• Keine Ergebnisse gefunden

Sternzeit und Steinzeit: Altägyptische Zeitvorstellungen

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Sternzeit und Steinzeit: Altägyptische Zeitvorstellungen"

Copied!
10
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

JAN ASSMANN

Sternzeit und Steinzeit:

Altägyptische Zeitvorstellungen

Mein Thema ist die Zeit im Alten Ägypten. Gefragt wird nach den Formen, in denen die alten Ägypter die Zeit begrifflich gefasst, kultu­

rell gestaltet und sich in ihr orientiert haben, also nach der ägyptischen Zeitkultur. Den Hauptunterschied zu unserem Zeitverständnis sehe ich in ihrer Form, die Zeit zu gliedern. Für uns gliedert sich die Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diese Gliederung ist im Tempussystem der meisten indogermanischen Sprachen angelegt und erscheint uns so natürlich, dass wir sie gern für universal halten. In Ägypten scheint das nicht viel anders zu sein, heißt es doch in der berühmten Inschrift auf dem verschleierten Bild zu Sais: „Ich bin alles, was da war, ist und sein wird. Kein Sterblicher hat meinen Schleier gelüftet." Das ist aber keine original ägyptische Inschrift. Plutarch und Proklos haben diesen Text überliefert. Ins Ägyptische lässt er sich nicht rückübersetzen, er ist griechisch gedacht. Ägyptisch würde es vielleicht heißen „Ich bin, was da ist und was da nicht ist (im Sinne von ,noch nicht ist')" ­ diese Formel vom Seienden und Nichtseienden ist hun­

dertfach belegt. Wenn die Ägypter aber die Zeit in ihrer Gesamtheit, ihrer ultimativen Ausdehnung bezeichnen wollen, dann verwenden sie ein Begriffspaar: Neheh und Djet. Was für uns die Dreiheit von Ver­

gangenheit, Gegenwart und Zukunft, das ist für die Ägypter die Zwei­

heit von Neheh und Djet.

1. Neheh und Djet

Im Folgenden möchte ich zunächst der Frage nachgehen, wie diese Zweiteilung der Zeit zu verstehen ist und mich dann vor allem der Frage nach der kulturellen Ausgestaltung dieser beiden Zeitformen zuwenden. So wie die Dreiheit unserer Zeitformen mit der Dreiheit der Zeitstufen im Tempussystem unserer Sprache korreliert, so korreli­

ert die Zweiheit der ägyptischen Zeitformen mit der Zweiheit des Aspektsystems der semitischen Sprachen, zu denen in dieser Hinsicht auch das Altägyptische gehört. Das Aspektsystem gliedert die Zeit in accompli ­ inaccompli oder perfektiv ­ imperfektiv. Ein Vorgang oder Zustand in der Zeit wird im Perfektiv von außen, als abgeschlossen

(2)

und im Imperfektiv von innen, als im Verlauf befindlich betrachtet.

Auf dieser Grundlage lässt sich auch die Bedeutung der beiden Zeitbe­

griffe verstehen. Neheh ist die Zeit im Verlauf, als Bewegung, und zwar als unabsehbare kreisläufige Bewegung der immer wiederkehrenden Tage, Monate, Jahreszeiten, Jahre und größerer Perioden bis hin zur Sothisperiode von 1460 Jahren. Djet ist die Zeit als unwandelbare Dauer, wie sie Gott in ihrer abgeschlossenen Gesamtheit vor Augen steht. Wenn es in der Bibel heißt „1000 Jahre sind vor dir wie der Tag der gestern vergangen ist", dann lesen wir in zwei ägyptischen Hymnen

„die djet steht dir vor Augen wie der Tag, der gestern vergangen ist."

Weil die Ägypter in einer Sprache mit Aspektopposition dachten, muss für sie die Zweiheit der Zeitaspekte eine ähnliche natürliche Evidenz gehabt haben, wie für uns die Dreiheit der Zeitstufen. Für uns dagegen hat die ägyptische Zweiteilung der Zeit kaum eine natürliche Evidenz;

deswegen müssen wir sie uns umständlich klar machen.

