Nestle, Qames. 411
Weise er die afrikanischen Sprachen beherrscht und wie er die
leisesten Spuren zu verfolgen und scharfsinnige Schlüsse zu zieheu
intt Stande ist. Er will aber auch über das Rothe Meer eine
Brücke schlagen und die alte Verbindung zwischen Semiten und
Chamiten wieder herstellen. Die Kluft von vielen Jahrtausenden
ist jedoch nicht leicht auszufüllen, Mittelglieder fehlen und der Ver¬
such, diese Kluft zu überbrücken, ist ein grosses schweres Wagniss. —
Möge neben Scharfsicht auch Vorsicht sein Leitstern sein!
Bevor ich schliesse, möchte ich mir noch eine Bemerkung
erlauben. Die Grenzgebiete zwischen Egypten und Abessinien, der
Tummelplatz der abessinisch-chamitischen Völker , deren Sprachen
Reinisch mit so zäher Ausdauer und grossem Erfolge erforscht hat,
stehen jetzt unter itahenischem Einflüsse, sie liegen, wie man sicb
diplomatisch auszudrücken pflegt, in der Machtspbäre Italiens. Der
stolze Name der „Eiythräiscben Colonie' legt auch Verpflichtungen auf. ItaUen liegt es ob die wissenschaftliche Erforschung jener Gebiete fortzusetzen und den semitischen und chamitischen Dialecten Abessi¬
niens volle Aufmerksamkeit zu widmen. Abgesehen von den
Arbeiten des ausgezeichneten Orientalisten Ignazio Guidi über
Amharisch haben aber italienische Gelehrte so gut wie gar nichts
in dieser Richtung gethan. Es ist Sache der italienischen Regierung
und der gelehrten Körperschaften diese Unterlassung bald gut
zu machen.
Wien, December 1891. D. H. Müller.
Qames.
Von E. Nestle.
J. Derenbourg habe in dem (mir hier nicht zugänglichen) Jahr¬
gang 13 (1879) der Revue Critique die Zeichen für Qames und
Pathach aus Verstümmelungen des N abgeleitet, berichtet Renan
im Rapport annuel des Joumal asiatique für 1879 (S. 49) mit
Anerkennung (manifere . . des plus ingi-nieuses), während Grätz es in
seiner Monatsschrift 1881, 403 mit Recht „befremdend' findet. Die
sogenannten babylonischen Vokalzeichen stammen aUerdings,
wie schon Pinsker für ä, u, i sah, Grätz a. a. 0. für a (= r)
ergänzte, und G. F. Moore (Am. Or. Soc. Proc. Oct. 1888 p. XXXVII f.),
wie es scheint ohne Pinsker und Grätz zu kennen, durch den Hin¬
weis auf das Arabische erhärtete , aus den Consonanten ■ Zeicben
N, •, und V. Das tiberiensische System dagegen ruht, wie
das syrische , auf der Verwendung des Punktes und der Linie als
Unterscheidungszeichen. Dabei ist nun klar , dass das Zeicben
. 412 Nestle, Qames.
