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475 Als Einführung zur spätmittelalterlichen Burgenpolitik im Allgemeinen ist das Buch weniger geeignet. John Hower Übergänge schaffen.

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Als Einführung zur spätmittelalterlichen Burgenpolitik im Allgemeinen ist das Buch weniger geeignet.

John Hower

Übergänge schaffen. Ritual und Performanz in der frühneuzeitlichen Militär- gesellschaft. Hrsg. von Ralf Pröve und Carmen Winkel, Göttingen: V&R uni- press 2012, 158 S. (= Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit, 16), EUR 34,99 [ISBN 978-3-8471-0023-2]

Zeremoniell und Ritual können bis in die Gegenwart hinein als militärtypisch gel- ten. Sie sind Länder übergreifend ein wesentlicher Bestandteil der öffentlichen Wahrnehmung von Streitkräften und dienen mehreren Zwecken: Feierliche Gelöb- nisse etwa oder der Große Zapfenstreich entfalten nicht nur ein hohes Maß an re- präsentativer Wirkung, sondern haben aus militärinterner Perspektive auch eine den Zusammenhalt fördernde, inkludierende Wirkung. Militärische Spezifika wie etwa der drillmäßige Umgang mit Waffen konnten zu allen Zeiten Außenstehende durch Präzision und Gleichklang beeindrucken – zugleich gaben und geben sie in- nerhalb des militärischen Gefüges ein Gefühl von Sicherheit und gegenseitiger Ver- lässlichkeit. Neben dem meist bekannten Zeremoniell existiert jedoch auch ein mi- litärinternes Repertoire an Ritualen, das – vor der Öffentlichkeit oftmals eher verborgen – epochen- und grenzüberscheitend gepflegt wird. Hierbei muss es sich nicht zwangsläufig um »offizielle«, d.h. beispielsweise von einer Militärführung

»autorisierte« Ritualtypen und -formen handeln.

Sind – so die Herausgeber des vorliegenden Bandes – die »phänomenologische[n]

Charakteristika« und die historischen Ursprünge solcher militärischer Handlungs- muster aus der Sichtweise als »selbsterklärende normative Akte« zumindest zu einem Teil hinreichend erforscht worden, eröffnen sich durch den kulturgeschicht- lichen Ansatz hier neue Perspektiven für die Forschung – insbesondere für die Frühe Neuzeit, für die eine klare Abgrenzung zwischen dem »militärischen« und

»nichtmilitärischen« Bereich nur schwerlich vorgenommen werden kann. Somit kommt den vielfältigen und bislang kaum beleuchteten Übergängen und den da- mit verbundenen Sinn und Werte stiftenden Handlungen in dieser Hochzeit der Rituale große Bedeutung zu, was – wie bereits angedeutet – besonders für den bin- nenmilitärischen Bereich gelten muss.

Zur Aufarbeitung dieses Desiderates haben die beiden Herausgeber im vorlie- genden Band sechs jeweils ca. 20-seitige Beiträge sowohl von renommierten Ken- nerinnen und Kennern des Sujets als auch von wissenschaftlichem Nachwuchs zu- sammengestellt und einen breiten inhaltlichen Bogen gespannt: Carmen Winkel arbeitet in ihrem Aufsatz zu »Eid, Uniformen und Wachdienst« etwa die hohe Be- deutung regimentsinterner Riten für die Integration eines Offiziers in das Gefüge des jeweiligen Offizierkorps heraus und unterstreicht zugleich die im hierar- chischen Sinne ordnende Wirkung der Uniform. Stephan Theilig untersucht hinge- gen die rituelle Wirkung der Taufe von kriegsgefangenen »Türken« und die Über- nahme »türkisierender Elemente« in das Militärwesen, was angesichts der Hochzeit von Exotismen in der höfischen Kultur des 18. Jahrhunderts und der enormen Ge- gensätze der Religionen und Kulturen hier als durchaus spannende und folgerich- tige Thematik erscheint. Dass Rituale durchaus der Vergemeinschaftung dienen können, zugleich jedoch nicht zwingend konstituierend wirken müssen (und von

© ZMSBw, Potsdam, DOI 10.1515/mgzs-2014-0020

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einer Militärführung auch nicht zwangsläufig immer erwünscht sind), zeigt Ulrike Ludwig in ihrem Beitrag über das Duellwesen im Umfeld schwedischer Offiziere.

Bastian Muth verdeutlicht die Rolle und Funktion militärischer Strafrituale am extre- men Beispiel der »doppelten« Hinrichtung des kaiserlichen Regiments »Madlo«, das sich während der Schlacht bei Breitenfeld 1632 eigenmächtig vom Schlachtfeld entfernt hatte: Nicht nur die Soldaten des Regiments wurden zum Tode verurteilt, auch sollte der Name der Formation »vertilgt und ausgerottet« werden. Wie kom- plex sich die eigentlich profane Prozedur der Demission von preußischen Offizie- ren unter Friedrich II. gestaltete, zeigt der Beitrag von Angela Strauß über die »Auf- führung des Königs«. Die symbolisch aufgeladenen Handlungssequenzen der Entlassung zeigen nicht nur die persönliche Gebundenheit des Offiziers an die Krone. Die Tatsache, dass die an sich weit verbreitete Mobilität zwischen den Of- fizierkorps der verschiedenen Armeen bei Friedrich II. unbeliebt war, belegt auch das Bemühen des Herrschers um eine Qualitätssicherung innerhalb der militä- rischen Führungskräfte durch Bewahrung von fachlichen Kompetenzen und Er- fahrungen – ein durchaus modern anmutender Gedanke! Im abschließenden Bei- trag von Marian Füssel werden militärische Beerdigungs- und Sterberituale im Siebenjährigen Krieg in den Blick genommen. Er zeigt auf, wie im Spannungsfeld zwischen einem sich entgrenzenden Kriegsgeschehen und der weitgehenden Ver- wurzelung seiner Akteure in den Strukturen des Alten Reiches sich Bestattungsri- tuale zwischen sozialen Statusgruppen unterschieden – verbunden mit einem grenzüberschreitenden Kodex, der (unabhängig von Freund oder Feind) zugleich gewisse Mindestanforderungen an das Ritual stellte.

Die vorliegenden Beiträge erheben keineswegs den Anspruch, die Thematik des Sammelbandes in ihrer ganzen Dimension auszuloten. Sie geben vielmehr An- stoß zu weiterführenden Fragestellungen und offenbaren das enorme Potenzial der kulturgeschichtlichen Herangehensweise. Verstehen die Herausgeber ihre Pu- blikation daher auch als einen »ersten Schritt« sowie »als Einladung für eine Kul- turgeschichte des Militärs in der Frühen Neuzeit«, so kann dieser Schritt als gelun- gen und richtungsweisend bezeichnet werden.

Marcus von Salisch

The Ashgate Research Companion to the Thirty Years‘ War. Ed. by Olaf Asbach and Peter Schröder, Farnham [u.a.]: Ashgate 2014, XIV, 347 S., £ 85.00 [ISBN 978-1-4094-0629-7]

Der neue Ashgate Research Companion repräsentiert den aktuellen Forschungs- stand zum Dreißigjährigen Krieg auf hohem und höchstem Niveau. Bereits die Einleitung der Herausgeber macht deutlich, dass es sich um einen vorwiegend auf deutschem Boden gefochtenen europäischen Großkonflikt handelte, der vom lange währenden habsburgisch-französischen Gegensatz geprägt war. Entsprechend ist das Handbuch in fünf Abschnitte gegliedert: Teil eins stellt das Heilige Römische Reich Deutscher Nation vor, Teil zwei die wesentlichen involvierten Mächte und Monarchen. Der dritte Teil erfasst die einzelnen Phasen des Krieges. Teil vier greift Thematiken wie die materiellen, religiösen und geistigen Bedingungen des Krieges auf. Der fünfte Teil skizziert schließlich die gescheiterte Prager Pazifikation und den erfolgreichen Westfälischen Frieden.

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Jeder der 25 englischsprachigen Originalbeiträge namhafter internationaler Wissenschaftler hat rund ein Dutzend Seiten und wird mit einer prägnanten Aus- wahlbibliografie beschlossen. Erschlossen wird der Band außerdem durch einen – allerdings teilweise ungenauen – Orts- und Personenindex. Der Ladenverkaufspreis ist als teuer zu bewerten, selbst die ebenfalls angebotene Ebook-Variante kommt kaum günstiger. Dennoch kann das Handbuch seiner Zielgruppe, Studierenden und Lehrenden gleichermaßen, uneingeschränkt empfohlen werden. Die exzel- lente Qualität des Inhalts überwiegt die äußere Kritik bei Weitem. Aufgrund der bei einer Rezension gebotenen Kürze können im Folgenden nur einige Aspekte an- gerissen werden, wenngleich sämtliche Aufsätze Beachtung verdienen.

Die von Brennan Pursell zu Beginn beschriebene, während des gesamten Krieges latente Kurpfalzproblematik, die der auf Maximilian von Bayern angewiesene Kai- ser Ferdinand II. nicht umgehen konnte, trug mit dazu bei, dass Frankreich, die Niederlande, England und insbesondere der – mit Paul D. Lockhart – als Abenteu- rer zu erachtende König Christian IV. von Dänemark ihre Interessen im Reich an- meldeten. Konnte der Kaiser mit Wallensteins Unterstützung Forderungen noch abwehren und sich sogar Norddeutschlands bemächtigen, so rief sein konfessio- nelles Programm die Reichsfürsten und die Krone Schwedens auf den Plan, was ihm herbe Verluste bescherte. Die letztmalige Hilfe der von Gabriel Guarino analy- sierten Krone Spaniens für den Kaiser in der (ersten) Schlacht bei Nördlingen 1634 mündete in den bilateral mit Kursachsen 1635 geschlossenen Prager Frieden, for- derte aber Frankreich heraus, das mit Schweden ein wirkungsvolles Bündnis ein- ging. Erst die militärische Erschöpfung Kaiser Ferdinands III., lautet eines der poin- tierten Ergebnisse Christoph Kampmanns, ermöglichte nach weiteren 13 Jahren Krieg den universalen Friedensschluss.