Zum Verständnis ägyptischer Begriffe lohnt es sich oft, auf Wortbil­

dung, Etymologie und vor allem Schreibung, also Etymographie zu achten. Das ist besonders für Neheh aufschlussreich. Hier handelt es sich um die N­Erweiterung eines reduplizierten Stammes, was auf Merkmale wie Iterativität und Reflexivität, also eine in sich kreisende, sich unaufhörlich wiederholende Bewegung weist. Der reduplizierte Stamm h­h bezeichnet Begriffe wie „suchen", „fluten" und „Millionen", die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun zu haben scheinen, aber alle die Vorstellung des Unendlichen, Unabsehbaren assoziieren.

Von diesem Stamm sind die Namen Huh und Hauhet gebildet, Perso­

nifikationen des Chaos, der endlosen Noch­nicht­Zeit, denen wir noch begegnen werden. Das Wort Neheh schreibt man mit diesen zwei „h", die dem Ägypter die Idee des Unendlichen evozieren, und dazwischen dem Zeichen der Sonne. Auch diese Schreibung bringt mit dem Sche­

ma A­B­A die Idee des Zyklischen zum Ausdruck. Das Zeichen der Sonne findet sich bei fast allen ägyptischen Zeitbegriffen, also Wörtern wie .Augenblick", „Stunde", „Tag", „Jahreszeit", „Jahr", „Morgen",

„Gestern". Wir sprechen bei dieser Zeichenfunktion von einem „Deter­

minativ". Determinative haben keinen Lautwert, sondern nur einen Sinnwert, sie weisen das Wort einer Sinnklasse zu; in unserem Fall also der Sinnklasse „Zeit", genauer gesagt, der sich bewegenden Werdezeit.

Man determinierte die Zeitbegriffe mit der Sonne, weil man glaubte, dass die Sonne diese Art von Zeit hervorbringt und dass alles Werden und Vergehen, an dem sich das Wirken der Zeit manifestiert, letztend­

lich von der Sonne und ihrer Bewegung abhängt. Diese Zeit manifes­

tiert sich am Auf­ und Untergehen der Sonne, am An­ und Abschwellen

(3)

des Nils, am Wachsen und Welken der Pflanzen, an Geburt und Tod, Reifen und Altern der Lebewesen, am Umlauf der Gestirne, am Zu- und Abnehmen des Mondes, am Kommen und Gehen der Generatio­ nen, an Begräbnis und Thronbesteigung des Königs, an den Wanderun­

gen der Zugvögel und Zugfische, am Paarungsverhalten der Tiere, an den Zyklen der Vegetation, kurz: alles, was den ägyptischen Menschen umgab inklusive der Biorhythmik seines eigenen Daseins brachte das Wirken dieser Form der Zeit zur Erscheinung. Das Wort djet dagegen wird ganz anders determiniert: mit dem Zeichen für Land oder Erde als dem Inbegriff des Festen, Dauernden, das nur für dieses eine Wort als Determinativ verwendet wird. Das ist die Zeit, in der das Gewordene und Vollendete ruht. Die beiden Begriffe ergänzen sich zu einem umfas­

senden Gesamtbegriff von Zeit oder Ewigkeit, auch hinsichtlich des Wortgeschlechts: Neheh, die bewegte Zeit, ist männlich, djet, die still­

gestellte Zeit der Dauer, ist weiblich.

Es gibt einen Hymnus auf die beiden Zeiten oder Ewigkeiten, den ich mir bei meinem ersten Besuch in Ägypten vor 43 Jahren abge­

schrieben habe. Er steht in zwei thebanischen Gräbern der 20. Dynas­

tie, also des 12.Jahrhunderts v.Chr.:

Seid gegrüßt, Neheh und Djet,

die ihr den Himmel gründetet auf seinen Stützen,

die ihr den Himmel schuft und ihn auf seinen Grenzen befestigtet, um die Ba's der Götter in ihn hineinzusetzen,

damit Re aufgehe und als Mond erglänze auf den Armen von Huh und Hauhet, auf deren Hand Neheh,

in deren Faust Djet ist.

