicht ver- blüffend ähnlich (3). Sie wand- te sich ebenso Patienten- und Probandenkohorten zu, um sie nach morphologischen und biopsychischen Merk - malen weniger zu indivi- dualisieren als zu stratifizie- ren und zu typisieren – eine Methode, die heute mit der neuesten Informationstechnologie sicherlich eine ganz neue Dimen - sion gewinnt. Zumindest den An- spruch, dabei individualisierend vorzugehen beziehungsweise die Individualität eigentlich erst erfas- sen zu können, um sie in einem zweiten Schritt zurück zum Typus zu führen, teilt die damalige Kons - titutionsforschung mit einigen der aktuellen Forschungsanliegen.

Potenziale und Gefahren der neuen Medizin

Ist also die aktuelle Tendenz der Medizin, sich mit individuellen Varianten auseinanderzusetzen und diese in Therapie- und Präventions- programmen zu berücksichtigen, gar nicht so neu? Sicherlich nicht,

denn sie wurzelt in einer Tradition, die zwar keineswegs linear verlief, sich jedoch in den jeweiligen kultu- rellen Kontexten ausdifferenzieren konnte. Die Ziele der gesundheits- fördernden Medizin lassen sich mit denen vergleichen, nach denen die in der Antike entstandene Hygiene immer schon strebte. Und im Grun- de genommen steht auch der perso- nalisierte Ansatz als der Königs- weg, der dem individuellen Faktor in der Medizin gerecht werden soll, damals wie heute im Zentrum gesundheitsfördernden Bestrebens.

Doch die Daten, die die Medizin heute vom Patienten/Probanden er- hebt, in Datenbanken bewahrt und für die Forschung, auch der künfti- gen, verfügbar macht, erweisen sich als „offene“ Informationsquelle und erhalten dadurch eine entschieden neue Valenz (4).

Auch wenn die klinische Anwen- dung der individualisierten Medizin noch in den Kinderschuhen steckt, lassen es die durch IT-Technologie

erweiterten

Möglichkeiten der In-

formationsgewinnung trotz alledem angebracht erscheinen, von einer Wende mit epistemologischer und ethischer Tragweite zu reden. Eine Wende, der sicherlich ein großes Potenzial innewohnt. Doch für die Entfaltung dieses Potenzials sind eine kontextbezogene Reflexion und moralische Vergewisserung notwendig. Vor allem muss sich die personalisierte Medizin der Verant- wortung bewusst sein, die sie dem individuellen Patienten gegenüber in Zukunft zu erbringen hat. ►

Foto: Takeda Pharma

T H E M E N D E R Z E I T

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A 1064 Deutsches Ärzteblatt

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28. Mai 2010 Die individualisierte Medizin

weckt Hoffnungen, die schwer zu befriedigen sind. Laien stellen sich darunter eine Medizin vor, die sich dem Patienten als Individuum mit spezifischen Vorstellungen und Wünschen widmet. Sie erwarten von einem Arzt, der diese Leistung anbietet, dass er sich Zeit für die Patienten nimmt, sie sorgfältig un- tersucht und die für sie zutreffende Therapie oder den guten Rat zur an- gemessenen gesundheitsfördernden Lebensführung erteilen kann.

Wie sie heute angelegt ist, kann die individualisierte Medizin diese Erwartungen nur beschränkt erfüllen.

Sie bietet präzisere, individuell abge- stimmte Therapien an, und der Pa- tient, der in den Genuss eines sol- chen medizinischen Angebots kommt, geht von einer deutlich höheren Wahrscheinlichkeit des therapeuti- schen Erfolgs aus. Sie lässt Verspre- chungen eines effektiveren Gesund- heitssystem zu, in dem die Behand- lungskosten chronischer Krankheiten (Diabetes mellitus, Herz-Kreislauf- Erkrankungen, Krebserkrankungen) dank der Verwendung effektiverer Medikamente gesenkt werden könn- ten. Hier drängt sich allerdings die Frage auf, ob die Ausdifferenzierung des pharmazeutischen Angebots weg vom Breitspektrum-Medikament hin zum individualisierten Pharmakon ein exklusives, nur wenigen Patien- ten zugängliches Angebot nach sich ziehen wird. Damit ist aber eine Rei- he anderer Fragen medizinethischer Tragweite verknüpft, die die indivi- dualisierte Medizin generiert und mit denen wir uns ernsthaft auseinander- setzen müssen:

Ist es statthaft, angesichts der finanziell prekären Lage des deut- schen Gesundheitssystems die indi- vidualisierte Medizin zur Medizin der Zukunft zu deklarieren?

Wie lässt sich garantieren, dass ein individualisiertes, medizi- nisches Angebot für alle zur Verfü- gung gestellt werden kann?

Stehen die Investitionen, die derzeit für diesen Trend in der Me- dizin mobilisiert werden, in einem nachvollziehbaren Verhältnis zu den erwarteten Ergebnissen?