Trotz der konfessionellen Gemeinsamkeiten zwischen dem Kaiser, Spanien und Frankreich sah sich dessen Erster Minister Richelieu, wie Lucien Bély betont, einer habsburgischen Einkreisung ausgesetzt, sodass König Ludwig XIII. in Mantua und den Alpen früh intervenierte sowie später die nördlichen Niederlande wie auch Schweden finanziell stützte. Nicht nur dadurch europäisierte sich der Krieg. Denn der Kardinalfehler des Prager Friedens lag – mit Tryntje Helfferich – zum einen in der Ausklammerung Schwedens und Frankreichs, zum anderen in der Ausschlie- ßung einiger protestantischer, insbesondere reformierter Reichsfürsten, etwa der militärisch gewichtigen Landgrafen von Hessen-Kassel, die fortan unabhängig von Kaiser und Reich agierten. Dies schwächte Ferdinand III. so sehr, dass er erstmals seit Langem wieder 1640 einen allerdings ergebnislos endenden Reichstag einbe- rufen musste.

Die Stärke der schwedisch-französischen Allianz zwang wichtige Kur- und Reichsfürsten auf Dauer in die Neutralität und den Kaiser dazu, letztere wie auch die auswärtigen Mächte auf einem westfälischen Friedenskongress zuzulassen.

Die dortigen Verhandlungen wurden indessen erst ernsthaft geführt, als nach der Schlacht bei Jankau (Jankov) 1645 die Erblande und Wien unmittelbar bedroht wa- ren. Die territorialen Satisfaktionsforderungen der auswärtigen Kronen riefen je- doch einen letzten großen Widerstand des Kaisers hervor, der in dem Maße kon- zilianter wurde, wie seine militärischen Kräfte schwanden. Den Kompromiss des Westfälischen Friedens schließlich stellen Heinz Duchhardt auf europäischer Ebene und Axel Gotthard auf Reichsebene vor, insbesondere mit Blick auf konfessionspoli- tische und verfassungsrechtliche Veränderungen.

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Den Auftakt des Reigens an Friedensschlüssen hatte im Mai 1648 die Ratifika- tion des spanisch-niederländischen Vertrags gebracht, der den Achtzigjährigen Krieg beendete – dessen Entwicklungen nach 1621 Olaf van Nimwegen behandelt.

Auch auf jenem Schauplatz hatte sich eine gewisse Pattsituation entwickelt gehabt, die mit der materiellen Auslaugung der beteiligten Parteien, aber auch den grau- samen Kriegserfahrungen der kriegsmüden Bevölkerung zu tun hatte, wie John Theibault und Sigrun Haude zeigen. Dies nahm auch Einfluss auf die sich zwangs- läufig anpassende Strategie der Kriegführung, die Peter H. Wilson unter dem Zei- chen der zunehmenden Erschöpfung von Ressourcen resümiert: Kommandeure von Truppen waren gezwungen, sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren. Da- her standen gerade Fragen der Versorgung in teilweise ausgezehrten Landstrichen im Vordergrund, sodass Einheiten kleiner und mobiler werden mussten, um sich ihren Unterhalt selbst zu verschaffen.

Die Militärgeschichte wird von vorliegendem Band ebenso profitieren wie die allgemeine europäische Geschichtsschreibung zur ersten Häfte des 17. Jahrhun- derts. Dabei verdeutlicht die thematische Gewichtung der Besprechung den neu- artigen thematischen Schwerpunkt des Buches: Er liegt eindeutig auf der lange eher weniger tiefgreifend bearbeiteten letzten Periode des Dreißigjährigen Krieges.

Das Handbuch regt dazu an, die noch immer vorhandenen Lücken allmählich zu schließen, der Endphase des Großen Krieges angemessenen Raum zu verschaffen und jene passend ins Gesamtgeschehen einzuordnen.

Steffen Leins

Militär und Gesellschaft in Preußen – Quellen zur Militärsozialisation 1713–1806.

Archivalien im Land Brandenburg. Hrsg. von Jürgen Kloosterhuis, Bern- hard R. Kroener, Klaus Neitmann und Ralf Pröve. Bearb. von Peter Bahl, Claudia Nowak und Ralf Pröve, Frankfurt a.M. [u.a.]: Lang 2014 (= Quel- len, Findbücher und Inventare des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, 26–28).

Teil 1: Brandenburgisches Landeshauptarchiv (1. Hälfte), XLIV, 498 S., EUR 92,95 [ISBN 978-3-631-62716-7]; Teil 2: Brandenburgisches Landes- hauptarchiv (2. Hälfte), XI, 547 S.,EUR 94,95 [ISBN 978-3-631-62717-4]; Teil 3:

Kirchliche, kommunale und sonstige Archive, Sachsystematik und Indices, IX, 505 S., EUR 86,95 [ISBN 978-3-631-62718-1]

Als in den 1990er Jahren buchstäblich eine Handvoll Historiker – darunter drei der Herausgeber des anzuzeigenden Werks – aufbrach, um eine »neue« Militärge- schichte der Frühen Neuzeit methodisch zu entwickeln und im Wissenschaftsbe- trieb zu etablieren, standen u.a. die bis dahin wirkmächtigen Thesen von Otto Büsch im Zentrum der Diskussion. Dieser hatte in den 1950er und 1960er Jahren einen preußischen Sonderweg ausgemacht, der im Rahmen des Kantonsystems im 18. Jahrhundert zu einer sozialen Militarisierung der Gesellschaft und schließlich zum preußischen Militarismus geführt habe. Gleichzeitig wurde seit den 1990er Jahren die Vorstellung infrage gestellt, dass Militär und (Zivil-)Gesellschaft der Vormoderne zwei völlig voneinander geschiedene Sphären darstellten, die nichts oder wenigstens kaum etwas miteinander zu tun hatten. Die mittlerweile gar nicht mehr so »neue« Militärgeschichte der Frühen Neuzeit brachte daher zahlreiche Untersuchungen zu »Militär und Gesellschaft« hervor – so auch der Name des

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lange Zeit von Bernhard R. Kroener geleiteten, diese Forschungen bündelnden Ar- beitskreises, der seine Schriftenreihe folgerichtig »Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit« genannt hat. Die »neue« Militärgeschichte der Frühen Neu- zeit weist heute zwar weit über die Sozialgeschichte des Militärs hinaus, jedoch ist diese noch längst nicht ausgeforscht und stellt nach wie vor ein bedeutendes Ar- beitsfeld dar.

Büschs Thesen haben sich dabei schon lange als nicht haltbar erwiesen. Viel- mehr konnte in zahlreichen Untersuchungen gezeigt werden, dass Preußen im eu- ropäischen Vergleich im 18. Jahrhundert keineswegs einen zwangsweise im wie auch immer genau zu definierenden Militarismus mündenden Sonderweg einge- schlagen hat. Weder war seine Gesellschaft militarisiert, noch konnte oder wollte das Militär eine völlige Dominanz erlangen. Auch waren »Militär und Gesellschaft«

keineswegs separierte Bereiche, sondern so eng miteinander verwoben, dass eine getrennte Betrachtung sehr künstlich ausfallen würde und daher kaum sinnvoll zu betreiben wäre.

Die erste Bresche in diese Richtung hat zu Beginn der 1990er Jahre Jürgen Kloosterhuis auf der Basis westfälischer Quellen aus den preußischen Westgebie- ten geschlagen. Der Vergleich der Verhältnisse hier mit dem brandenburgisch- preußischen Kernland, das primärer Gegenstand der Untersuchungen Büschs war, wurde jedoch stets dadurch erschwert, dass das preußische Heeresarchiv 1945 bei einem Luftangriff zerstört wurde. Quellen aus militärischer Provenienz stehen da- her nicht oder jedenfalls nur bruchstückhaft zur Verfügung. Von Beginn an war es daher Aufgabe der »neuen« Militärgeschichte, in Archivbeständen anderer, ziviler Provenienzen nach Quellen zu suchen, die Licht auf ihre Fragestellungen zu wer- fen vermochten.

Schon 1995 entstand daher der Gedanke, die in den Archiven verstreuten Quel- len aller möglichen Provenienzen für die Fragestellungen einer »neuen« Militär- geschichte zu erschließen. Daraus folgte eine Kooperation zwischen dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin, dem Brandenburgischen Landes- hauptarchiv Potsdam und dem Lehrstuhl für Militärgeschichte an der Universität Potsdam. Gemeinsam erreichten diese Partner eine Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft für die Erarbeitung eines archivübergreifenden Inven- tars der relevanten Quellen im brandenburgisch-preußischen Kernland – grob dem Land zwischen Elbe und Oder – mit dem Berichtszeitraum 1713 bis 1806, das nun mit den drei hier besprochenen Bänden und einer parallelen Publikation des Ge- heimen Staatsarchivs vorliegt.

Mehr als 30 000 archivische Verzeichnungseinheiten aus 36 öffentlichen und privaten Archiven bzw. Sammlungen hauptsächlich in Berlin und Brandenburg wurden erfasst und über eine Sachsystematik klassifiziert, davon etwas mehr als 13 000 in den vorliegenden drei Bänden, die das Land Brandenburg abdecken (mit Ausnahme der Pfarrarchive in Gemeindebesitz).

Aufgenommen wurden alle Quellen, die Aufschlüsse über die Interaktion von Militär und Gesellschaft bieten. Hier geht es um die Verhältnisse zwischen militä- rischen Stellen und Truppenteilen auf der einen Seite und zivilen Behörden, Per- sonen oder auch Institutionen auf der anderen Seite. Häufig geraten dabei die vom Militär verursachten Lasten wie Einquartierungen, Abgaben usw. sowie der Um- gang mit den Folgen der Kriege des 18. Jahrhunderts in den Blick. Aufgenommen wurden aber auch Quellen zu den einzelnen Soldaten aller Rangstufen und zu ih- rer persönlichen Integration in die Gesellschaft. Zu denken ist hier genauso an eine

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wirtschaftliche Betätigung neben dem Militärdienst wie an das Problem der Inva- lidenversorgung oder einfach nur der Rückkehr in das Zivilleben.

