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Selbstverwirklichung als Entäußerung Geist und Sittlichkeit in Hegels Phänomenologie des Geistes

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Academic year: 2022

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Selbstverwirklichung als Entäußerung – Geist und Sitt- lichkeit in Hegels „Phänomenologie des Geistes“

Max Gottschlich

Gegenstand des Aufsatzes ist das Geistkapitel bis zum Rechtszustand. Dabei soll versucht werden, jenen Gesichtspunkt zu erinnern, der sowohl für die Genese des Geistes aus dem vernünftigen Selbstbewusstsein als auch für die weitere Entwicklung des Geistes bis hin zur Religion entscheidend ist: den von Bruno Liebrucks so bezeichneten „Opfercharakter des Geistes“1. Wenn es in der Vor- rede geheißen hat, dass alles darauf ankomme, „das Wahre nicht als Substanz, sondern ebenso sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken“2, so zeigt sich in dem zu betrachtenden Kapitel, dass nur eine „solche Substanz, die sich im Opfer verwirklicht“3 Subjekt ist. Das Ich, das Wir ist, ist nur in und als Entäuße- rung des unmittelbaren, d.h. vereinzelten und partikularen Fürsichseins wirk- lich.4 In der sittlichen Welt ist dies selbst gegenständlich geworden, dass der Geist die sich aufopfernde Substanz ist. An dem, was Hegel in revolutionärer Weise im Begriff des Geistes gesehen hat, mag zugleich die Abstraktheit des modernen Verständnis von Subjektivität, das – im Anschluss an reflexionsphilo- sophische Vorstellungen – beim einsamen Souverän stehen bleiben zu können meint, deutlich werden.5

Folgende Gliederung wird unternommen: In einem ersten Schritt wird die Genese des Geistes aus der Vernunft zu erinnern sein (I.). In diesem Zusam- menhang wird zu zeigen sein, dass und wie „die Unmittelbarkeit der Vernunft als Subjektivität“6 ihre Unselbständigkeit als objektiver Geist im Sinne der sub-

1 Bruno Liebrucks, Sprache und Bewusstsein, Bd. 5, Frankfurt/Main 1970, 186. Liebrucks ist wohl der erste Hegel-Interpret, der diese zutiefst christologischen Züge dieses Werks herausgearbeitet hat. An seiner maßstabsetzenden Interpretation werden wir uns immer wieder zu orientieren haben.

2 G.W.F. Hegel, PhdG, 22f.

3 Liebrucks, Sprache und Bewusstsein, 184.

4 Vgl. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Werke 17, 326.

5 Von der Rechtsphilosophie her gesehen hat das Subjekt nur in der bürgerlichen Gesell- schaft den Status einer atomaren Entität. Dieser ist nur momentan – denn die bürgerliche Gesellschaft ist aus der Auflösung der Familie hervorgehend und in das substanziellere Allgemeine des Staates zurückgehend. In der gegenwärtigen Reflexionskultur aber scheint das Transitorische dieser Atomizität verschwunden zu sein; so meint man, dass auch Familie und Staat von der bürgerlichen Gesellschaft her zu denken seien: als Ag- gregat von Ich-Atomen.

6 Liebrucks, Sprache und Bewusstsein, 184.

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stanziellen Sittlichkeit erfährt. Sie muss ihren unmittelbaren Souveränitätsan- spruch preisgeben und erfährt sich als dezentrisches Ich. Aber auch der Geist als objektiver wird im Gange des Geistkapitels bis hin zur Religion an sich ebenso seine Unselbständigkeit und Endlichkeit erfahren. Die Entsprechung, zu der er gelangt, wird nur eine momentane sein. Ihm wird ebenso jene Souveränität, die er in seiner Unmittelbarkeit haben zu können meint, nicht zukommen. Zentral dabei wird die schon in der Unmittelbarkeit des Geistes als substanzielle Sitt- lichkeit eingeschlossene Erfahrung des Gesetztseins der sittlichen Welt sein, die an sich bereits auf die Relativität des objektiven Geistes auf den absoluten Geist hinweist. In einem zweiten Schritt sollen einige Grundlinien in Bezug auf das Verhältnis von Sittlichkeit und Religion ausgezogen werden (II.). In Anknüp- fung daran soll drittens (mit Blick auf die Einleitungspassagen des Geistkapitels) der Zusammenhang des Begriffes des Geistes mit dem Begriff der Preisgabe bzw. Entäußerung (Kenosis) näher betrachtet werden (III.). Schließlich soll vor diesem Hintergrund auf den Weg von der „unmittelbaren Wahrheit“ des Geistes bis zum Rechtszustand geblickt werden (IV.).

