Deutsches ÄrzteblattJg. 105Heft 822. Februar 2008 A391
T H E M E N D E R Z E I T
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ie kann eine gemeinsame Position der Ärzte zum künftigen Einsatz von Informations- und Komunikationstechnologien (IKT) im Gesundheitswesen ausse- hen? Der nächste Deutsche Ärztetag in Ulm soll bei der Beantwortung dieser heftig umstrittenen Frage mehr Klarheit bringen. Um Grundla-gen für eine sachorientierte Ausein- andersetzung zu schaffen, hatte die Bundesärztekammer kürzlich ein Positionspapier zum Einsatz von Telematik im Gesundheitswesen ver- öffentlicht und zur Diskussion aufge- rufen (siehe DÄ, Heft 5/2008). Vor diesem Hintergrund beschäftigte sich der Telematik-Tag der Ärztekammer Nordrhein mit „Risiken und Neben- wirkungen“ von Telematik und dem Projekt der elektronischen Gesund- heitskarte (eGK).
Redlich Mühe, „Ängste vor dem ,Monster eGK‘ zu nehmen“, gab sich Dr. Thilo Weichert, der Daten- schutzbeauftragte des Landes Schles- wig-Holstein. „Es bedarf eines orga- nischen Prozesses, um solch ein
hochkomplexes Verfahren wie die eGK zu etablieren“, betonte Wei- chert. Probleme bei der Erprobung seien „völlig normal“, es komme bei IT-Großprojekten darauf an, diese permanent zu evaluieren und anzu- passen. Neben „harten“ Faktoren wie Funktionalität und Sicherheit der Systeme und der Infrastruktur spielen „weiche“ Faktoren wie die Akzeptanz und Medien- kompetenz bei Ärzten und Patienten eine wesentliche Rolle. Diese seien aller- dings noch nicht einmal an- satzweise erreicht, kritisier- te der Datenschutzbeauf- tragte. Als „Bindeglied“
dazwischen sieht er die Vertraulichkeit der Arzt- Patienten-Beziehung und die Wahlfreiheit als Kon- kretisierung des Rechts auf medizinische und informa- tionelle Selbstbestimmung des Patienten. „Dies in eine arbeitsteilige und informa- tionstechnisch hochgerüs- tete Informationsgesellschaft zu übertragen, ist schwierig.“
Für den Kieler Datenschützer sind jedoch der Vertraulichkeits- schutz und das Patientengeheimnis durch den gesetzlichen Rahmen der eGK abgebildet und mit einer Viel- zahl von Sicherungen rechtlicher und technischer Art versehen. Dazu zählen etwa die Nutzung der eGK nur für die Inanspruchnahme von ärztlichen Leistungen, die Siche- rung der Einwilligung, Protokollie- rungs- und Löschpflichten und der Schutz vor mittelbarem Zwang.
Technisch wird dies unter anderem umgesetzt durch ein differenziertes Zugriffskonzept, durch Verschlüs- selung der Daten bei der Übermitt-
lung und Speicherung, durch die digitale Signatur und den elektro- nischen Heilberufsausweis sowie durch eine „intelligente“ Architek- tur und sichere Netze. Um Medizin- Telematik patientenfreundlich zu gestalten, ist für Weichert ein modu- larer und transparenter Entwick- lungs- und Entscheidungsprozess erforderlich, der ein Datenschutz- managementsystem und die Ver- mittlung von Medienkompetenz („Wahlfreiheit setzt Medienkompe- tenz voraus“) umfasst. „Telematik ist eine dauernde Gestaltungsaufga- be: Es kommt darauf an, gemeinsam die Vertraulichkeit des Gesundheits- wesens aus der Zeit des Hippokrates in unsere Informationsgesellschaft hinüberzuretten“, lautete sein Fazit.
Nur für technikaffine Gesunde?
Die Vielzahl der technischen und or- ganisatorischen Maßnahmen, mit denen der Gesetzgeber die Anforde- rungen des Datenschutzes und der informationellen Selbstbestimmung der Versicherten durch die eGK ge- währleisten will, ist für die Umset- zung in die Praxis gleichzeitig auch eine Krux. Sie erhöht die Komple- xität der Verfahren, erschwert deren Handhabbarkeit und dürfte viele Anwender überfordern.