Zu Recht weisen die Bearbeiter darauf hin, dass ein sachthematisches Inventar die Quellen aus ihrem Entstehungszusammenhang reißt. Daher ist bei der Benut- zung jeweils auch das gesamte Archiv in den Blick zu nehmen, das weitere hier nicht berücksichtigte Quellen in provenienzgerechter Ordnung beizusteuern ver- mag. Dies gilt umso mehr, als man sich bei der Erstellung des Inventars auf die vorhandenen Findmittel stützen musste, weil eine Durchsicht aller relevanten Ak- ten personell nicht leistbar gewesen wäre. Berücksichtigt werden konnten daher in der Hauptsache nur solche Unterlagen, bei denen der archivische Titel einen Militärbezug versprach. Dass es darüber hinaus zahlreiche Quellen gibt, bei de- nen dies nicht der Fall ist und die dennoch im Sinne der Fragestellung »Militär und Gesellschaft« wertvollen Inhalt bieten, versteht sich fast von selbst. Man denke nur an die Serien von Protokollen oder Rechnungen auf den unterschiedlichsten Ebenen der Verwaltung. Auch konnten personenbezogene Quellen nur dann be- rücksichtigt werden, wenn im Archiv ein militärischer Dienstgrad beim Namen verzeichnet war. Das ist zum Beispiel häufig bei Testamenten der Fall, von denen eine große Zahl aus dem Brandenburgischen Landeshauptarchiv aufgenommen werden konnte, ohne dass sicher angenommen werden könnte, Vollständigkeit er- reicht zu haben. Vielfach bietet das Inventar daher einen Einstieg, der um die Kon- sultation weiterer Findmittel ergänzt werden muss.

Zu berücksichtigen ist bei der Benutzung auch, dass die vorhandenen Akten- titel meist übernommen wurden, weil eine vollständige Neuverzeichnung nach einheitlichen Kriterien nur in Ausnahmen möglich war. Begriffe und Sachverhalte sind daher nicht einheitlich benannt. Angestrebt wurde aber, die Ortsbezeich- nungen dem modernen Gebrauch anzupassen und die militärischen Dienstgrade einheitlich anzusetzen.

Die Recherche in dem Werk wird allerdings ohnehin häufig nicht durch seiten- weise Lektüre geprägt sein, sondern von den Indices und der erarbeiteten Sach- systematik ausgehen. Diese Wege zu den Quellen zugänglich gemacht zu haben, ist eine wesentliche Leistung des Projekts. Orte, Personen und Sachen werden je- weils über Register erschlossen, wodurch ein punktueller Zugriff auf ca. 6000 Sach- begriffe, 1500 Ortsnamen und 8000 Personen möglich wird.

Ausgehend von dem ursprünglichen Interesse, Quellen zur Prüfung der Milita- risierungsthese Büschs zu finden, wurde darüber hinaus das gesamte Quellenma- terial in eine Sachsystematik eingeordnet. Diese beinhaltet 60 Themenfelder (1–60) aus 14 thematischen Gruppen (A bis N), die einer von drei Hauptgruppen (I bis III, nämlich »Das Militär als System«, »Militär und Gesellschaft« und »Militär und Staat«) zugeordnet wurden. Um dem Problem unklarer oder möglicher Doppel- zuordnungen zu begegnen, wird zudem zwischen den einzelnen Bereichen ver- wiesen. So sollten beispielsweise beim Sachbegriff 14 (Kameradschaft) je nach Fra- gestellung auch die Themenfelder 9 (Kompanie- und Regimentswirtschaft) und 13 (Loyalität und Patronage) betrachtet werden. Selbstverständlich lassen sich auch die Sachsystematik und beispielsweise der Ortsindex so kombinieren, dass zu einer bestimmten Fragestellung alle eine Stadt betreffenden Quellen gefunden werden können.

Solche Auswertungen sind allerdings mit einigem Blättern und daher mit einem gewissen Aufwand verbunden. Die Frage, ob ein derartiges Projekt nicht besser in elektronischer Form publiziert worden wäre, muss daher erlaubt sein. Sie ist viel-

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leicht salomonisch damit zu beantworten, dass eine Datenbankrecherche in vieler- lei Hinsicht von Vorteil sein dürfte, dass dies aber umgekehrt auch für die Benut- zung in Buchform gilt. Die Basis der Druckfassung ist eine Datenbank, die auch online zugänglich gemacht werden soll (S. IX) – sodass sich das Problem nicht wirklich stellt.

Die Herausgeber haben darauf verzichtet, den wissenschaftlichen Ertrag der Arbeit selbst zu umreißen. Abschließend wird dies auch kaum möglich sein, weil das Projekt ja erst die Basis für umfassende weitere Forschungen schafft, sie aber nicht selbst durchgeführt hat. Ein wesentlicher Mehrwert ist dabei sicher die weit- gehend vollständige Berücksichtigung der Archive und Sammlungen in Berlin und Brandenburg. Die Masse der Datensätze stammen zwar aus dem Geheimen Staats- archiv und dem Brandenburgischen Landeshauptarchiv, die beide ohnehin im Fo- kus der Forschung stehen und auf die daher selbstverständlich zurückgegriffen wird. Aber deren Bestände werden durch das flächendeckende sachthematische Inventar mit den Archivalien der vielen kleinen und kleinsten Archive verzahnt, deren Nutzung nicht ohne weiteres auf der Hand liegt und deren Findmittel we- sentlich schwerer außerhalb ihrer Lesesäle zugänglich sind. Ob man – um nur ein Beispiel zu nennen – das Testament des Generalleutnants Friedrich Christoph von Saldern aus dem Jahr 1783 unbedingt im Pfarrarchiv Wilsnack gesucht hätte, sei jedenfalls dahingestellt. Der Personenindex verweist mehr als 100-mal auf Saldern, sodass eine biografische Studie genauso leicht ermöglicht wird wie der Versuch der Einordnung seines Lebenslaufs und seiner dienstlichen Tätigkeiten in gesell- schaftliche Zusammenhänge. Als sehr hilfreich dürfte sich auch der umfassende Nachweis von Truppenteilen über den Index erweisen. Die zahlreichen Verweise auf Produkte und Güter bzw. deren Herstellung machen es auch möglich, das In- ventar über den rein militärischen Bereich hinaus etwa wirtschaftsgeschichtlich zu nutzen.

Bei diesen Beispielen soll es sein Bewenden haben. Sie zeigen, dass das berlin- brandenburgische Militärinventar künftig die Basis für die Suche nach Quellen zu zahlreichen militärgeschichtlichen und darüber hinausgehenden Projekten abge- ben wird. Sie zeigten auch, wie fruchtbar die Zusammenarbeit von Historikern und Archivaren sein kann, und daher liegt der Wunsch nach geografischer und zeitlicher Ausweitung nahe. Aufgrund des hohen Aufwandes und der jahrelangen Bearbeitungsdauer dürfte dieser Wunsch jedoch nicht realistisch sein. Umso dank- barer wird die Forschung das besprochene Werk und seine »Schwester« aus dem Geheimen Staatsarchiv künftig nutzen.

Max Plassmann

Guerres et armées napoléoniennes. Noveaux regard. Sous la dir. d‘Hervé Dré- villon, Bertrand Fonck et Michel Roucaud, Paris: Nouveau Monde Éd. 2013, 562 S., EUR 29,00 [ISBN 978-2-36583-851-1]

Der Sammelband stellt einschließlich Einleitung und Schlussbetrachtung 31 Bei- träge zu einem Kolloquium vom Jahresende 2012 vor, das vom Service historique de la Défense an der École militaire, der zentralen geschichtswissenschaftlichen Einrichtung des französischen Verteidigungsministeriums, organisiert wurde. Mit einer Ausnahme stammen alle Autorinnen und Autoren aus Frankreich. Viele sind an militärhistorischen Institutionen wie dem genannten Service historique oder

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dem Pariser Musée de l’Armée beschäftigt, weshalb sich einige der Texte mit ak- tuellen Quelleneditionsprojekten oder der musealen Überlieferung und Präsenta- tion der Grande Armée befassen.

Bei der Vielzahl und thematischen Heterogenität der Beiträge muss an dieser Stelle eine notgedrungen subjektive Auswahl getroffen werden. In salvatorischer Absicht bemerken die Herausgeber in der Einleitung, dass der Band zahlreiche neue Aspekte zur napoleonischen Militärgeschichte vorstelle, ohne selbst zu ver- suchen, diese »nouveaux regards« einer leitenden Fragestellung oder Forschungs- perspektive zuzuordnen. Es bleibt Alan Forrest, Emeritus der Universität von York, überlassen, in einer Schlussbetrachtung diesen Versuch unter dem Paradigma der

»New Military History« nachzuliefern. Dieser Begriff taucht in den französischen Beiträgen nirgends explizit auf, umreißt aber durchaus einen Schwerpunkt des Bandes. Die Anordnung der Beiträge in vier große Sektionen spiegelt dies wider;

lediglich die erste (»La Grande Armée en campagne«) scheint an die traditionelle Operationsgeschichte anzuschließen, während es in den drei folgenden Abschnit- ten um die individuelle Perspektive, das Verhältnis von Grande Armée und Ge- sellschaft und schließlich ihre historische Überlieferung und Rezeption in Memoi- ristik, Historiografie und musealen Artefakten geht.

Doch auch der erste Teil ist überwiegend weniger der Kriegs- und Operations- geschichte im engeren Sinne als vielmehr Zusammenhängen von Kriegführung, Innenpolitik und manipulativer Handhabung der Kriegsberichterstattung gewid- met. Gilles Candela verfolgt die »Genese des napoleonischen Kriegssystems« bis zu den Revolutionskriegen 1792–1797 zurück. Unmittelbar mit Übernahme des Kom- mandos über die Italienarmee (1796/97) habe es General Napoleon Bonaparte ver- standen, seine eigentlich nur in wenigen, aber entscheidenden Einzelheiten stra- tegisch und taktisch innovative Kriegführung mit einer wirkungsvollen Propaganda zu verbinden, die sowohl auf die Truppe selbst als auch auf die Heimat zielte. Diese Propaganda habe beispielsweise die schlechte Versorgungslage der Italienarmee drastisch übertrieben, um deren Leistungen unter Bonaparte umso stärker heraus- zustellen. Michel Roucaud befasst sich mit der oft vernachlässigten Frage der zeit- genössischen militärischen Aufklärung, die zwischen »information ouverte« und

»information fermée« unterschied; besonders interessant ist, dass sich Napoleon gelegentlich inkognito reisender Offiziere bediente, um ohne Wissen der zustän- digen Behörden und Kommandeure ein ungeschöntes Bild der eigenen Truppen zu erhalten. Patrick Bouhet arbeitet anhand des Austerlitz-Feldzugs heraus, wie sich Napoleon durch geschickte redaktionelle Eingriffe in die nachträglich veröffentlich- ten Befehle, Proklamationen und Bulletins als genialer Feldherr präsentierte, der alle Bewegungen des Feindes vorausgesehen und so einen überwältigenden Sieg errungen habe.

