von H. Jungraithmayr, Wehrda
1. Eine erste Gliederung der Pluralformen im Mubi hat J. Lukas 1937 vorgenom¬
men. Die folgenden Bemerkungen sowie die vorgeschlagene Einteilung der Plural¬
bildungstypen nach elf Vokalisierungstypen (siehe Anhang) basieren ausschließlich
auf eigenen Aufnahmen, die ich dankenswerterweise mit Unterstützung der Deut¬
schen Forschungsgemeinschaft im Winter 1975/76 in N'Djamena, Tschad, mit Hilfe
meines Hauptgewährsmannes, Herrn Isa Ramadan, machen konnte.
2. Ohne auf die Gestalt aller elf Vokalisiemngsmuster im Detail eingehen zu
können, seien hier doch folgende, allen Mustern gemeinsame Gmndtatsachen fest¬
gehalten:
a) Mindestens 95% aller Pluralformen des Mubi sind innerer, d.h. gebrochener Natur; die pluralischen Suffixvokale -e und -u treten fast ausschließlich an gleichzei¬
tig auch innerlich ablautende Formen an, z.B. gäyimö/guyöomü „Wildkatze".
b) k, t, p, c und m sind in finaler Position AUophone von g, d/6, h/ß, 'j und ny;
die Beispiele werden phonetisch wiedergegeben.
c) Alle fünf Vokalphoneme des Mubi sind an der Bildung der pluralischen Vo¬
kalmuster beteüigt; am häufigsten sind aber A und die vorderen Qualitäten E und I
vertreten. Als Grundtendenz darf jedenfaUs gelten, daß der Singularstamm in seinen
bevorzugten Vokalisierungsmustern die geschlosseneren Qualitäten, der Plural¬
stamm hingegen die offeneren aufweist.
d) Die Vokalquantität scheint bei der Pluralbüdung keine RoUe zu spielen, wohl
aber die Quantität der Konsonanten. So kommen Reduplikation des letzten (bei
Zweiradikaligen) und Gemination des mittleren Konsonanten (bei Dreiradikaligen)
des öfteren vor; und zwar häufig begleitet von Entstimmhchung, sofern es sich im
Singularstamm um einen stimmhaften Konsonanten handelt; z.B. megir/mäkkär
„Onkel", 'üjümö/'öccöm ,,Fels".
3. Ein Vergleich des Pluralbüdungssystems des Mubi mit dem etwa des westlich
benachbarten Migama läßt u.a. folgendes erkennen:
a) Das Migama bedient sich in stärkerem Maße der Methode der Reduplikation
bzw. Gemination von Konsonanten als das Mubi, und zwar nicht nur bei Konsonan¬
ten in mittlerer Stellung — wie gelegentlich im Mubi, vgl. 2d) —, sondem gerade
auch bei solchen, die im Konsonantengerüst an letzter SteUe stehen, z.B. hötblj
böttöUi „Weg", keepö/keppäppt „Hase".
b) Was den Ablaut betrifft, so sind dessen Erscheinungen sozusagen linearer im
Migama als im Mubi, d.h. I wird zu E oder U wird zu 0. Ein Ablaut I-I > 0-U,
was einen Sprung von vorderen zu hinteren Qualitäten bedeutet und wie ihn das
Mubi vielfach verwendet, kommt im Migama nicht vor.
xx. Deutscher Orientalistentag 1977 in Erlangen
Gebrochene Plurale im Mubi 457
c) Das Migama kennt auch nicht die Entstimmhchung von im Pluralstamm ge¬
minierten Konsonanten, wie es für das Mubi aufgezeigt ist.
Es folgt eine vergleichende Gegenüberstellung von Singular-/Pluralformen vom
Mubi und Migama (,, Djonkor von Abu Telfan"):
„Dorn"
„Onkel"
„Zunge"
Mubi '51m / 'öccüm mhgh I mäkkär ISisi / lääsäs
Migama 'ijimä / 'Sjjömi mäar / mäglre lit / letthtä
Die Grundprinzipien der Pluralbildung - Ablaut, Gemination und Reduplikation -
sind in beiden Sprachen gleichermaßen vorhanden; ein Unterschied besteht nur in
der Auswahl und Realisierung der vorgegebenen Möglichkeiten durch die Einzel¬
sprache.