So gilt für die Nutzung der freiwil- ligen Anwendungen der eGK, wie Notfalldatensatz oder elektronische Patientenakte (ePA), dass der Versi- cherte seine Einwilligung auf einzel- ne Anwendungen beschränken und auch widerrufen kann. Unklar sind jedoch beispielsweise die rechtlichen und technischen Folgen eines Wider- rufs, wie Dr. Gerrit Hornung, Uni- versität Kassel, erläuterte. Auch sieht der Gesetzgeber im Hinblick auf den Zugang Dritter zu medizinischen
TELEMATIK IM GESUNDHEITSWESEN
„Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie . . .“
Medienkompetenz, „gefühlte Sicherheit“ und Vertrauen entscheiden mit über die Akzeptanz und Nutzung neuer Technologien wie der Gesundheitskarte.
Kritiker der elek- tronischen Ge- sundheitskarte, wie etwa die „Freie Ärzteschaft“, fordern den sofortigen Aus- stieg aus dem Tele- matikprojekt und rufen zum Boykott der Karte auf.
Foto:dpa
TELEMATIK
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Daten vor, dass eine abgestufte Ein- willigung im Hinblick auf bestimmte Berufsgruppen, bestimmte Ärzte oder spezifische Datenfelder bezie- hungsweise Behandlungsfälle mög- lich sein muss. Dies ist informations- technisch zwar machbar. Allerdings sei fraglich, ob man noch von einem
„informed consent“ sprechen könne, wenn es um komplexe Verfahren ge- he oder bestimmte Patientengruppen betroffen seien, gab Hornung zu be- denken. Zeitmangel oder der Auf- wand in der Behandlungssituation könnten die Wahrnehmung dieser Rechte faktisch erschweren und die Freiwilligkeit einschränken. Hor- nung: „Schaffen wir mit einem abge- stuften Zugriffs- und Einwilligungs- system informationelle Selbstbe- stimmung und Datenschutz für alle?
Oder nur für diejenigen, die daran in- teressiert sind, für Personen mit einer überschaubaren Krankheitsgeschich- te, die über ein Mindestmaß an kör- perlichen und mentalen Fähigkeiten verfügen – das heißt letztlich, für technikaffine Gesunde?“
Erweiterte Fürsorgepflicht
Daran lässt sich die Frage anschlie- ßen, ob möglicherweise ein Schutz des Karteninhabers „vor sich selbst“oder „vor anderen“ erforderlich ist.
„Je stärker die Position des Versi- cherten und seine Einwilligungs- rechte, desto höher ist das Maß seiner Selbstbestimmung – desto größer aber auch die Gefahr des Drucks so- zialer Abhängigkeitsverhältnisse“, erklärte der Rechtsexperte. Weil me-
dizinische Daten auch einen Markt darstellen, wirft der Einsatz von ePAs, insbesondere durch Industrie- unternehmen oder Krankenkassen, Fragen nach dem Recht der Einsicht- nahme oder der Nutzung der Daten durch Dritte auf. Wie sich vor diesem Hintergrund der Telematikeinsatz auf das Berufsbild und Selbstverständnis der Ärzte und die Arzt-Patient-Inter- aktion auswirken wird, ist unklar. Ei- ne Folge könnte die Erweiterung der ärztlichen Fürsorgepflicht auf den Schutz der informationellen Selbst- bestimmung ihrer Patienten sein, meinte Hornung.
Am Beispiel von besonders sensi- blen Patientendaten, etwa genetische Informationen oder zu psychischen Erkrankungen, werde deutlich, dass man keinesfalls von einem „mut- maßlichen Einverständnis“ zur Da- tenspeicherung ausgehen könne, be- tonte Prof. Dr. med. Wolfram Henn, Universitätsklinikum Homburg/Saar.
Henn verwies auf die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Hu- mangenetik zur Speicherung human- genetischer Patientendaten auf einer eGK (Internet: www.gfhev.de/de/
leitlinien/Diagnostik_LL/stellung nahme_gfh_gesundheitskarte.pdf).