Die vermutlich einschneidendste Veränderung im Verhältnis zwischen Militär und Gesellschaft bestand in der Einführung der durch die »loi Jourdan« von 1798 geregelten Wehrpflicht – ein Gesetz, das auch nach Errichtung des Kaiserreiches unverändert in Kraft blieb. Die »loi Jourdan« legte die Regeln der Konskription fest, wurde aber besonders nach 1808 in der Praxis häufig aufgeweicht, wie Annie Crépin ausführt. In Kriegszeiten gab es keine Begrenzung der Militärdienstdauer, sodass der Konskribierte in den nahezu ununterbrochenen Feldzügen bis 1814/15 praktisch unbefristet diente, solange er nicht durch Tod oder schwere Verwundung aus der Armee ausschied. Welche Belastungen der französischen Gesellschaft mit den ständigen Aushebungen auferlegt wurden, macht auch der Zahlenvergleich

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deutlich, den Jean-François Brun anstellt (S. 202 f.): 36 Prozent der Gestellungspflich- tigen (d.h. unverheiratete Männer im Alter von 20 bis 25 Jahren) wurden tatsäch- lich eingezogen, was sieben Prozent der Gesamtbevölkerung entsprach; in den Jah- ren 1914–1919 lag letzterer Anteil bei zwanzig Prozent. Die Schätzungen über die Verluste der napoleonischen Armeen gehen nach wie vor weit auseinander: Bei einer Gesamtzahl der in den Jahren 1804–1815 in den verschiedenen französischen Armeen dienenden Soldaten von über zwei Millionen belaufen sie sich auf 400 000 bis 600 000 Tote (darunter offenbar viele an Krankheiten Verstorbene); diesen sind allerdings noch 200 000 bis 400 000 ihren Verwundungen Erlegene hinzuzurech- nen, sodass nach den höchsten Schätzungen beinahe jeder zweite der aktiven Sol- daten umkam (Michel Roucaud, S. 271).

Diese Feststellungen verweisen auf einen weiteren wichtigen Aspekt, der im Band untersucht wird: die Einordnung der Napoleonischen Kriege in die Kriegs- geschichte der neueren und neuesten Zeit durch Zeitgenossen und Nachgeborene.

Wenn schon gelegentlich der Siebenjährige Krieg und der Spanische Erbfolgekrieg um den Rang eines »ersten Weltkriegs der Geschichte« konkurrieren, gilt die Be- zeichnung »globaler Konflikt« mit einer gewissen Berechtigung auch für die Napoleonischen Kriege, wie etwa der Beitrag von Boris Lesueur über die französi- schen Kolonialregimenter und den Truppeneinsatz in Übersee auch noch nach der Niederlage der französisch-spanischen Flotte bei Trafalgar (1805) nahelegt.

Mit Blick weniger auf die globale Ausdehnung des Krieges als vielmehr auf seine soziale und ökonomische Intensität diskutiert Hervé Drévillon, inwiefern von einem ersten »totalen Krieg« die Rede sein könne; er schlägt vor, unter Rückgriff auf einen Begriff von Carl von Clausewitz eher vom »absoluten Krieg« zu spre- chen, der sich in bestimmten Merkmalen von der Kriegführung des Ancien Ré- gime unterschieden habe. Neu war etwa, dass erstmals Ausbildungsvorschriften oder militärtheoretische Texte Taktik und Wesen der Kriegführung aus dem ver- meintlichen Nationalcharakter der Franzosen ableiteten oder gar eine direkte Ver- bindung zwischen soziopolitischem System und Militärwesen konstruierten. Dies hatte auch langfristige Auswirkungen auf das strategische und taktische Denken;

denn noch am Vorabend des Ersten Weltkrieges rechtfertigten sich französische Militärs mit den angeblichen Lehren aus der napoleonischen Kriegführung, wenn sie ihre strategischen Doktrinen um die »offensive à outrance« kreisen ließen. Dré- villon unterstreicht, dass es sich hier um eine der vielen Mythen der Napoleo- nischen Kriege handelte, während die Tatsachen dagegen sprächen, vor und nach 1792 eine einfache Trennungslinie zwischen »Positionskrieg« und »Bewegungs- krieg« zu ziehen.

Wie bei Sammelwerken dieser Art zumeist, liegt der Wert des Bandes nicht so sehr in seinen theoretisch-methodologischen Vorgaben und empirischen Ergebnis- sen, sondern in seiner großen Zahl von interessanten Einzelbeobachtungen und thematischen Fundstücken. Von besonderem Interesse für den deutschen Leser ist vielleicht die von Alan Forrest in seiner Schlussbetrachtung angeregte Frage, ob sich für die Zeit von 1792 bis 1815 von einer »Militarisierung« der französischen Gesellschaft sprechen lasse. Die Befunde des Bandes gestatten darauf keine ein- deutige Antwort; denn wenn auch das Prestige des Militärs insgesamt gestiegen zu sein scheint, waren die Reaktionen der Gesellschaft auf die wachsenden Kriegs- anstrengungen doch sehr gemischt. Dasselbe gilt für die spätere Rezeption der na- poleonischen Ära, wie sie etliche Beiträge am Beispiel der französischen Historio- grafie und Museologie der Restauration, des Zweiten Kaiserreiches und der

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Dritten Republik rekonstruieren und die alles andere als einhellig war. Ein Ver- gleich mit Gedächtnispflege und Instrumentalisierung der »Befreiungskriege« etwa im wilhelminischen Deutschland würde lohnen.

Andreas R. Hofmann

Antonio Carrasco Álvarez, La guerra interminable. Claves de la guerra de guerrillas en España 1808–1814, Astorga: CSED 2013, 329 S., EUR 20,00 [ISBN 978-84-941033-7-7]

Der Spanische Unabhängigkeitskrieg von 1808 bis 1814 gilt als Ursprung der Gue- rilla. Nach wie vor folgen dabei die Interpretationsansätze national definierten Be- wertungslinien. Insbesondere die Studien von Charles Esdaile haben den Krieg der Guerilla in der Grauzone zum schlichten Banditentum dargestellt (Charles Es- daile, Fighting Napoleon. Guerillas, Bandits and Adventurers in Spain 1808–1814, New Haven, CT 2004). Dagegen betont die spanische Historiografie den kriegsent- scheidenden Beitrag der »patriotischen« Bevölkerung, wenngleich die Vielzahl spanischer Publikationen um das Gedenkjahr 2008 alte Mythen zurechtgerückt hat. Mit seinem Unternehmen, die »Schlüssel für den endlosen Krieg« der Guerilla aufzuzeigen, beschreitet Antonio Carrasco Álvarez also kein Neuland.

Verdienstvollerweise widmet sich der Autor zunächst der Semantikanalyse, in- dem er die unterschiedlichen Ebenen von (para)militärischer Organisation, Tak- tik, Strategie und Politik analysiert. Die Bezeichnung »guerrilla« bedeutete im 18. Jahrhundert und noch zu Anfang des spanischen Krieges diejenige Kampfform, die als »kleiner Krieg« von einschlägigen Militärtraktaten ausgebreitet wurde: den Einsatz regulärer Soldaten im Rahmen selbstständiger »Parteien« (spanisch: par- tidas). Die semantische Verschiebung im Verlauf des Krieges führte zu einem paral- lelen Gebrauch zweier Begrifflichkeiten von Guerilla: erstens als Parteigängerkrieg (kleiner Krieg = guerrilla) regulärer Truppen, zweitens als irregulärer Kampf. Diese letztere Begrifflichkeit firmierte indessen erst ab dem Jahr 1809 unter dem Begriff

»guerrilla« (S. 46–49). Auch das 18. Jahrhundert kannte Beispiele für irreguläre Aufstände, die vom Militär brutal niedergeschlagen wurden; so im spanisch-fran- zösischen Konventionskrieg von 1793 bis 1795, so gleichzeitig in der französischen Vendée (S. 42 f., 62–66). Gezielten Terror zur Aufstandsniederschlagung forderte dezidiert auch Napoleon. Entsprechend begegneten die französischen Truppen dem Madrider Aufstand am 2. Mai 1808 mit der gängigen und andernorts erfolg- reichen Methode: mit gnadenloser Repression.

Die antinapoleonischen Patrioten Spaniens beabsichtigten anfangs keine irre- guläre Kriegführung. Vielmehr versuchten sie, die französischen Truppen in of- fener Schlacht zu besiegen – triumphal bei Bailén im Juli 1808, sonst mit meist ka- tastrophalem Ergebnis. Die Guerilla-Konzeption war ein letzter Ausweg, nachdem die regulären spanischen Truppen weitgehend zerschlagen waren. Gleichzeitig hatten sich erste spontane Widerstandsaktionen teils in chaotischen Bahnen be- wegt. Die Juntas – die Regierungsgremien, die im Namen des abgesetzten Monar- chen Ferdinand VII. zum Kampf aufriefen – verfolgten mit ihren Aufrufen zur Bil- dung von Milizverbänden die Absicht, die irregulären Kämpfer als rechtmäßig zu legitimieren. Gleichzeitig strebten sie danach, das Chaos in den Griff zu bekommen.

