DIE GOTTESVORSTELLUNG IM TIRUVASAGAM
von Albrecht Frenz, Ulm
1. GOTTES EXISTENZ
a) Sivas Gottheit
Siva ist der Eine', außer dem nichts ist; Er ist der Einzige, der Viele, der Erste, der Letzte, das Ende und die Mitte, der Einzige des Alls, der höchste Herr, der Erste
vor der Zeit und ohne Tod, der Uranfängliche und der Erste von Urbeginn. Er ist
der Ewige; Er ist Gott, Gott der Götter; Herr, Herr der Herren, Herr der Himmli¬
schen, Herr und Herrscher der Seele, der Höchste, König, König der Himmlischen
und Seiner Stadt. Siva ist das Leben, das Licht, die Liebe, der glorreiche Pfad und
der wahre Weg, die QueUe, der Reine, der Retter, der Gnädige, der Seiende, der
Strahlende, die Summe der Welt und ihr Schöpfer, der Unvergleichliche, der Urhe¬
ber und der Urgmnd von allem, der Vollkommene, der Wahre, die Weisheit und der
Wirkliche, der jeden Ort erfüllt: „Ich allein bin" (3,146). Das Timvasagam arbeitet den Gottesbegriff scharf heraus, sowohl was die göttliche Seite - vor allem ist Siva der Schöpfer von allem - als auch, wie gleich zu zeigen ist, was die menschliche
Seite Gottes angeht. Damit bahnt sich bereits die durchstoßende Kraft an, mit der
Manikkavasagar die Nahtstelle Gottes mit dem Menschen herausstellt und sie ent¬
fädelt, ohne sie zu verletzen.
b) Sivas Menschsein
Siva zeichnet sich mit Asche, reitet auf dem BuUen, hält den Dreizack, trägt den
Halbmond, die Ganga, die Nadatrommel, die Axt, die Flamme, die Schlange, das
TigerfeU; Er besiegt das Böse, bildet mit Seiner Gefährtin eine Gestalt. Siva wech¬
selt Seine Gestalt und Form und hat doch keine; Er ist der Trickreiche; Er ißt das
Gift; Er ist der Helfer, der Gütige, der Vater, der Barmherzige, der Floßgleiche, der
Mutterähnliche, der Ferne und der Nahe. Seine Füße tragen Blumen und Ringe zum
Schmuck und tanzen an jedem Ort.
Wie Siva mit Seinen göttlichen Attributen ganz auf der götüichen Seite steht, so
rückt Er mit Seinen anthropomorphen Zügen ganz auf die menschliche Seite. Damit
ist der Theologie Manikkavasagars die Möglichkeit gegeben, ans eigentliche Problem
heranzuführen: Wie verträgt sich Gottes Allmacht mit der Vergänglichkeit des Men¬
schen? Wie begegnet Gott dem Menschen, was erwartet Er vom Menschen, und wie
reagiert der Mensch auf Gottes Nahekommen, was bringt oder tut der Mensch, um
1 Dieser Arbeit liegt folgender Text zugrunde: Albrecht Frenz und P. Nagarajan,/)as Tiruva¬
sagam von Manikkavasagar, Karaikudi 1977; Belegstellen cf. Index, pp. 269sqq.
XX. Deutscher Orientalistentag 1977 in Erlangen'
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in Gott zu sein? Die Göttlichkeit Gottes kann nur existieren, wenn es die Mensch¬
lichkeit des Menschen gibt. Obwohl Gott in Seiner Göttlichkeit ohne den Menschen
auskommen könnte, entspringt es Ihm wesenhaft, sich mit dem Menschen zu arran¬
gieren, über ihn zu herrschen und ihm in Barmherzigkeit zu begegnen. Manikkavasa¬
gar legt mit seiner Definition der Existenz Gottes den Gmnd dafür, daß die Bezie¬
hung Gottes zum Menschen eine persönliche ist und sich von der Gnade Gottes her
aufljaut — dies ist die Nahtstelle, in der Manikkavasagars Gotteskonzept zum Tragen
kommt und seine Auswirkung auf die gesamte Schöpfimg, insbesondere auf den
Menschen, hat.