Diese empfiehlt unter anderem, ge- netische Informationen, die prädikti- ve Aussagen zulassen, jedoch keine therapeutischen Konsequenzen er- öffnen, nicht auf der eGK zu spei- chern (Beispiel: Huntington-Cho- rea). Möglicherweise sei eine „Nega- tivliste“ von Krankheiten, die nicht auf der Karte oder in der ePA gespei-
chert werden sollten, für die Praxis hilfreich, so der Humangenetiker.
Seine Folgerung: „Solange die eGK von Ärzten als Instrument der Gän- gelung und von Patienten als Bedro- hung ihrer Intimsphäre empfunden wird, kann sie nicht funktionieren.“
Die Frage nach dem Nutzen
„Gefühlte Sicherheit“ und Vertrauen seien entscheidende Voraussetzun- gen für die Nutzung und Akzeptanz technischer Systeme, wie es sich am Beispiel Auto zeigen lasse, ergänzte Prof. Dr. Herbert Weber, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Software- und Systemtechnik, Berlin, das maß- geblich an der Entwicklung der elek- tronischen Fallakte beteiligt war.
Auch mit der flächendeckenden Ein- führung der eGK werde ein über- greifendes normiertes Technologie- konzept wegen der Autonomie der Akteure im Gesundheitswesen nicht erreichbar sein, prognostizierte der IT-Experte. Er plädierte deshalb für eine föderale IKT-Architektur mit nicht redundanten Datenbeständen in den einzelnen Einrichtungen und mahnte eine „ehrliche, realistische“
Kosten-Nutzen-Analyse an.
Eine am individuellen Bedarf aus- gerichtete Telematik forderte auch Dr. med. Philipp Stachwitz, Bun- desärztekammer (BÄK): „Jeder Arzt muss den medizinischen Nutzen und den Zeitpunkt des Einsatzes von Te- lematik für sich selbst bestimmen.“
Er verwies darauf, dass Ärzte bereits in erheblichem Umfang Patientenda- ten elektronisch austauschten und zu- nehmend auch das Angebot vernetz- ter elektronischer Patientenakten über zentrale Server in Anspruch näh- men. Es gebe allerdings Lösungen, bei denen man die Sicherheit oder da- mit verbundene kommerzielle Inter- essen hinterfragen müsse, sagte Stachwitz. Eine zertifizierte Telema- tikinfrastruktur, die Ärzten sicher und einfach zur Verfügung stehe, sei da- her unabdingbar, um den technischen und rechtlichen Schutz der Daten zu gewährleisten. Überlegungen hierzu stelle die BÄK in ihrem Positionsent- wurf zur Diskussion (Kasten). I Heike E. Krüger-Brand
Folien der Vorträge im Internet unter www.aekno.de (Arztinfo/Telematik/Dokumentation der Informati- onsveranstaltung am 9. 2. 2008 in Düsseldorf)
Anforderungen (nach dem Positionspapier der Bundesärztekammer)
>Technische Alternativen zur Speicherung von Daten auf zentralen Serverstruk- turen prüfen (wie etwa USB-Stick)
>Unabhängiges, öffentlich finanziertes Sicherheitsgutachten für die elektroni- sche Gesundheitskarte und die Telematikinfrastruktur einholen
>Freiwillige Onlineanbindung der Ärzte
>Eine sichere, verschlüsselte und für Dritte nicht einsehbare Punkt-zu-Punkt- Kommunikation der Ärzte im Rahmen des eGK-Projekts ermöglichen
>Notfalldatensatz durch eine „klinische Basisinformation“ auf der eGK ersetzen
>Kritische Prüfung von Arzneimitteldokumentation und elektronischer Patienten- akte nicht nur unter dem Aspekt der Sicherheit der Daten, sondern auch unter medizinischen und haftungsrechtlichen Aspekten
>Keine Kosten ohne Nutzen: Anwendungen, durch die Ärzten kein ökonomisch nachweisbarer Nutzen entsteht, sind durch den jeweiligen Nutznießer zu vergüten.