Dabei war das vordergründig befremdliche Zusammengehen von Patriotismus und Habsucht als Motivation für die Kämpfenden kein Gegensatz. Schließlich gin-

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gen im Ancien Régime Patronagenetzwerke, Gewinnstreben mit Karrierechancen in Staat und Heer und sozialem Aufstieg Hand in Hand (S. 89 f.). In dieser Linie stand die Erhebung von lokalen Notablen und ihrem bewaffneten Gefolge zu re- gulären Milizformationen sowie die Legitimierung von Schmugglerbanden zu rechtmäßigen Kämpfern. Die patriotischen Juntas kombinierten die bekannte Tak- tik des kleinen Krieges mit politischen Konzepten. Die Regulierungsabsicht zeigt die Tätigkeit von Comisionados de guerrillas, Offizieren also, die zur Koordina- tion des Guerillaeinsatzes in den Jahren 1810/11 eingesetzt waren. Auch stellten die Juntas formal Offizierpatente für Guerillaführer und Passporte für ihre Kämp- fer aus. Diese Regulierung sollte einen Mindestschutz für Kriegsgefangene gewäh- ren; mit durchwachsenem Erfolg, wie der Autor anhand zahlreicher archivge- stützter Einzelbeispiele zeigt.

Die Guerrilla zwang alle Seiten zu Kompromissen, die unter anderen Umstän- den nicht toleriert worden wären (S. 173). Ihre größten Erfolge verbuchten die Gue- rillaverbände just zu der Zeit, als die Halbinsel infolge der französischen Beset- zung Andalusiens nahezu komplett unter dem – formalen – Einfluss Napoleons und seines Bruders, des spanischen Königs Joseph I. gefallen war. Die Ausdeh- nung des Krieges aber führte dazu, dass Spanien für Napoleon zu einem ökono- misch-logistischen Zuschussgeschäft wurde. Durch die Ausbeutung des Landes verwandelte sich Spanien in einen gescheiterten Staat. Die beiderseits infrage ge- stellte Legitimität der Kämpfenden – Franzosen galten den Spaniern als »bandi- dos«; Spanier den Franzosen als »brigants« – machte den Terror zum gewollten Mittel der Kriegführung.

Ungeachtet der politisch-semantischen Transformationen bestanden alte Wur- zeln von Konfliktform und Gewaltorganisation fort. Die Basis für die Führungs- rolle der Guerillaführer ergab sich oft aus Netzwerken von Verwandtschaft und Klientelbeziehungen (S. 270). Trotz der »regularización de la guerrilla« – also der Transformation der Guerillaverbände zu konzeptionell militarisierten Verbänden (»fuerzas teóricamente militarizadas«) – blieb Vetternwirtschaft innerhalb der »fa- milia militar« oft systemstabilisierend (S. 270–274). Anders als die patriotische oder rein militärisch-taktisch argumentierende klassische Historiografie begreift Car- rasco Álvarez die Gewaltökonomie als logistisch und motivatorisch entscheidenden Faktor (S. 278). Gleitende Übergänge bestanden indessen in alle Richtungen: Gue- rilleros konnten als klassische Milizen auftreten (wie die katalanischen Somaténes oder die Alarmas in Galicien), sich zu regulären Soldaten wandeln oder aber zu Banditen – und umgekehrt (S. 291).

Sehr zur Enttäuschung von Karl Marx (1854) waren die real existierenden Gue- rillaverbände nicht am revolutionären Befreiungskrieg per se interessiert. Anders als von der Sichtweise vom »revolutionären Krieg« impliziert, war den Guerilla- führern nicht an einer Zerstörung des sozioökonomischen Systems des Ancien Ré- gime gelegen; vielmehr trachteten sie nach Partizipation und sozialem Aufstieg als gerechtem Lohn für ihren Kriegseinsatz. Erst als die absolutistische Restauration diese Ansprüche hintanstellte, kämpften einige vormalige Guerillaführer in den folgenden Bürgerkriegen für die liberale Bewegung (S. 299).

Der Krieg der Guerilla war nicht allein kriegsentscheidend. Doch verhinderte die spanische Guerilla, dass sich die französischen Kräfte auf ihr hocheffizientes Militärsystem stützen konnten, das auf funktionierender administrativer, wirt- schaftlicher und verkehrstechnischer Infrastruktur beruhte. Diese komplexen Ver- schiebungen zum Neuen unter Anlehnung an das Alte zeigt Antonio Carrasco Ál-

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varez überzeugend: aktengestützt, ausgewogen und mit präziser Begrifflichkeit.

Seine Studie hätte eine Verbreitung auch jenseits der Originalsprache verdient.

Martin Rink

Stéphane Calvet, Leipzig, 1813. La guerre des peuples. Préf. de Jacques-Oli- vier Boudon, Paris: Vendémiaire 2013, 318 S., EUR 19,66 [ISBN 978-2-36358- 066-5]

Es gibt Nationen, für die katastrophale militärische Niederlagen zentral für ihre historische Identität sind. Die Franzosen werden nicht dazu gezählt; vielmehr pflege man westlich des Rheins exklusiv das Gedächtnis an Austerlitz und Wa- gram und vergesse darüber völlig Leipzig und Waterloo. So behauptet es hierzu- lande das nationale Stereotyp. Dass dies nicht ganz stimmt und man auch in Frank- reich die Völkerschlacht als nationalen wie gesamteuropäischen Erinnerungsort kennt, machte unlängst eine ganze Anzahl von Büchern über die Feldzüge von 1813 und die Leipziger Schlacht deutlich, die aus Anlass ihres 200. Jahrestages er- schienen, darunter die hier vorzustellende Monografie von Stéphane Calvet. Schon für Adolphe Thiers war Leipzig »la plus grande bataille de tous les siècles« (zit.

S. 15), ein Prädikat, das die Völkerschlacht nach verschiedenen Kriterien bis 1914 nicht abzutreten brauchte und unter manchen Gesichtspunkten bis heute ver- dient.

Calvet wählt für seine Darstellung den von John Keegan (The Face of Battle, 1976) begründeten und in Frankreich besonders von Natalie Petiteau aufgegrif- fenen »anthropologischen« Ansatz der Militärgeschichte, der die Wahrnehmung des Kriegsgeschehens durch die Soldaten in den Mittelpunkt stellt (S. 16 f.). Für ihn steht Leipzig am Beginn einer »guerre totale« (S. 17 f., 188 f.), des modernen Krieges im eigentlichen Sinne. Dafür sieht er Belege in der seit Wagram (1809) zu- nehmenden Intensität des Artillerieeinsatzes, in den immer umfangreicheren Mas- senmobilisationen, in der wachsenden Zahl von großen Schlachten, die keine stra- tegische Entscheidung herbeiführten, schließlich in den steigenden relativen Verlusten beider Seiten, worin Leipzig während der Napoleonischen Kriege nur von Borodino (1812) übertroffen wurde. Nach Calvets Schätzung kosteten die bei- den Feldzüge des Jahres 1813 in Sachsen etwa 400 000 Menschen das Leben; allein die Zahl der Verwundeten und Toten bei Leipzig belief sich auf 130 000, d.h. ein gutes Viertel aller an der Völkerschlacht beteiligten Soldaten (S. 18). Auch konsta- tiert Calvet eine zunehmende Ideologisierung des Krieges, durch die der Hass auf den Feind zur wichtigsten Motivation der Kämpfer geworden sei und die zu einer wesentlichen Brutalisierung im Verhältnis zwischen Kombattanten und Nichtkom- battanten geführt habe (S. 17 f., 235).

Die gewaltigen Verluste an Soldaten und Pferden im Russlandfeldzug von 1812 zwangen Napoleon beim Wiederaufbau der Armee zu einer Reihe von Improvisa- tionen. Calvet widerspricht allerdings der landläufigen Auffassung, dass die Grande Armée bei Leipzig zu einem Großteil aus kaum volljährigen »Marie-Lou- isen« bestanden habe (die unter der Regentschaft der Kaiserin mobilisierten Re- kruten wurden im Übrigen erst ab Oktober 1813 eingezogen). Calvet bezieht seine Daten vor allem aus einer Mikrostudie über das 86. und das 93. Linieninfanterie- regiment, die sich beide in der südwestfranzösischen Charente rekrutierten: Dem- nach waren 1813 etwa zwei Drittel der einfachen Mannschaften älter als 23; in eini-

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gen Einheiten lag das Durchschnittsalter sogar bei knapp über 25; denn die Rekruten waren vor allem vom Wehrdienst Zurückgestellte der Klassen 1809 bis 1812 (S. 66). Etwa 18 Prozent der Grande Armée bei Leipzig stammte daneben aus den verbündeten Staaten Sachsen, Württemberg, Neapel, Illyrien, Spanien und dem Großherzogtum Warschau (S. 67 f.).

Viel gravierender als das zu jugendliche Alter waren schwere Mängel an Aus- bildung und Erfahrung. Die normalerweise halbjährige Vorbereitung der Infante- rierekruten wurde auf einen Monat am Depot verkürzt; sie wurden weiter gedrillt, während sie sich bereits auf dem Marsch in das Kriegsgebiet befanden. Bei den Mannschaften gab es nur eine Minderheit mit Feldzugserfahrung von vor 1813;

mindestens eine Division (die 16.) bestand noch im Oktober aus völlig kampfuner- probten Soldaten (S. 69 f.). Die neuen Einheiten erreichten den Kriegsschauplatz bereits stark dezimiert. Ein geringerer Anteil war desertiert oder in andere Ein- heiten versetzt worden; die meisten Verluste wurden als »disparus après hospita- lisation« oder »morts de maladie« geführt. Die Feldspitäler waren wegen ihrer ho- hen Todesrate berüchtigt und wurden deshalb selbst von Schwerkranken möglichst gemieden. Die Todesursache wurde meist pauschal als »fièvre« bezeichnet, war aber wohl meist Typhus (S. 78). Eine unter den zeitgenössischen Medizinern all- gemein anerkannte Diagnose war die »nostalgie«, eine auf die plötzliche, für viele überhaupt erstmalige Trennung von Familie und Heimatort zurückgeführte »dé- pression nerveuse aigüe«. Von den 862 Rekruten aus Calvets Sample, die zwischen November 1812 und März 1813 in der Charente eingezogen wurden, waren tat- sächlich bereits acht Prozent in den ersten Wochen nach der Einberufung verstor- ben (S. 72 f.).