4. Das Ablautprinzip findet im Mubi nicht nur im nominalen, sondern auch im
verbalen Bereich Anwendung; und zwar sowohl bei der Aspektstammbildung als
auch beim verbalen Pluralstamm'. Im Singular unterscheidet die Sprache z.B. bei
den dreiradikaligen Verbalstämmen 2 Verbalklassen, nämlich die E/I- und die 0/U-
Klasse, die jedoch im Plural neutrahsiert werden, d.h. beide Vokalisierungsmuster- gruppen bilden ihren Pluralstamm auf A. Man vgl. die folgenden Beispiele:
Verbalklasse I (mit Vokalbereich E/I)
„niederknien"
Infinitiv:
Perf Asp.-Stamm:
Imperf. Asp.-Stamm:
Singularstamm
däräsl dlris dlröes
Pluralstamm
däräse därfs diräas
Verbalklasse II (mit Vokalbereich O/U) ,Jiineinstecken"
Infinitiv: sögödi sägäde
Perf Asp.-Stamm: sögüt shgh
Imperf. Asp.-Stamm: sügöot sigäat
5. Aus dem Gesagten wird m.E. deutlich, daß wichtige strukturelle Übereinstim¬
mungen zwischen der nominalen und der verbalen Pluralstammbildung bestehen;
die Frage nach der genauen Natur dieser Übereinstimmungen muß einer gesonder¬
ten Untersuchung vorbehalten bleiben. Eine andere Überlegung, ob nämlich die
beiden Bereiche, Nomen und Verbum, hinsichtlich der inneren Pluralstammbüdung
einander entwicklungsgeschichtlich vor- bzw. nachzuordnen seien, muß aber zum
Schluß aus gegebenem Anlaß noch kurz berührt werden.
l' Im Migama trifft dies nur für die Aspektstammbildung zu (vgl. Jungraithmayr 1975), zur In¬
dikation pluralischen Geschehens wird hingegen ausschließlich die Konsonantengemination herangezogen.
5.1 Z. Frajzyngier kommt in seinem 1976 in Leiden vorgetragenen Referat mit
dem Titel „Emergence of a nominal plural — a case study in Chadic" zu dem
Schluß, daß es im Prototschadischen wohl einen verbalen Pluralstamm, dessen
Hauptmerkmale der Vokal A und die Reduplikation gewesen wären, gegeben habe,
jedoch keinen entsprechenden nominalen Pluralstamm; ein solcher hätte sich erst
sozusagen durch das Vorbild des verbalen Pluralstammes entwickelt; die relativ
große Zahl von Tschadsprachen, die die o.g. Pluralstammbildungsmorpheme nicht
aufweisen, hätten eben den Schritt zur Bildung besonderer Pluralstämme bis heute
noch nicht getan. Für die östhchen Tschadsprachen, insbesondere das Mubi und das
Migama, hätte eine solche Sicht u.a. folgende schwerwiegende Konsequenz: die
komplizierte, ja fast überladen zu nennende nominale Pluralstammformenausprä¬
gung im Mubi und auch im Migama wäre eine auf der Grundlage der verbalen Plural¬
stämme erwachsene Neuerung; sie wäre im Tschadohamitischen unabhängig von den
unmittelbar damit vergleichbaren und wohl auch genetisch verwandten Entwick¬
lungen bzw. Ausprägungen in den anderen hamitosemitischen Sprachfamilien — vor
allem im Berberischen, Südsemitischen und Kuschitischen — entstanden. Das würde
letzten Endes die Annahme einer mehrmaligen Entstehung so komplizierter Struk¬
turen bedeuten. Dafür spricht aber genau so wenig wie etwa für die - theoretisch
immerhin auch mögliche - Auffassung, daß z.B. das nominale Klassensystem inner¬
halb der Benue-Kongo-bzw. Niger-Kongo-Sprachen mehrmals und voneinander un¬
abhängig entstanden sei. Vielmehr dürften die Tschadsprachen ursprünglich sowohl für den nominalen als auch für den verbalen Plural - neben anderen Bildungsmög- hchkeiten - das Prinzip des Ablauts und/oder der Reduplikation (einschließlich Gemination) gekannt haben.
LITERATUR
Frajzyngier, Z., „Emergence of a nominal plural - a case study in Chadic", Leiden (Colloquium on the Chadic language family, 1976) (im Druck).
Jungraithmayr, H., „Der Imperfektivstamm im Migama", Fo/w Orientalia XVI, Kraköw 1975.
Jungraithmayr, H., K. Shimizu, Chadic Lexical Roots - Documentation, Analysis and Recon¬
struction, Marburg 1977 (unveröffentlichtes MS).
Jungraithmayr, H., „A Tentative Four Stage Model for the Development of the Chadic Lan¬
guages", Florenz (im Druck).
Lukas, J., Zentralsudanische Studien, Hamburg 1937.
M\xnonen,K., Broken Plurals, Leiden 1964.
Zitiertes Sprachmaterial:
Die zitierten tschadsprachlichen Belege stammen aus Sammlungen des Verfassers.