Gerechtigkeits-, Allokations- und Nachhaltigkeitsprobleme tauchen

in diesem Zusammenhang auf und erhalten ein neues Gewicht da- durch, dass sie von den Fragen nach dem sich wandelnden Sinn und Zweck der Medizin nicht zu trennen sind. Denn die individuali- sierte Medizin beschränkt sich

nicht auf die präzisere Bestim- mung von Therapien durch eine Individualisierung von Medika- menten. Sie belegt zunehmend den prädiktiven Bereich, stellt Risiko- profile her, macht „noch gesunde“

Menschen auf ihre Prädispositio- nen aufmerksam, um vor dem Ein- treten von Erkrankungen vorbeu- gende Maßnahmen für sie zu ent- wickeln. In diesem Sinne besetzt die individualisierte Medizin nach und nach einen Bereich, der bisher privates Eigentum war: die Zeit vor der Erkrankung, die Zeit des noch gesunden Lebens.

Warnung vor allzu optimistischen Visionen

Die Verantwortung der Medizin wird sehr groß sein, allein schon aufgrund der existenziellen Trag- weite der Informationen, die sie dem Individuum zur Verfügung stellt. Künftig wird die Heraus - forderung darin bestehen, solche Informationen zu deuten, zu „über- setzen“, ihrem Wahrscheinlich- keitsgehalt gemäß zu gewichten, um sie als Grundlage für einen kompetenten Umgang mit Gesund- heitserhaltung und Krankheits - vorbeugung zu nutzen. Kurzum: In der Medizin muss eine hermeneu- tische Praxis etabliert werden (5).

Medizin ethische und kommunika- tive Soft Skills gehören zu den zentralen Voraussetzungen jener Ärzte, die in Zukunft einen be- wusst individualisierten medizini- schen Ansatz anbieten werden.

Das unverkennbare Potenzial die- ses medizinischen Trends kann und sollte entfaltet werden, doch muss vor allzu optimistischen vi- sionären Szenarien gewarnt wer-

den, in denen immer gesündere Menschen dank der Medizin im- mer älter werden und ganz gesund sterben könnten. Die Geschichte der individualisierenden Bestre- bungen in der Medizin zeigt, wel- che gegensätzlichen Zielsetzungen

im Namen des individuellen Pa- tienten verfolgt wurden, wenn die- ser zum Typus standardisiert und dementsprechend in seiner Einzig- artigkeit geradezu verkannt wurde.

Sie zeigt aber auch, wie die Medi- zin dank ihrer zutiefst anthropolo- gischen Dimension der ernsthaften Auseinandersetzung mit dem indi- viduellen Faktor gerecht werden kann. Sollte es der individualisier- ten Medizin gelingen, die quantita- tiv und qualitativ immens werden- de Informationsmenge von/über Patienten und Probanden mit kul- turellem und moralischem Be- wusstsein zu flankieren, wären die Chancen und Aussichten, ihre Ver- sprechen zu halten, noch größer als

bisher erhofft. ■

Prof. Dr. phil. Dr. rer. med. Mariacarla Gadebusch Bondio, Dr. Susanne Michl,

Institut für Geschichte der Medizin Ernst-Moritz-Arndt Universität Greifswald

LITERATUR

1. Siehe hierzu auch Hempel U: Personalisier- te Medizin I: Keine Heilkunst mehr, sondern rationale, molekulare Wissenschaft. Dtsch Arztebl 2009; 106(42): A 2068; und Krü- ger-Brand H: Personalisierte Medizin II: Die Komplexität ist ohne IT nicht beherrschbar.

Dtsch Arztebl 2009; 106(42): A 2072.

2. von Weizsäcker V: Der kranke Mensch. Eine Einführung in die medizinische Anthropolo- gie, Stuttgart: Koehler 1951; ders.: Arzt und Kranker, Stuttgart: Koehler 1949.

3. Siehe stellvertretend für zahlreiche Werke Kretschmer E: Körperbau und Charakter.

Untersuchungen zum Konstitutionsproblem und zu der Lehre von den Temperamenten, Berlin: Springer 1942.

4. Breidbach O: Neue Wissensordnungen. Wie aus Informationen und Nachrichten kultu- relles Wissen entsteht, Frankfurt/M.: Suhr- kamp 2008.

5. MacIntyre A: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart. (aus dem Englischen von Wolfgang Rhiel), Frankfurt am Main 1995: Suhrkamp.

Vor allem muss sich die personalisierte Medizin der Verantwortung bewusst sein, die sie dem individuellen Patienten gegenüber in Zukunft zu erbringen hat.

Diese Publikation ist im Rahmen des Forschungsverbundes Greifswald Approach to Individualized Medicine (GANI_MED) entstanden. Das GANI_MED-Konsortium wird finanziert von dem Bundesministe - rium für Bildung und Forschung und der Landesregierung von Mecklenburg-Vorpom- mern (03IS2061A).

T H E M E N D E R Z E I T

Referenzen

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