Die langen Marschetappen waren für die Rekruten besonders qualvoll. Unter 30 kg Gepäck erreichten sie die Feldbiwaks mit zerschundenen Füßen. Die weni- gen Stunden der Nachtruhe wurden durch Exerzieren, Abkochen, Fouragier- und Wachdienste weiter verkürzt; das stürmische und regnerische Herbstwetter trug das Seinige zu Erschöpfung und Krankenstand bei. Dennoch macht Calvet in ers- ter Linie die mangelhafte Organisation des französischen Nachschubwesens für die schweren Verluste noch vor dem ersten Kampfeinsatz verantwortlich. Unifor- men und Ausrüstung verschlissen rasch und konnten nicht ersetzt werden. In den Tagen vor Leipzig beobachteten Augenzeugen französische Versprengte, die sich barfuß durch den Schlamm bewegten und seit zehn Tagen keine Brotration mehr empfangen hatten. Die Zahl der Marodeure, die sich absichtlich von der Truppe absetzten oder einfach nicht mehr mit dem Marschtempo mithalten konnten, wuchs täglich.

Der operationsgeschichtliche Verlauf der Völkerschlacht und der beiden voran- gehenden Feldzüge in Sachsen wird von Calvet in knappen Strichen skizziert. Was seine Darstellung aus der einschlägigen Literatur besonders positiv hervorhebt, ist seine Fähigkeit, die Geschehnisse aus der Sicht der Augenzeugen anschaulich wer- den zu lassen und mit den aus seiner Mikrostudie gewonnenen Daten die quanti- tativen Dimensionen aufzuzeigen. Für die einfachen Soldaten und die zivilen Zeit- zeugen war die Schlacht in erster Linie ein furchteinflößendes, alle Sinne überwältigendes und in seiner Gesamtheit völlig unverständlich bleibendes Ge- schehen. Nur so lässt es sich erklären, dass sich bis zum Schluss die unwahrschein- lichsten Gerüchte halten konnten und vielen Soldaten der Grande Armée erst beim Rückzug durch Leipzig das wahre Ausmaß der Niederlage klar wurde. Dieser Rückzug war, so Calvet, von dem kriegsgeschichtlich ersten regelrechten, äußerst

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verbissen geführten Häuserkampf innerhalb einer großen geschlossenen Bebau- ung begleitet (S. 191).

Ein weiteres von Calvet untersuchtes Sample von 300 verwundeten Offizieren (d.h. zehn Prozent der französischen Offiziere, die während der Schlacht in die Feldspitäler eingeliefert wurden) zeigt, dass die überwiegende Zahl der Verwun- dungen durch Geschosse verursacht waren, während Blankwaffenverletzungen in der Minderzahl waren – ein Beleg dafür, dass Handgemenge und Bajonettkampf Ausnahmen darstellten; nur bei der Kavallerie war der Anteil der Hieb- und Stich- verwundungen erwartungsgemäß größer (S. 192). Bei Larreys Feldambulanz sta- pelten sich an den Tagen der Schlacht die amputierten Arme und Beine manns- hoch (nach einer Überlieferung ernährten sich manche Verwundete in ihrer Verzweiflung später von abgetrennten menschlichen Gliedmaßen, S. 202, 234 f.).

Militär- und Zivilbehörden wurden des Elends nicht Herr. In Leipzig dauerte al- lein die Bestattung der Toten in Massengräbern bis zum Martinstag (11. Novem- ber); unterdessen lösten die katastrophalen hygienischen Verhältnisse in der Stadt eine Typhusepidemie aus. Der Typhus soll auch in den verbliebenen französischen Festungen in Deutschland bis Mai 1814 weiteren 150 000 Menschen das Leben ge- kostet haben (S. 229).

Wer einen Ausgleich für die Übermacht der deutschsprachigen Quellen und Literatur zur Völkerschlacht und den Befreiungskriegen sucht und sich dafür in- teressiert, wie sich die Napoleonischen Kriege abseits von Heldenpathos und Ver- klärung aus der Sicht ihrer Teilnehmer tatsächlich darstellten, dem sei die Lektüre dieses gut recherchierten und spannend geschriebenen Buches empfohlen.

Andreas R. Hofmann

Helmut Stubbe da Luz, Okkupanten und Okkupierte. Napoleons Statthalter- regimes in den Hansestädten. Darstellungen und Dokumente, 2 Teilbde, München [u.a.]: Meidenbauer 2010, 470+667 S. (= Minden in der Napoleon- zeit, 5+6), EUR 99,90 [ISBN 978-3-89975-223-6]

Geschichtswissenschaftliche Praxis entbehrt oft geeigneter theoretischer Grundla- gen, um historische Phänomene epochenübergreifend zu erfassen. Nicht von un- gefähr rechnete Lynn Hunt Historiker zu jenen Gesellschaftswissenschaftlern, de- ren Theoriefeindlichkeit von anderen Geistesarbeitern kaum zu übertreffen sei.

Geschichtstheorie und Geschichtsphilospophie sind geradezu selbstständige, von der historiografischen Praxis abgekoppelte Wissenschaftszweige. Ihre Vertreter messen Archivalien eher geringe Bedeutung bei. Somit ist eine Arbeit, die versucht ein theoretisches Instrument zur Interpretation weitreichender historischer Zu- sammenhänge zu entwickeln, ebenso selten wie wertvoll. Der Glaube an die Ein- zigartigkeit historischer Vorgänge versperrt bisweilen den Blick auf größere Zu- sammenhänge und lässt so durchaus Zweifel an der Wissenschaftlichkeit von Geschichte zu.

Helmuth Stubbe da Luz hat vor fünfzehn Jahren erste Beiträge für ein Konzept zur systematischen Aufarbeitung von Besatzungsherrschaft entwickelt. Dieses »so- zialhistorische Okkupations-Modell« formte er im Zuge mehrerer Aufsätze und einer beachtlichen, vier (ursprünglich drei) Bände umfassenden Habilitations- schrift aus. Deren Lektüre bleibt bei aller ihr widerfahrenen Kritik durchaus loh- nend. Sie erschien in den Jahren 2004–2006. Nun liegen zwei weitere Bände des

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opulenten Werkes vor, die sich der napoleonischen Okkupation Mindens widmen und eine Vielzahl interessanter Quellen bieten. Konsequent wendet Stubbe da Luz sein Modell bei der Anordnung und Kommentierung der von ihm ausgewählten Dokumente an.

In den Jahren 1803/6–1814 waren große Teile Nordwestdeutschlands nach er- folgter Annexion dem französischen Staatskörper angegliedert und in die franzö- sische Verwaltungspraxis eingebunden worden. Zu den umfassenden territorialen Erweiterungen der französischen Hemisphäre gehörte auch Minden. Zunächst wurde die Stadt 1806 nach ihrer Besetzung Hauptort des »Zweiten Gouverne- ments« und unterstand dem Divisionsgeneral Jacques Nicolas Gobert. Bereits 1807 wurden Stadt und Umland in das »Departement Weser« innerhalb des von Napo- leons Bruder Jerome regierten Königreiches Westfalen eingegliedert. In den Jah- ren 1810/11 konnte sich jener Satellitenstaat einerseits neue Gebiete einverleiben, andererseits verlor er einen erheblichen Teil des Weserdepartment an Frankreich.

Zu jenen Kommunen und Gebieten, die nun in die französischen Verwaltungs- strukturen integriert wurden, zählte auch Minden. Ab 1810 zum »Department Ober- ems« gehörend, bildete es 1811–1813 den Sitz des gleichnamigen Arrondisse- ments.

Stubbe da Luz legte in seinen früheren Publikationen drei »Okkupationsmo- dellvarianten« dar, die Disziplinierungs-/Eliminierungs-, die expansionistische und die Subsidiär-Okkupation.

Innerhalb der »expansionistischen Okkupation« lassen sich weitere Teilkatego- rien abgrenzen. Hierzu zählt die »Annektions-Okkupation«, von der Stubbe da Luz einst schrieb, der Staat H werde »sofort oder nach einer gewissen Zeit in F ein- verleibt und seine Bevölkerung wird bis zu ihrer Assimilierung einem diskrimi- nierenden Sonderstatus formeller oder informeller Art unterworfen«. Mindens Be- setzung rechnet Stubbe da Luz zu eben jener Kategorie. Die Annexions-Okkupation der Stadt gliederte sich in eine »Präokkupationale Phase« sowie in die darauf fol- genden Statthalterregime. Beachtung finden gleichfalls die Jahre 1813–1820 als

»Postokkupationale Phase«.

Bilden die kommentierten Quellen auch den Schwerpunkt der neuen Publika- tion von Stubbe da Luz, so nutzt der Sozialwissenschaftler einleitend die Gelegen- heit, seiner Vorliebe für theoretische Erörterungen Ausdruck zu geben. Anders je- doch, als in den ersten vier Bänden erscheint dieser Versuch misslungen. Angesichts der Tatsache, dass der Ausgangspunkt seiner Überlegungen über die Rolle von Städten in der Weltgeschichte eigentlich ein spannendes Unterfangen ist, sind die dargebotenen Ansätze eher dürftig. So werden die »Merkmale einer Stadt als In- dizien für die Bestimmung ihrer Bedeutung in der Geschichte des Weltsystems – in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft« – angelehnt an systemtheoretische Er- wägungen präsentiert.

Stubbe da Luz unterscheidet drei Hauptmerkmale: 1. die »Erstgradigen Res- sourcen« wie Klima, Fruchtbarkeit, Bodenschätze; 2. Relationen wie z.B. die Zu- gehörigkeit zu »Suprasystemen« und schließlich 3. »Prädikate«. Einen »weltge- schichtlichen Rang« könne einer Stadt zukommen, »wenn Modelloriginale bestimmter Ereignisse an diesem Ort zu unterschiedlichen Zeiten wiederholt auf- getreten sind und mit unterschiedlichen Standortfaktoren, insonderheit Pullfak- toren, kausal in Zusammenhang gebracht werden können«.