2. SIVAS GNADE
Mit der Hinwendung Manikkavasagars zu Siva vor den Toren Timppemnthurais
steht sein Leben auf einer neuen Basis^. Der Dichter macht von Gott Aussagen, die
uns zwar an große abendländische Philosophen und Theologen erinnern, die aber
im Hinduismus so nicht oft anzutreffen sind. Er sagt im einzelnen: ,,Was ünmer es
sein mag, was Du (Siva) begehrst und in Gnaden gibst, das allein begehre ich"
(33,6)^. „Du kamst und machtest mich Dein" (28,8). ,J>u rettetest mich und mach¬
test mich Dein" (37,2). „Du zerschnittest die Wurzeln all meiner Bande und lehrtest mich aus Gnaden den Weg, auf dem ich Dir nachfolgen kann" (37,7). „Du gössest einen endlosen Strom des glückseligen Honigs in mich und gingst mit mir" (37,9).
„Deine Gnade rettete mich. Du gabst mir. Deinem Diener, Gnade und sagtest:
,Fürchte dich nicht!'" (38,6). „Mein Besitzer, ich bin gerettet. Du sagtest zu mir.
Deinem Sklaven: ,Fürchte dich nicht, komm!'" (51,5)". Solche Worte kommen
nicht aus emem Herzen, das sich durch eigenes Bestreben oder durch eigene Werke
gottgefällig machte - wie Mudaliar sagt -, sondern von einem, zu dem Gott kam,
Gott selbst berührte und veränderte. Manückavasagar sagt denn auch, daß Siva aus
Gnaden auf diese Erde kam. Seine Füße zeigte und liebende Gnade gab, damit die
Verblendung in ,,memem Sinn" aussterbe - Siva kam, um diese Welt zu retten,
„mich" heute Sein zu machen, „mich" auf dem Weg der Gnade zu halten und
„mh" die ewige Erlösung zu geben (1,37.59.65; 2,25sq.40; 3,117sq; 8,2; 22,7).
2 Zur Bekehrungsgeschichte Manikkavasagars cf. die Einleitungen zu den verschiedenen Über¬
setzungen. Hinsichtlich der Datierung Manikkavasagars bestehen verschiedene Ansichten:
N. Subrahmanian, History of Tamünad (To A.D. 7 iiö^ Madurai 1972, sieht in Manikkava¬
sagar einen Zeitgenossen Varagunas I. (792-835), (pp. 123.125.133). K. A. Nilakanta Sastri, A History of South India, Oxford 1971, sec. imp., legt Manikkavasagar in die Regie¬
rungszeit Varagunas II. (862-885), (pp. 172.175). Mit Subrahmanian setzt Ratna Navarat¬
nam,/4 New Approach to Tiruvacagam, Annamalainagar 1971, sec. ed., für Manikkavasagar ebenso die erste Hälfte des 9. Jh. an (p. 43). Nach Pope, The Tiruvaqagam, Madras 1970 (1900) könnte Manikkavasagar sowohl in der ersten als auch in der zweiten Hälfte des 9. Jh.
felebt haben (p. xviii). Zu früh setzt C. V. Narayana Ayyer, Origin and Early History of aivism in South India, Madras 1974 (1939), Manikkavasagar an, wenn er sagt: ,,Mä]iikka- vä&gar lived between A.D. 660 and 692" (p. 425). Wir schließen uns Subrahmanians Be¬
gründung an und halten Manikkavasagar für einen Zeitgenossen Varagunas I.
3 Cf Augustinus, Bekenntnisse (10,29): „Gib, was Du verlangst, dann verlange, was Du willst"
(Fischer Bücherei 103, 1964).