1. Der Rückgang der Vernunft in den Geist

Die Vernunft war die Gewissheit, alle Realität zu sein – die Gewissheit der Ein- heit des Ichs und des Seins, des Subjektiven und Objektiven, des Ansichseins und Fürsichseins. Gegenstand des vernünftigen Bewusstseins war daher nicht mehr ein nur Objektives oder nur Subjektives, sondern das Subjekt-Objekt als die Kategorie.7 Als Wahrheit von Bewusstsein und Selbstbewusstsein enthielt die Vernunft in sich sowohl „den theoretischen Impuls des Bewusstseins wie den praktischen des Selbstbewusstseins, ebenso das Wahrheits- wie das Frei- heitsideal“8, trat daher als theoretische (beobachtende) wie als praktische (sich verwirklichende) Vernunft auf, um die Vernunftgleichung „Welt ist Ich und Ich ist Welt“9 zu bewahrheiten.

Die beobachtende Vernunft meinte, die Welt als Ich (Subjekt-Objekt- Identität) unmittelbar dinglich festhalten zu können. In diesem ihren instinkthaf-

7 G.W.F. Hegel, PhdG, Werke 3, 324. Am Anfang des Vernunftkapitels hieß es: „Die Ka- tegorie, welche sonst die Bedeutung hatte, Wesenheit des Seienden zu sein, unbestimmt des Seienden überhaupt oder des Seienden gegen das Bewußtsein, ist jetzt Wesenheit o- der einfache Einheit des Seienden nur als denkende[r] Wirklichkeit; oder sie ist dies, daß Selbstbewußtsein und Sein dasselbe Wesen ist; dasselbe nicht in der Vergleichung, son- dern an und für sich.“ (S. 181)

8 Thomas Sören Hoffmann, Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Eine Propädeutik, Wiesbaden 2004, 268.

9 Ebd.

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ten Tun gelangte sie aber nur zur kantischen Erscheinungswelt, zur wider- spruchsfreien Welt der neuzeitlichen Naturwissenschaftlichkeit, in welcher das Lebendige wie die existierende Freiheit nicht gefasst werden konnten. Das Ich kam sich in dieser noch verständigen Welt nur als die Abstraktion des Knochens entgegen. Die Einheit von Ich und Welt war hier noch gleichsam ichvergessen;

die Einheit des Ansichseins und Fürsichseins blieb daher erst im Ansich stehen, kam noch nicht zur wirklichen Einheit:

„In der beobachtenden Vernunft ist diese reine Einheit des Ich und des Seins, des Fürsich- und des Ansichseins, als das Ansich oder als Sein bestimmt, und das Be- wußtsein der Vernunft findet sich.“10

In der Beobachtung war die Vernunft erst Bewusstsein, noch nicht Selbstbe- wusstsein. Im sich selbst aufhebenden unendlichen Urteil, „dass das Selbst ein Ding ist“11 erinnerte die Vernunft aber das Fürsichsein. So war die Wahrheit des Beobachtens

„vielmehr das Aufheben dieses unmittelbaren findenden Instinkts, dieses bewußtlo- sen Daseins derselben. Die angeschaute Kategorie, das gefundene Ding, tritt in das Bewußtsein als das Fürsichsein des Ich, welches sich nun im gegenständlichen We- sen als das Selbst weiß.“12

Am Beginn dieser Stufe des vernünftigen Selbstbewusstseins hat es diesbezüg- lich geheißen:

„Das Selbstbewußtsein fand das Ding als sich und sich als Ding; d. h. es ist für es, daß es an sich die gegenständliche Wirklichkeit ist. Es ist nicht mehr die unmittelba- re Gewißheit, alle Realität zu sein, sondern eine solche, für welche das Unmittelbare überhaupt die Form eines Aufgehobenen hat, so daß seine Gegenständlichkeit nur noch als Oberfläche gilt, deren Inneres und Wesen es selbst ist.“

Der Gegenstand, in dem sich das vernünftige Selbstbewusstsein nicht bloß in der Abstraktion einer Dingwelt, sondern wirklich entgegenkommt, ist das andere Ich. Das vernünftige Selbstbewusstsein erinnerte also die Wahrheit des Selbst- bewusstseins, dass es Selbstbewusstsein nur als verdoppeltes ist, dass es sich als Ich nur im Angesicht des Anderen entgegenkommt, dass Ich nur als anerkanntes Ich ist und sein kann. Damit steht das Selbstbewusstsein an sich schon auf dem Boden der Gewissheit seiner selbst als Geist – als das Ich, das Wir ist.

„Der Gegenstand, auf welchen es sich positiv bezieht, ist daher ein Selbstbewußt- sein; er ist in der Form der Dingheit, d. h. er ist selbständig; aber es hat die Gewiß- heit, daß dieser selbständige Gegenstand kein Fremdes für es ist; es weiß hiermit, 10 Hegel, PhdG, 324.

11 Ebd., 260.

12 Ebd., 324.

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daß es an sich von ihm anerkannt ist; es ist der Geist, der die Gewißheit hat, in der Verdopplung seines Selbstbewußtseins und in der Selbständigkeit beider seine Ein- heit mit sich selbst zu haben. Diese Gewißheit hat sich ihm nun zur Wahrheit zu er- heben; was ihm gilt, daß es an sich und in seiner inneren Gewißheit sei, soll in sein Bewußtsein treten und für es werden.“13

Aus der Erfahrung des Scheiterns ihres Sich-beobachten-Wollens heraus erin- nerte also die Vernunft den Impuls des Selbstbewusstseins und wurde praktisch, um jene Gewissheit zu bewahrheiten, an sich bereits anerkannt zu sein. Anders gesagt: Die Vernunft erinnerte (als solcherart praktisch gewordene) die wider- sprüchliche Natur von Freiheit, die ein unmittelbar-dingliches Festhalten von Vernunftwirklichkeit (wie dies noch in der Beobachtung intendiert war) unmög- lich macht: Die Wirklichkeit der Vernunft liegt nicht schon unmittelbar in dem beobachtbaren Ding da, dem Menschen in seiner natürlichen Einzelheit, als Leib, sondern im Verhältnis zu anderen Ich, d.h. zunächst im Handeln. Was das Ich ist, das zeigt sich zuallererst in der Praxis; das Ich legt sich selbst handelnd aus, individuiert sich handelnd. Nicht schon ist der Mensch schon Mensch in seiner unmittelbaren, natürlichen Einzelheit, sondern er ist sich Aufgabe. Das Sich-beobachten-Wollen geht also in das Sich-verwirklichen-Wollen zurück.

Der entscheidende Punkt ist es aber, dass die tätige Vernunft nicht dazu ge- langte, ihre Gewissheit, an sich anerkannt zu sein, zu bewahrheiten. Warum?

Die Antwort liegt in dem zuvor zitierten Satz, in dem, wie immer bei Hegel, je- des Wort bedeutsam ist: Das aus der Beobachtung kommende Ich bezog sich auf das andere Ich positiv, in der Form der Dingheit, als Gegenstand überhaupt.