Stubbe da Luz, der sich zu derartig abgehobenen Bemerkungen noch des Öf- teren im Rahmen des Werkes versteigt, erwähnt nicht, warum es überhaupt sinn-

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voll sein sollte, die Rolle einer »Stadt im Weltsystem« zu hinterfragen. Warum nun einer Stadt weltgeschichtliche Bedeutung zukommen sollte, nur weil zwei Staaten (Frankreich und Hannover) sie bisweilen als strategisches Einfallstor betrachteten, verschließt sich dem Rezensenten. Besonders fraglich sind die zum dritten Haupt- merkmal erhobenen »Prädikate«. Stubbe da Luz versteht hierunter beispielsweise, wie oft ein System von anderen genannt wurde, oder wie hoch die Besucherzah- len waren, die eine Kommune verzeichnen konnte. Dies jedoch sind Fragen, deren Klärung der Umfang und die Unvollständigkeit der überlieferten Akten verbieten dürfte. Bezüglich der Stellung seines Untersuchungsgegenstandes teilt Stubbe mit,

»langfristig wirksam [sei] Mindens Zugehörigkeit zu bestimmten Suprasystemen [gewesen], vor allem der Nexus zum preußischen Staatswesen«. Auch wenn Stubbe da Luz die konkreten historischen Umstände beleuchtet, sind die Ausführungen teilweise nur schwer nachvollziehbar. So sei den »beiden weltpolitischen Super- mächten, den Staaten Frankreichs und Englands«, bewusst gewesen, »dass es sich bei den Revolutions- und Napoleonischen Kriegen um einen Höhepunkt des Zwei- ten Hundertjährigen Krieges (1714–1814) handelte« (S. 54). Wie können agierende Mächte ein Phänomen wahrnehmen, dessen Existenz Historiker erst 200 Jahre spä- ter postulieren? Angesichts dieser und einiger weiterer Ungereimtheiten ist es emp- fehlenswert, die einleitenden, systemtheoretischen Bemerkungen zu überblättern und den gelungen strukturierten und sachlich kommentierten Quellen- und Dar- stellungsteil eingehender Aufmerksamkeit zu widmen.

Hier bietet der 1. Band (Band 5 des Gesamtwerkes) nach einer Einführung einen Überblick über die lokalhistorische und überregionale Forschung bezüglich Min- dens. Ihr folgt die Biografie des Mindener Unterpräfekten Bouthillier-Chavigny, der in den Jahren 1811–1813 in der Stadt wirkte. Sodann wird die Franzosenzeit Mindens umfassend beleuchtet. Dies geschieht auch durch umfangreiche Ein- schübe von Darstellungen älterer Autoren.

Die Quellen im 2. Band (6. Band des Gesamtwerkes) sind chronologisch ange- ordnet. Für den sachsystematischen Zugriff steht ein umfassendes Schlagwortver- zeichnis zur Verfügung. Die Auswahl der Dokumente orientiert sich vor allem an der zentral- und regionalstaatlichen Administration. Hierzu zählen Schriftstücke zur Schaffung eines einheitlichen Währungsraumes, zur Strafgefangenenbehand- lung, zur Wirtschafts- und Zollpolitik. Straßenbeleuchtung, Salzversorgung, Ver- kehrswegeausbau, Verbot alter Symbole und Flaggen – viele Funktionen öffent- licher Verwaltung werden durch die getroffene Auswahl anschaulich präsentiert.

Gleichwohl bietet der 2. Band auch zahlreiche militärhistorisch relevante Überlie- ferungen. Hierzu dürfen auch die Erlasse und Briefe zur Errichtung der kaiser- lichen Gendarmerie gezählt werden. In Minden wurde eine aus 30 Mann beste- hende Abteilung der 34. Gendarmerielegion (Stab Hamburg) eingerichtet. Sie diente sowohl der Aufrechterhaltung der inneren Ordnung als auch sekundär-mi- litärischen Zwecken, wie der Umsetzung aller mit der Kontinentalsperre zusam- menhängenden Erlasse. Minden war, wie die anderen, Frankreich einverleibten Territorien auch, Rekrutierungsgebiet der Grande Armée. Zur Konskriptionspra- xis und zum Umgang mit Fahnenflüchtigen (da Luz nennt sie fälschlich »Kriegs- dienstverweigerer«) ist der vorliegende Band aussagekräftig.

Abgesehen von den bereits erwähnten inhaltlichen Schwächen, hätte den bei- den Bänden ein gründliches Lektorat gut getan. Da fehlen Aufzählungen im Kern- modell (2.2 in der Tabelle I, S. 32 f.), da ist von französischer Okkupation im De- zember 1819 (S. 138) die Rede und die Anzahl der Rechtschreibfehler übersteigt

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das gewöhnliche Maß deutlich. Die umfassende Quellenauswahl bleibt dennoch verdienstvoll.

Martin Meier

Gerhard von Scharnhorst. Private und dienstliche Schriften, Bd 7: Organisa- tor, Ingenieur, Geheimdiplomat (Preußen 1811–1812). Hrsg. von Johannes Kunisch in Verb. mit Michael Sikora. Bearb. von Tilman Stieve, Köln [u.a.]:

Böhlau 2014, XXIII, 904 S. (= Veröffentlichungen aus den Archiven Preußi- scher Kulturbesitz, 52,7), EUR 99,00 [ISBN 978-3-412-21099-1]

Der 7. (vorletzte) Band der vorliegenden Scharnhorst-Edition umfasst die Zeit- spanne zwischen März 1811 und Ende Dezember 1812. Er zeichnet Scharnhorsts Tätigkeit als Reformer des preußischen Heeres, Erneuerer des Ingenieurkorps und Diplomat in geheimen politischen Missionen nach. Die entscheidenden politischen Ereignisse in diesem Zeitraum waren der Militärvertrag zwischen Frankreich und Preußen vom 24. Februar 1812, in dem sich Preußen verpflichtete, die französische Armee mit 20 000 Mann zu unterstützen und ihr freien Durchgang zu gewähren, sowie der Russlandfeldzug Napoleons, der mit dem Aufmarsch der Grande Armée zwischen Mai und Juni 1812 begann.

Der Band selbst gliedert sich in zwei Teile: Der erste umfasst die Zeit zwischen März 1811 und März 1812 und enthält 392 Stücke, der zweite mit 141 Stücken die Zeit zwischen April und Dezember 1812. Der erste Teil dokumentiert zunächst die Privatbriefe und Aufzeichnungen über verschiedene Dienstgeschäfte sowie die außen- und bündnispolitischen Denkschriften, einschließlich der Aufzeichnungen, die sich mit Russland beschäftigen, ferner diejenigen Schriftstücke, die mit Scharn- horsts Wiener Mission im Dezember 1811 zusammenhängen, und schließlich wei- tere nicht genau datierbare Zeugnisse.

Der zweite Teil führt diese Gliederung fort: Auch hier stehen die Privatbriefe sowie Angaben über Dienstgeschäfte am Anfang; es folgen die Briefe an Friede- rike Hensel sowie Berichte von den Schlachtfeldern der Schlesischen Kriege und Arbeiten zur Kriegsgeschichte und Militärtheorie. Wie im ersten Teil werden zum Schluss nicht genau datierbare Materialien zusammengefasst.

Der Anhang enthält – wie bei den Vorgängerbänden – eine Zusammenstellung der Lebensläufe wichtiger Personen im Umkreis von Scharnhorst, eine Erläuterung militärischer und ziviler Fachbegriffe und einen thematischen Wegweiser zu den Stücken, darüber hinaus einen Personen- und Formationsindex, einen Ortsindex sowie ein Stückeverzeichnis. Besonders erwähnenswert ist wiederum die vorzüg- liche Kommentierung der einzelnen Dokumente durch Tilman Stieve.

Während des Jahres 1811 setzte sich Scharnhorst in Denkschriften und Ge- sprächen gegenüber König Friedrich Wilhelm III. und Staatskanzler von Harden- berg mehrfach für ein antinapoleonisches Bündnis ein. Dessen Eckpfeiler sollten Russland und Großbritannien bilden, wobei eine Erweiterung durch Österreich angestrebt wurde. In diesen Kontext gehören auch seine hier dokumentierten ge- heimen Reisen nach St. Petersburg und nach Wien. Allerdings endeten diese Ver- handlungen ergebnislos und Scharnhorst musste einsehen, dass das Projekt einer Allianz gegen Napoleon zu diesem Zeitpunkt nicht realisiert werden konnte – im Gegenteil: Es kam zum Militärvertrag zwischen Frankreich und Preußen.

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Die erzwungene Annäherung an Frankreich hatte für Scharnhorst zur Folge, dass er weiterhin an Einfluss verlor, was sich auch darin ausdrückte, dass die be- sonderen Bestimmungen über das Verhältnis zwischen ihm und seinem Nachfol- ger von Hake durch den König suspendiert wurden – übrigens ohne sein Wissen.

Insgesamt geriet Scharnhorst immer mehr ins Abseits, woraus er die Konsequenz zog, die meisten seiner militärischen Ämter niederzulegen und sich nach Schlesien zurückzuziehen. Hinzu kam, dass er sich Angriffen ausgesetzt sah, die seine poli- tische Integrität infrage stellten, indem sie ihn mit dem sogenannten Tugendbund in Verbindung brachten, einer Vereinigung, die in der Öffentlichkeit als gefähr- liche verschwörerische Organisation angesehen wurde. Scharnhorst hatte diesem Zusammenschluss von Offizieren und bürgerlichen Honoratioren, welche die Be- freiung Preußens von der französischen Fremdherrschaft anstrebten, zwar nie an- gehört, dennoch schadete ihm diese Diffamierung erheblich.

In Schlesien konzentrierte sich Scharnhorst auf die ihm verbliebenen Aufgaben als Inspekteur der Festungen und Leiter der Rüstungsbetriebe. Jedoch war er weit- gehend zur Untätigkeit verurteilt, sodass er dem König schrieb: »[I]ch bin hier ohne alle Beschäftigung, welche auf irgendeine Art Nutzen haben könnte« (S. 605). Da- her nahm er seine Arbeit am »Handbuch der Artillerie« wieder auf und unterrich- tete daneben an der Kriegsschule für Portepee-Fähnriche in Breslau. Zudem bereiste er verschiedene Schlachtfelder des Siebenjährigen Krieges, wobei sich seine Erkun- dungen an dem von ihm selbst im Rahmen der Generalstabsausbildung entwi- ckelten Verfahren der historisch angelegten Geländeaufnahme orientierten. Auf- fällig ist, dass sich in den Zeugnissen aus dieser Zeit lediglich sporadische Noti- zen über das gleichzeitige Kriegsgeschehen in Russland finden.