4 Cf. Jesaja41,10.14;43,l.
Die Gottesvorstellung im Tiruvasagam 327
Nicht aufgrund irgendwelcher Verdienste, sondern aus freien Stücken verlieh Siva
Seinem Nachfolger Gnade: „Ganz falsch bin ich, falsch ist mein Herz, und falsch
ist auch meine Liebe... Ich war wertlos und voll Falsch, aber Du sahst mich gnädig
an und befahlst mir zu kommen" (5,90-93). , Ausgelöscht wurden meine Taten
von Seiner glorreichen Gnade" ... zerschnitten „die Bande meiner Seele, die weder
Liebe noch Tugend hatte" (6,8; 31,7). Erst auf Gottes Handeln hin kann der
Mensch handeln: „Das Feuer Deiner bleibenden Gnade legtest Du an das Gestrüpp
meiner wildesten Taten" (6,19). „Du achtetest mein niedriges Selbst für wert und
gabst mir Deine Gnade" (23,3). „Du suchtest mich und machtest mich Dein"
(28,3). Dann der mächtige Vers: ,,Er (Siva) sah auch, daß ich überhaupt keine Liebe
hatte. Dennoch machte Er mich aus Gnaden Sein" (10,4). Er schnitt „meine Ge¬
burten" ab, führte „mich" aus den falschen Glaubensbekenntnissen heraus auf den richtigen Pfad und sagte: ,Der gehört zu Mir!' und zeigte „mir" aus Gnaden Orte, von denen es keine Wiederkehr mehr gibt (ll,16sq; 15,4; 16,9; 18,10;24,2;47,7).
3. DIE EINHEIT MIT GOTT
Gottes Schöpfung erfährt ihre Vollendung, indem der Mensch auf Gottes Gna¬
denangebot eingeht und antwortet. Hier hat der Gottesbegriff des Timvasagam sei¬
nen Höhepunkt und seine Ganzheit. Wenn Manikkavasagar von Siva sagt: ,,Mir
schenktest Du Dich" (27,1), so können wir ergänzen: ,, deshalb brenne ich darauf,
mich Dir ganz zu schenken". Was der Dichter fiir sich selbst wünscht, möchte er
aber auch andern vermitteln — ein Zeichen, wie sehr Manikkavasagar von Sivas Gabe
erfüllt ist - er kann gar nicht anders: „Mit dem Gedanken, mit Ihm eins zu werden, haltet euren Geist bereit" (45,9). Ja, Manückavasagar hat sogar die Furcht, der an¬
dere könnte an seinem Glück vorbeigehen: ,,Wenn ich jene sehe, die Ihm nicht mit
einem schmelzenden Herzen dienen noch Seine Füße mit Blumen preisen — ach
welch eine gewaltige Furcht überkommt uns!" (35,6; cf. auch die anderen Stro¬
phen). In was mehr als in der Vermittlung der Heüsbotschaft an andere könnte sich
Manückavasagar dem anderen verpflichten?
Was Manückavasagar für sich erbittet, ist nicht die Identifücation mit dem brah¬
man der Upanischaden, sondern ein Herz, das sich erregen läßt und für Siva dahin-
schmüzt (39,3). Aber auch dies hängt allein von Sivas Gnade ab: ,4n Gnaden be¬
fiehl mir, zu Dir zu kommen!" (28,1 sqq). Denn Gott ist es, der das Herz in Seinen
Schrein verwandelt und den Körper zu Seiner Wohnung macht (22,10; cf. 47,11).
So verwundert es nicht, wenn Manückavasagar danach verlangt, mit Siva eins zu
sein: „Wann endlich werde ich ganz einssein mit meinem vollkommenen Edel¬
stein?" (27,1 sqq). Gott und Mensch, Mensch und Gott vereinen sich beide, ohne
den jeweüs personalen Bezug aufzugeben — Gott bleibt Gott, der Mensch bleibt
zeitlebens Seine Kreatur.