Was dies bedeutet, haben die einzelnen Stufen der „Verwirklichung des ver- nünftigen Selbstbewusstseins durch sich selbst“ gezeigt: Das Fürsichsein inter- pretierte sich als ein unmittelbares. Dies war paradigmatisch für die „Verwirkli- chung des vernünftigen Selbstbewusstseins durch sich selbst“. Worum es dem Ich daher ging, war – und das spricht sich ja im Titel des Abschnittes klar aus - die Selbstverwirklichung, wobei hier durchaus der Bedeutungskontext mitzu- nehmen war, der gegenwärtig enthalten ist, wenn von Selbstverwirklichung die Rede ist.14 Im Grunde bestand die Selbstverwirklichung darin, dass sich das Ich in seiner Unmittelbarkeit – d.h. in seiner Vereinzelung und Partikularität - als Zweck genommen hat, wobei der Andere letztlich nur Mittel der Selbstverwirk- lichung war. Dem Ich ging es – im Zeichen des unmittelbaren Fürsichseins – zwar um Anerkennung, es gelangte aber nicht über den verkürzten Weltumgang einer Selbstbespiegelung, einer Verdopplung seines unmittelbaren Fürsichseins

13 Ebd., 263.

14 Wenn gegenwärtig von Selbstverwirklichung die Rede ist, so bewegt sich dies zumeist nur im Bereich der Stufen zwischen Lust und Notwendigkeit und dem geistigen Tier- reich.

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hinaus. Es war der Geist, der sich – und darin bestand die Abstraktheit seiner Selbstinterpretation - in seiner Unmittelbarkeit und damit Einzelheit festhalten will:

„[...] er [der Geist] ist erst unmittelbar; unmittelbar seiend aber ist er einzeln; er ist das praktische Bewußtsein, das in seine vorgefundene Welt mit dem Zweck ein- schreitet, sich in dieser Bestimmtheit eines Einzelnen zu verdoppeln, sich als Die- sen, als sein seiendes Gegenbild zu erzeugen und [sich] dieser Einheit seiner Wirk- lichkeit mit dem gegenständlichen Wesen bewußt zu werden. Es hat die Gewißheit dieser Einheit [d.h. die Gewissheit, an sich anerkannt zu sein]; es gilt ihm, daß sie an sich oder daß diese Übereinstimmung seiner und der Dingheit schon vorhanden ist, nur ihm noch durch es zu werden hat, oder daß sein Machen ebenso das Finden der- selben ist. Indem diese Einheit Glück heißt, wird dies Individuum hiermit sein Glück zu suchen von seinem Geiste in die Welt hinausgeschickt.“15

Das sein Glück suchende Selbstbewusstsein, so könnte man sagen, legte im Be- griff des Geistes als dem Beisichsein im Anderen den Akzent auf das Beisichsein, wobei das „sich“ auf die Unmittelbarkeit seiner vereinzelten und partikularen Interessen, Triebe und Neigungen zu beziehen ist. Der Andere ging dabei unter.

„Das Selbstbewußtsein, welches nur erst der Begriff des Geistes ist, tritt diesen Weg in der Bestimmtheit an, sich als einzelner Geist das Wesen zu sein, und sein Zweck ist also, sich als einzelnes die Verwirklichung zu geben und als dieses in ihr sich zu genießen.“16

Das Ich unternahm es erst, sich im Anderen hervorbringen, an ihm sich selbst, sich in seiner Selbständigkeit zu bestätigen. Damit konnte das Ich die Voraus- setzung seines Tuns, die Gewissheit seines Anerkanntseins, nicht bewahrheiten.

Das Ich hat noch nicht erfahren, dass wahrhafte Anerkennung nicht im Zeichen der Selbstverwirklichung, sondern Selbsthingabe, des Opfers, der Entäußerung des unmittelbaren Fürsichseins steht. Der Weg des vernünftigen Selbstbewusst- seins hin zum Geist war es daher, die Abstraktheit dieser Selbstinterpretation von Geist an ihr selbst aufzuzeigen.

Die Abstraktheit bestand im Grunde darin, dass das Ich meinte, es könne durch sein Handeln zu einem unmittelbaren Fürsichsein gelangen, d.h. sein An- sichsein aus dem unmittelbaren Stand, d.h. aus sich als vereinzeltes und partiku- lares Ich heraus in das Fürsichsein übersetzen und so die Einheit beider Seiten bewirken. Von dieser Voraussetzung her - in deren Naivität sich gleichsam die Adoleszenz des Geistes zeigte – ging die Vernunft an die Selbstverwirklichung.

15 Ebd., 267f.

16 Ebd., 269.

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