Persönlich brachte der Aufenthalt in Schlesien für ihn die Begegnung mit Frie- derike Hensel. Scharnhorst lernte sie bei einem Besuch im Hause seiner Tochter Julia in Kudowa kennen, wo sie als Kindermädchen angestellt war. Zu ihr fasste der 56-Jährige eine tiefe Zuneigung, die von der jungen Frau – Friederike war da- mals 22 Jahre alt – in gleichem Maße erwidert wurde. Wenngleich die Standesun- terschiede und die dadurch bedingte Geheimhaltung ihrer Beziehung zu vielfa- chen Problemen und Komplikationen führten, war Scharnhorst dennoch fest entschlossen, Friederike Hensel zu heiraten, sobald die Verhältnisse ihm dies er- laubten. Wie viel ihm die Beziehung zu dieser Frau bedeutete und wie sehr er an ihr hing, geht aus den zahlreichen Briefen hervor, die er in den knapp eineinhalb Jahren ihres Zusammenseins an sie richtete und die in diesem Band (bis Ende 1812) erstmals dokumentiert werden.

Die Besonderheit ihres Verhältnisses kommt in der Haltung des Briefschreibers prägnant zum Ausdruck. Sie oszilliert zwischen väterlicher Zuneigung und einer begehrenden, zugleich aber schüchternen, weil im Grunde ängstlichen Liebe. Dem entsprach auch Scharnhorsts offizielles Verhalten: Einerseits adoptierte er Friede- rike und gab ihr bei dieser Gelegenheit den Namen Auguste, andererseits verlobte er sich mit ihr. Wie es in dieser Zeit um ihn stand, geht aus den folgenden Zeilen an einen Freund, den Major von Thiele, hervor: »Die Liebe, ich schäme mich nicht, es Ihnen zu gestehen, kann mich noch aufs Innerste erschüttern, aber auch sie hat von frühester Jugend an mich immer durch zu tiefe Eindrücke verwundet, immer forderte ich zu viel, und leistete man alles, was ich forderte, so wurde ich ängst- lich und das hohe Interesse verlor sich« (S. 600).

Genau diese Ambivalenz von Begehren und Furcht vor Zurückweisung be- stimmt den Briefwechsel, in dem Scharnhorst von der jungen Frau unbedingte Hin-

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gabe fordert, sie zugleich in ihrem Umgang einschränkt und jede Abweichung von seinen Ansprüchen als Verrat an ihrer Liebe interpretiert. Alles in allem sind diese Briefe Zeugnisse eines einsamen Mannes, der im Alter auf einen Menschen trifft, dem er sich möglichst uneingeschränkt hingeben möchte. Sie zeigen, mehr noch als die Briefe an die Tochter, den Menschen Scharnhorst.

Mit dem vorliegenden 7. Band geht die von Johannes Kunisch und Michael Sikora herausgegebene und von Tilman Stieve bearbeitete Scharnhorst-Edition ge- wissermaßen in die Zielgerade – es fehlen noch die Zeugnisse aus dem Jahr 1813 sowie die Ergänzungen und Nachträge zum Gesamtwerk der Korrespondenz. Sie sind für den abschließenden 8. Band vorgesehen, der in absehbarer Zeit publiziert werden soll.

Heinz Stübig

M.K.H. Crumplin, The Bloody Fields of Waterloo. Medical Support at Wellington‘s Greatest Battle, Huntingdon: Ken Trotman 2013, 272 S., £ 39.50 [ISBN 978-1-907417-41-2]

Waterloo ist vermutlich diejenige historische Feldschlacht, über die mit Abstand die größte Anzahl von Büchern produziert wurde. Mit dem zweihundertsten Jahres- tag dürfte dieser Publikationsflut noch mancher Titel über ein Ereignis hinzuge- fügt werden, das sich ungebrochener Popularität in der Militärgeschichte, beson- ders aber bei Amateurhistorikern aller Spielarten erfreut. Weil jedoch Verwundung und Tod im Krieg selbst in der professionellen Geschichtsschreibung häufig an den Rand gedrängt werden, ist es dennoch nicht überraschend, dass dieser Aspekt auch für Waterloo bisher wenig beleuchtet wurde.

Als ehemaliger Chirurg und aktiver Militärhistoriker mit langer Rechercheer- fahrung bringt Michael Crumplin die idealen Qualifikationen mit, diese Lücke zu schließen. In vielerlei Hinsicht hat er ein typisch britisches Waterloo-Buch vorge- legt: Vom Untertitel bis zum Namensindex macht er keinen Hehl aus seinem Anglo- zentrismus. Weder die französische Armee noch die niederländischen, deutschen oder preußischen Verbündeten spielen eine Rolle, denn dieses Buch handelt aus- schließlich vom britischen Militärsanitätswesen. Allein etwa zwei Fünftel des Textes (S. 148–251) beanspruchen lexikonartige Anhänge, in denen das gesamte britische Sanitätspersonal (43 Stabsmediziner sowie 170 Regimentschirurgen) des Feldzugs von 1815 in Biogrammen aufgeführt ist, hierarchisch und nach Funktionen ange- ordnet bis hinunter zu den assistant surgeons, die unter ihren jeweiligen Regimen- tern gelistet sind. Von den genannten Medizinern sind diejenigen als »late arrival«

gekennzeichnet, die erst in den Wochen nach Waterloo zum Kriegsschauplatz reis- ten, um bei der Verwundetenversorgung zu helfen. Die Erfahrungen aus dem Spa- nienkrieg konnten, so Crumplin, im Feldzug von 1815 kaum genutzt werden, weil viele britische Militärärzte mit Halbsold verabschiedet und an ihrer Stelle junge und unerfahrene Mediziner im Einsatz waren.

Viele Teile des Buches sprengen das Thema. So greift beispielsweise das zweite Kapitel bis zu den Anfängen der stehenden Armee 1661 zurück, um die Organisa- tionsgeschichte des englisch-britischen Militärsanitätswesens über Waterloo hi- naus bis nach dem Krimkrieg (1853–1856) aufzurollen. Besonders seit den 1790er Jahren gab es Versuche, die Militärmediziner besser zu qualifizieren. Dennoch blie- ben Ärzte (physicians), die sich anders als die weniger angesehenen Feldchirurgen

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(surgeons) auch mit Infektionskrankheiten auskannten, in der Minderzahl. Die Bio- gramme der Mediziner und die in anekdotischer Form vermittelten Geschichten ausgewählter Soldaten, die 1815 verwundet wurden oder ums Leben kamen, ent- halten kurze Angaben über ihre vorausgehende militärische Laufbahn, gelegent- lich über Vorverwundungen während des Krieges auf der Iberischen Halbinsel und, so sie Waterloo überlebten, über ihre weitere Karriere.

Der für das eigentliche Thema interessanteste Teil ist das vierte Kapitel (»After- math of Victory«, S. 60–82), in dem nach Körperregionen geordnet die bei Water- loo und an den vorausgegangenen Tagen des Feldzugs erlittenen Verwundungen und die damaligen therapeutischen Optionen beschrieben werden. In weiten Tei- len folgt Crumplin dabei dem 1816 veröffentlichten Bericht von John Thomson, einem britischen Militärarzt, der in den Wochen nach Waterloo Hospitäler in Brüs- sel und Antwerpen besichtigte, in denen die meisten Verwundeten von Waterloo versorgt wurden. Thomson fertigte eine qualitative Bestandsaufnahme der Ver- wundungen und ihrer Behandlung an, machte allerdings keine quantitativen An- gaben über ihre Häufigkeit oder nachfolgende Komplikationen. Einige zeitgenös- sische Zeichnungen von Verwundungen und Fotografien von verletzten Skeletteilen veranschaulichen diesen Textteil, darunter etwa ein von Pallaschhie- ben zerschlagener Schädel eines gefallenen französischen Soldaten (S. 69).

Die folgenden fünf Kapitel sehr unterschiedlicher Länge bringen zahlreiche Beispiele für bei Quatre Bras oder Waterloo verwundete oder gefallene Angehö- rige der britischen Armee, aufgelistet in der Reihenfolge nach Generälen und Stabs- offizieren, Soldaten der Kavallerie, Infanterie, Artillerie sowie der King’s German Legion (KGL). Darunter finden sich einige aus der einschlägigen Literatur gut be- kannte Fälle wie Wellingtons Kavalleriekommandeur Henry Paget, Lord Uxbridge, der am Abend von Waterloo durch ein Artilleriegeschoss am Knie verletzt wurde und amputiert werden musste. Die Beispiele ranghoher Verwundeter machen klar, dass die damalige Militärmedizin auch eine Klassenmedizin war, worauf der Autor allerdings nicht eingeht. Undenkbar, dass sich um einen verwundeten Mann- schaftsdienstgrad ein ganzes Ärzteteam gekümmert hätte; den gunner Butterworth von der Royal Horse Artillery, der in den Abschuss des eigenen Geschützes stol- perte und beide Arme verlor, ließ der Batteriekommandeur ungerührt im Schlamm verbluten (S. 140 f.). Viele einfache Verwundete blieben stunden- oder tagelang auf dem Schlachtfeld liegen. Französische Verwundete trafen erst acht Tage nach der Schlacht bei dem für sie in Brüssel vorgesehenen Hospital ein. Auch der Umgang mit den Toten, so diese nicht aus den privilegierten Ständen stammten, war erschre- ckend pietätlos; nicht nur war Leichenfledderei allgemein üblich, Crumplin er- wähnt auch die widerliche Praxis, den Gefallenen gesunde Zähne auszureißen, um sie zur Verwendung in Gebissprothesen zu verkaufen (S. 30).

Crumplin hebt naturgemäß besonders die Differenzen zur modernen Trauma- medizin hervor. Die aus heutiger Sicht besonders befremdliche Praxis des Ader- lassens wurde im frühen 19. Jahrhundert noch weithin ausgeübt. Der Autor erzählt beispielsweise von einem First Lieutenant George Simmons von den 95th Rifles, der trotz einer schweren Schussverletzung im Torso in der ersten Woche nach sei- ner Verwundung durch Aderlassen und Blutegelansetzen angeblich fünf bis sechs Liter Blut abgenommen bekam (und überlebte!, S. 137 f.), weil man sich davon Er- leichterung bei Hämatomen und inneren Blutungen versprach. Passagen wie diese hätten aus Sicht des Rezensenten eine genauere Erläuterung hinsichtlich der medi- zinisch-fachlichen Zuverlässigkeit der Quellen verdient. Den Stoizismus, mit dem

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