Gebrochene Plurale im Mubi 459
ANHANG
PLURALISCHE VOKALISIERUNGSMUSTER
Beispiel
Singular / Plural
I. - A - Ii / lä „Sache"
-A-A- läesi / lääsäs „Zunge"
läsiyä / lässäy „Geliebte(r)"
mägfr / mäkkär „Onkel"
-E-A- 'jliri / 'jäerär „Feigenbaum"
-0-A- gürll / görläl „Hoden"
II. - A(A)yA- dürsf / düräyäs „Grab"
dlb6egi / däbäayäk „Nabel"
BIrki / Blräayäk „Kobus defassa"
III. -A - AA - -I- kamük / käräanik „Kronenkranich
Wl^yyll / käläayll „Schüssel"
IV. (-A) - A - -E fügä / ßgä „Hund"
(vgl. läge „Hündin")
\ \
-E-E-
'Igäalo / 'ägäis „Pavian"
V. klrSn-ik / kärSn „Frosch"
j{lT?gÜd6 / ]hrtghX „Chtoris"
VI. -I-E- gürwä / girew „Schwinge"
(-I/U-A -) gürmö / gIrreSm „Vagina"
gärmä / glrlm „Armring"
gbmyä / güräny .J'ferdeantilope
VII. - 1 - EE - U/(-I-) tiTjgä / tineegü „Bogen"
-Ö-
dolgüm / dlldeglm „Korbart"
VIII. -Ö-Ö- güdür / göddör „gr. Topfart"
'öjümo / 'öcc6m „Fels"
lök / lök „Frau"
IX. - 00 - U gäk / göogük „Herz"
jlc / jöo'jüc „Körper"
X. -U-0- coBBl / cüBop „Lanze"
länjä / lünjöc „Freund"
XI. - U - 00 -U(-) gäylmö / göyöomü „Wildkatze"
bftdöl / büdöolül „Weg"
METHODOLOGISCHE VORBEMERKUNG (Kurzfassung)
von Wilhelm J. G. Möhlig, Köln
Die Grandlage einer jeden sprachhistorischen Betrachtung bilden Phänomene,
die man zusammenfassend als Sprachwandel bezeichnen kann. Zwar deutet der
Terminus an, daß es sich um Abläufe in einer zeitlichen Dimension handelt, den¬
noch sind die historisch-vergleichenden Methoden, die herkömmlicherweise verwen¬
det werden, nicht kinetisch (dynamisch), sondern ihrem Wesen nach statisch ange¬
legt. So werden in der Regel zwei oder mehrere Sprachformen aus diachronisch ver¬
schiedenen Sprachsystemen miteinander verglichen und nach Art einer Gleichung
(Proto-X = x) einander zugeordnet. Ob die betreffenden Entsprechungen tatsäch¬
lich auf Sprachwandel beruhen, wird zumeist gar nicht weiter untersucht, sondern schlicht vorausgesetzt, indem man das Gleichheitszeichen durch einen Pfeil oder ein
ähnliches Symbol zum Ausdmck der Operation „wird zu" ersetzt, ohne daß der
Vorgang des Sprachwandels selber auch nur im Ansatz plausibel gemacht worden
wäre. Schon Bloomfield (Language, London 1933, S. 347) erkannte diesen Sach¬
verhalt, meinte jedoch, daß eine andere Verfahrensweise gar nicht möglich sei, weil
das Phänomen des Sprachwandels nicht unmittelbar beobachtet werden könne.
Schon damals entsprach diese Auffassung nicht ganz den Realitäten, geschweige
denn heute. Bei einer dialektologischen Untersuchung der Sprachen eines größeren
zusammenhängenden Areals tritt der Prozeß des Sprachwandels geradezu unaus¬
weichlich in den Vordergmnd, und zwar als Prozeß auf der synchronen Stufe der
Sprachbetrachtung. Das hängt damit zusammen, daß sich der Dialektologe ganz ge¬
zielt der sprachlichen Vielfalt an der dialektalen Basis aussetzen muß, während der Sprachhistoriker, der mit den traditionellen Methoden der Sprachvergleichung
arbeitet, gerade umgekehrt diese Vielfalt bewußt zu vermeiden trachtet und darum
von einer abstrahierenden, ideellen Sprachwirklichkeit ausgeht, in der dann in der
Tat alles statisch erscheint. (Möhlig, W. J. G.: Die Stellung der Bergdialekte im
Osten des Mt. Kenya, Berlin 1974 - ders.: Dialektgrenzen und Dialektkontinua im
Bantu-Sprachgebiet von Kenia: Zum Problem der Grenzfindung und Grenzgewich-
tung, erscheint demnächst im Tagungsband des Internationalen Symposions ,Zur
Theorie des Dialekts' in Marburg.)
Im Folgenden möchte ich einen ersten systematishen Überblick über die syn¬
chronen Faktoren des Sprachwandels geben, so wie sie sich mir bei der dialektolo¬
gischen Bearbeitung einiger Savannen-Bantusprachen dargestellt haben. Ich halte
es für denkbar, daß die grundlegenden Elemente dieser Systematik eine universelle
Bedeutung haben, möchte aber im gegenwärtigen Forschungsstadium noch keine
Generalisierungen vornehmen.
xx. Deutscher Orientalistentag 1977 in Erlangen