Neheh kommt verjüngt,

den Nil heraufführend aus seiner Höhle, um Menschen und Götter am Leben zu erhalten;

der [Morgen für] Morgen früh aufsteht, um die Jahre zu gebären in Ewigkeit und Ewigkeit.

[Theben] währt, indem es gegründet ist auf den Armen von Neheh und Djet.

Re geht darin auf,

seine Neunheit verwirklicht die Maat und vernichtet das Unrecht, [gibt Gottesopfer den Göttern]

und Totenopfer den Verklärten.

(4)

Neheh und Djet stemmen den Himmel hoch empor über die Erde.

Die Zeit erschafft den Raum. Indem sie Himmel und Erde trennen, beginnt die Fahrt des Sonnengottes, der den Himmel als Sonne und interessanterweise auch als Mond überquert. Durch diese Bewegung wird die Zeit messbar, entstehen die Tage, Monate, Jahreszeiten und Jahre. Der ägyptische Neujahrstag ist der Beginn der Nilüberschwem­

mung. Daher heißt es, „Neheh kommt verjüngt, den Nil heraufzufuh­

ren." Das ägyptische Wort für „Jahr" heißt: „das sich Verjüngende", daher kommt Neheh zum Neujahrstag verjüngt, wenn er zugleich mit der Nilüberschwemmung ein neues Jahr aus sich entlässt. Aber nicht nur die Zyklen des kosmischen Lebens entstehen mit der Trennung von Himmel und Erde. Die Entfernung der Götter zum Himmel bedeutete auch den Gründungsakt der Kultur, denn jetzt waren die Menschen gezwungen, Tempel zu bauen, Bilder zu schaffen, Riten zu entwickeln und Opfer darzubringen, um die Verbindung mit den fer­

nen Göttern nicht abreißen zu lassen. Daher ist in der letzten Strophe vom Tempelkult die Rede. Die kosmischen und die kultischen Zyklen verwirklichen die Zeit als kreisende Wiederkehr, die steinernen Monu­

mente realisieren sie als unwandelbare Dauer, und das alles geschieht auf den Armen von Neheh und Djet, den transzendentalen Bedin­

gungen der Möglichkeit von Wiederkehr und Dauer, Ereignis und Bestand, die ihrerseits ruhen auf den Armen von Huh und Hauhet, den nicht mehr transzendentalen, sondern transzendenten, weil präe­

xistenten, gleichsam chaotischen Kategorien der Endlosigkeit.

2. Neheh: die Zeit des Sonnengottes

Mit diesem Hymnus auf die Zeit sind wir schon tief in die Frage nach der kulturellen Ausgestaltung der Zeit eingedrungen. Hier geht es vor allem um die religiösen Vorstellungen, die sich bei den Ägyptern mit den beiden Zeiten verbinden. Neheh, die zyklische Zeit, ist die Zeit des Sonnengottes. Sie wird mit dem Begriff des Werdens assoziiert, der im Ägyptischen mit dem Bild des Skarabäus geschrieben wird. Der Skara­

bäus ist bekanntlich das zentrale Heilssymbol im Ägyptischen. Nicht das Sein, sondern das Werden steht im Zentrum ihres Denkens. Die Zyklen werden und vergehen, und was innerhalb der Zyklen wird, ver­

geht in der Hoffnung erneuerten Werdens.