Siva als zweigeschlechtliche Gottheit
von Adalbert J. Gail, Berlin
Die Bildtradition des bisexuellen Siva beginnt mit einem kleinen Relief aus der
Kusänazeit Mathuräs (2. Jh. A.D.), das den Gott als ArdhanärTsvara neben Visnu,
Gaja-LaksmT und Kubera zeigt (Math. Mus. Nr. 2520). Auch wenn hier die Tücke
der Überlieferung unmer ins Kalkül zu ziehen ist, so bleibt dies Zeugnis zunächst einmal der Ausgangspunkt einer reichen Entwicklung dieses Büdtyps in ganz Indien.
Erzählende Texte, vor allem in den Puränas, legen nahe, daß sich mit Siva als
Ardhanäris'vara der Anspmch der Sivaiten bekundet, ihren Gott als Vater aller
Lebewesen auszuweisen. Eine Untersuchung der vorbildlichen literarischen Über¬
liefemng zeigt indessen (Brähmanas, Upanisaden), daß Siva historisch-mythologisch
als Sohn eines bisexuellen Prajäpati-Brahmä anzusehen ist. Die Übertragung der
Bisexualität auf Siva ist nur ein Indiz mehr für jenen umfassenden Auszehmngspro-
zeß, dem die Mythologie und Gestalt Brahmäs zugunsten der hochgöttlichen Posi¬
tion erreichenden Visnu und Siva ausgesetzt war.
Eine charakteristische Variante der ArdhanärTs'varamürti (so schon das Mathurä-
Relief) zeigt die männliche Seite mit aufgerichtetem Phallus (ürdhvalihga), ein
Merkmal, das von O'Flaherty zugleich als „sign of priapism" und als „symbol of
chastity" gewertet wird (Asceticism and Eroticism in the Mythology of Siva, p.9),
als zeichenhafte coincidentia oppositomm. Ob ürdhvalinga aber überhaupt inner¬
halb dieses Bildtyps oder in anderer Umgebung (Uma-Mahesvara, Natesa, Siva mit
Nandin) in einem erotisch-sexuellen Sinne mit-gedeutet werden darf, scheint mir
fraghch. In der indischen Literatur wird ürdhvaliAga ohne Einschränkung als Zei¬
chen für brahmacaryam (geschlechtliche Enthaltsamkeit) begriffen. Andrerseits ist
natürlich zu fragen, ob man angesichts eines BUdnisses, das die Selbstbegattung
Sivas als Vater/Mutter der Wesen anzuzeigen scheint, eine erotische Deutung des
ürdhvalinga nicht a priori einbeziehen muß. Es gilt daher, die Sivaitische Formulie¬
mng des Schöpfungsmythos genau mit der brahmäitischen zu vergleichen und den
bezeichnenden Unterschied herauszuarbeiten.
Wesenhaft für die brahmäitische Bisexualität ist der Inzest als Ausgangspunkt der
Fortpflanzung, Sivas Doppelnatur hingegen kennt keinen Inzest und keine ge¬
schlechtliche Fortpflanzung. Sein weiblicher Teil wird als Sakti nicht in und mit
üun fmchtbar, sondern wirkt als ablösbarer Teil Sivas für und in Brahmä (Sivapurä¬
na, Satamdrasamhitä 3). Der dem Wesen der Doppelgeschlechtlichkeit inhärente
und in Brahmä manifeste Gehalt der inzestuösen Kohabitation bleibt Siva fremd,
äußerlich.
Dieser Befund wirft auch helles Licht auf die enge Verbindung, die der Kult der weiblichen Göttin (Säktismus) in Indien historisch mit dem Sivaismus eingegangen
ist. Gerade Siva bedurfte der Ergänzung seines Wesens mit Hilfe der Sakti, da der
XX. Deutscher Orientalistentag 1977 in Erlangen