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Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 47, 20. November 1998 (1)
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ndrea Fischer, die neue Bundesgesundheitsministe- rin, wird derzeit von aller- lei Kommentatoren darauf einge- stimmt, was ihr blühe, wenn sie im Gesundheitswesen reformieren wolle. Sie werde es mit starken Lobby-Gruppen zu tun haben, an denen schon ihre Vorgängerinnen und Vorgänger gescheitert seien.Genannt werden „die mächtige Pharmaindustrie“ und „die Ärz- te“; unterschlagen werden zumeist die Krankenkassen.
Interessenpolitik funktioniert im Gesundheitswesen nicht besser und nicht schlechter als etwa in der Wirtschaftspolitik oder in der Agrarpolitik. Die Wirtschaftsmi- nister hatten immer – egal unter welcher Regierung – ein offenes Ohr für die Interessenverbände, insbesondere der Großindustrie.
Die brauchten in den letzten Jah- ren nur mit den Keulen Arbeits- platzabbau und Standortverlage- rung zu winken, schon knickte die Regierung ein. Die Landwirt- schaft wurde sogar direkt am Ka- binettstisch durch einen der Ihren repräsentiert.
In der Gesundheitspolitik war es ein wenig anders. Hier hat sich der für die Krankenversicherung zuständige Minister überwiegend als Gegenpart der vermeintlich mächtigen Gruppen verstanden und sich in der Regel eher den Krankenkassen verbunden ge- fühlt. Erst Horst Seehofer hat hier gewechselt: In der einen Legisla- turperiode kamen die Kranken- kassen dran, in der nächsten die Leistungserbringer.
Zur Zeit scheinen die Kran- kenkassen wieder am Zuge zu sein.
Jedenfalls sieht das Vorschaltge-
setz, das mit Hochdruck innerhalb eines Monats durch das Parlament gedrückt werden soll, ohne daß die Beteiligten groß dagegen auffah- ren könnten, über weite Strecken so aus, als käme es aus dem AOK- Bundesverband.
Die Erfahrungen der früheren Bundesgesundheitsminister leh- ren, daß es nicht der Sache dient, allzusehr eine Seite zu bedienen.
In der Gesundheitspolitik müssen vielmehr eigene Akzente gesetzt werden, unter Berücksichtigung der (gegenläufigen) Interessen, aber nicht unter einseitigem Nach- geben gegenüber dem einen oder anderen.
Maßstab für einen Gesund- heitsminister kann eigentlich nur die humane Krankenversorgung sein, nicht einmal stabile Beitrags- sätze, obwohl die öffentliche Dis- kussion seit Jahren offenbar die als den eigentlichen Gegenstand von Gesundheitspolitik ansieht.
Blüm oder Seehofer sind nicht an den Interessengruppen gescheitert, wenn sie denn ge- scheitert sind (das wäre noch eine Untersuchung wert), sondern an dem Grund-Konflikt der Gesund- heitspolitik, mit dem sich auch Frau Fischer herumschlagen muß:
Die Erwartungen an die medizini- sche, ärztliche und pflegerische Versorgung sind hoch, steigen, der objektive Behandlungsbedarf nimmt zu, während die Finanzmit- tel in diesem Ausmaß nicht nach- kommen.
Hier hilft keine Gesundbete- rei. Darunter fällt auch der belieb- te Hinweis auf die Rationalisie- rungsreserven. Kanzler Schröder hat diese alte Gebetsmühle gera- de während der Regierungser-
klärung wieder gedreht. Es gibt si- cher Rationalisierungsreserven.
In einem Markt, in dem über 500 Milliarden Mark umgesetzt wer- den, kann das gar nicht anders sein. Aber bisher fehlen überzeu- gende Nachweise, daß mit Ratio- nalisierung der steigende Lei- stungsbedarf tatsächlich bewältigt werden kann.
Es gibt allerdings Heilslehren (und die sollten als solche erkannt werden), als da sind: strikte Budge- tierung, reiner Wettbewerb oder neuerdings Primärarztsystem, Ver- netzung, Einkaufsmodell. Das mag alles etwas bringen. Letzten Endes bleibt der Grund-Kon- flikt: Zu wenig Geld für zu (?) ho- he Ansprüche. Die Schlußfolge- rung für die Gesundheitspolitik heißt schlicht und dramatisch: Ver- besserung der „Einnahmeseite“
oder Leistungsabbau bis hin zur Rationierung. Wenn letztere un- ausweichlich erscheint, muß es of- fen ausgesprochen werden – und zwar von Gesundheitspolitik und Krankenkassen. Es wäre unred- lich, von den Leistungserbringern zu erwarten, das Rationieren gleichsam stillschweigend zu be- sorgen. Das mag noch angehen, so- lange es um Firlefanz geht, nicht aber, wenn echte medizinische Lei- stungen betroffen sind.
Eine Anfrage des Deutschen Ärzteblattes an seine Leser hat in dieser Hinsicht einiges zutage ge- fördert: Von 450 Lesern sind drei- viertel der Meinung, es werde be- reits rationiert; sie haben aufgeli- stet, wo das heute schon der Fall ist. Die Befragung wird zur Zeit ausgewertet, das Ergebnis wird in einem der nächsten Hefte veröf- fentlicht. Norbert Jachertz