für Qames gar nichts anderes ist als eine Combination
des Cholem-Punktes und der Pathach-Linie. In unsern
Drucken sieht das Zeichen allerdings nicht mehr so aus, daher
Ewald lehrte (Gr.' S. 86) wurde durch einen nenen Strich nach
unten zu "v" verlängert, zum Unterschiede von ä und ä'; man darf
aber nur z. B. die Handschriften-Facsimiles ansehen, welche die
Palaeographical Society veröffentlichte , und man wird davon über¬
zeugt sein. Zudem wird es durch alte Zeugnisse ausdrücklich be¬
stätigt. In dem von J. Dörenbourg veröffentlichten Manuel du
Lecteur (J. As. Nov. Dec. 1870 S. 363) heisst es vom nsrp: es
bestehe aus Linie nnd Punkt unter dem Buchstaben ip
nisn nnn masi. Noch deutlicher sagt Ibn Esra (bei W. Bacher,
Abraham ibn Esra als Grammatiker S. 63): Das grosse Kamez
entsteht aus ö und a, daher sein Zeichen: ein Strich
mit einem Pnnkt darunter; sein Name weist auf Z u -
sammenziehung des Mundes hin. In diesem Namen hat Stade
(Gramm. § 35 a) mit Recht einen Beweis dafür gefunden „dass die
Erfinder des Punktationssystems das ~ schon dunkel als ä oder
0 sprachen". Der deutlichste Beweis liegt, meine ich, eben im
Zeichen selbst, und da ich in den gewöhnlichen Lehrbüchern
nirgends darauf hingewiesen fand, erlaube ich mir das hervorzuheben
und anzufügen, dass schon Pellican 1503 nach Nigri's Vorgang in
seinem modus legendi hebr. Qames als a suevicum beschreibt
quod inter a darum et o medium profertur, possetque nostris
litteris taliter scribi ä. Hermann Pischer, der von mir
darauf aufmerksam gemacht, in Nigri's und Pellican's Beschreibung
den bis jetzt ältesten Beleg für schwäbisch o == mhd. ä fand
(Germania 37, 107—109), meinte, Pellican könnte diese Bezeichnung
selbständig erfunden haben; nach dem Vorstehenden hat ihn viel¬
leicht das hebräische Zeichen und dessen Ursprung darauf ge¬
bracht. — Schade, dass nun Mörike's hübsche Zeichnung und
poetische Verherrlichung des Qames etwas von ihrer Berechtigung
verliert.
Zum Schluss sei gefragt, ob am Ende nicht auch das ~ mit •
seinen 2 Punkten neben einander und einem dritten unter ihnen
auf einer Combination von Zere und Chireq beruht. Ibn Esra a. a. 0.
erklärt es zwar anders, indem er seinerseits sowohl das Zere als
das Schureq so (aus ö und i) entstehen lässt ; manche Erscheinungen
der tiberiensischen Vokalisation liessen sich aber aus solcher Auf¬
fassung des Segol erklären.
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Beiträge zur indischen Rechtsgeschichte.
Von J. JoUy.
5. Zur Geschichte der Kinderehen.
Die bekannte strafrechtliche BUI von 1891 , welche die Ab¬
schaffung der Kinderehen in Indien bezweckt, hat dort eiue überaus
lebhafte Diskussion hervorgerufen . an der sich auch eine Reihe
indischer Sanskritisten eifrig betheUigt baben. Zugänglich sind mir
die kleine , aber inhaltreiche Schrift von Professor Bhandarkar
„A Note on the Age of Marriage' (Poona 1891) und eine Udväha-
samayamimämsä von Pandit Rämaraisra Sästri , dem bekannteu
Lehrer der Philosophie in Benares (Benares 1890); auch gehören
iu diese Reihe die beiden schon früher erschienenen Broschüren
vou Kaghunätb Räo über , Hindu Law on Marriage" und „Hindu
Remarriages' (Madras 1884/85). Während in diesen Schriften die
Kinderehe als eine in den richtig verstandeneu Vorschriften des
Brahmanismus keineswegs begründete Einrichtung zu erweisen ver¬
sucht wird, verfolgen andere Aesserungen indischer Sanskritisten,
die mir aber nur aus polemischen Anführungen in den erwähnten
Schrifteu bekanut sind , die entgegengesetzte Tendenz. Auch in
England ist eiue Apologie der Kinderehe erschienen in Gestalt der
bemerkenswerthen Broschüre von P. Pincott „Social Reform by
Authority in India" (London 1892). Das von den indischeu Sans¬
kritisten benutzte Material ist in erster Linie dem Dharmasästra
entnomnien, ausserdem dem Rigveda. den Grihyasutras, dem Mahä¬
bhärata, den Puränas und einigen medizinischen Werken.
Da die Frage, ob die indische Kiuderehe eine durch die Religion
geheiligte Institution ist oder nicht, auch für die indische Alter¬
thumskunde ein erhebliches Interesse hat, so soll hier eine erneute
Prüfung derselben versucht werden. Betreffs des hierbei voran¬
zustellenden Dharma:5ästra finde ich allerdings keineu Grund vou
dem principiellen Standpunkt abzugehen, zu dem ich auf ürund
eines sehr beschränkteu Materials schon vor Jahren gelangt bin ')•
1) Sitzungsber. cl. k. b. Akail. d. Wiss. 1S7U, I, 424—428.
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