Neheh ist die Zeit der Riten, des Kults. Der Kult dient in Ägypten in allererster Linie der Konstruktion und In­Gang­Haltung der Neheh­

Zeit, er hat den Charakter eines ritualisierten Kalenders. Wie in vielen

(5)

anderen Kulturen auch, beobachteten in Ägypten Spezialisten unabläs­

sig den Himmel. Während es aber etwa in China, Mesopotamien, Rom und anderswo um die Wahrsagekunst und damit um die Erken­

nung und Deutung auffälliger Besonderheiten im Sinne von Zeichen ging, galt in Ägypten die auf den Kosmos gerichtete Aufmerksamkeit nicht den Ausnahmen, sondern den Regeln. In der zyklischen Regel­

haftigkeit seiner Prozesse offenbarte sich dem Ägypter die Göttlichkeit des Kosmos. Die Ägypter beobachteten den Himmel nicht, um die Zukunft vorherzusagen, sondern um die Zeit als solche festzustellen.

Die Ägypter benutzten zwei Kalender, einen Mondkalender, der auf Beobachtung, und einen Sonnenkalender, der auf Berechnung beruht.

Darüber hinaus benutzten sie einen auf Beobachtung beruhenden Sothiskalender, um die beiden anderen Kalender synchronisieren zu können. Das ist zu kompliziert, um es in diesem kurzen Text darzustel­

len. Wichtig ist hier vor allem, dass der Kalender in allererster Linie ein Instrument war, die Zeit zu ordnen und kultisch in Gang zu halten.

Das möchte ich an zwei Beispielen illustrieren, die mir als besonders typisch erscheinen. Das erste Beispiel ist das Stundenritual, das zweite die Tagewählerei. Das Stundenritual ist ein in allen Sonnenheiligtü­

mern des Landes durchgeführtes Ritual stündlicher Lobpreisungen des Sonnenlaufs. Dabei geht es darum, den Sonnengott und die bei diesem Vorgang beteiligten Götter in ihrem unausgesetzten Kampf gegen Still­

stand und Auflösung zu unterstützen. Ohne solche Bemühung würde die Sonne nicht weiterkommen, zumindest ein bestimmter, prozess­

haft gedachter Sinnzusammenhang abreißen. Dieser Sinnzusammen­

hang muss rund um die Uhr hergestellt bzw. aufrechterhalten werden.

Dem dienen alle Rituale, aber das Stundenritual bringt diesen Sinn der Rituale besonders deutlich zum Ausdruck. Die Wendung „rund um die Uhr" hat hier einen besonders prägnanten Sinn. Ohne das Ritual würde die Uhr stehenbleiben.

Das zweite Beispiel sind die Tagewählereikalender oder Hemerolo­

gien. Obwohl es diese Gattung auch in Babylonien gab, sind sie für Ägypten so typisch, dass im europäischen „Aberglauben" bis weit in die Neuzeit hinein und möglicherweise in abgeschiedenen Gegenden bis heute bestimmte Unglückstage als „ägyptische Tage" bezeichnet wur­

den. Dieser Kalender verband jeden einzelnen Tag des Jahres mit einem mythischen Ereignis, das ihm eine bestimmte Bedeutung und Eigen­

schaft verlieh. Es gab drei Qualitäten: gut, neutral und unheilvoll.

Jeder Tag war in drei Tageszeiten unterteilt, und jede dieser drei Tages­

zeiten ließ sich aufgrund der dem Tag spezifischen mythischen Episode als gut, neutral oder unheilvoll qualifizieren. Die hemerologische Semi­

(6)

otik liegt ein fiir alle Mal fest; die Hemerologien sind immerwährende Kalender. Auf einmalige, unvorhergesehene und kontingente Ereignis­

se ­ also auf das, was wir unter Geschichte verstehen würden ­ sind sie nicht eingerichtet. Sinnvoll, bedeutungsvoll und daher mit Zeichen­

charakter ausgestattet ist nur, was sich kalendarisch wiederholt. Es han­

delt sich also um das genaue Gegenteil von Prodigien, Wunderzeichen, Vorzeichen usw., die sich ja gerade dadurch überhaupt erst als Zeichen konstituieren, dass sie aus dem Rahmen fallen. Was in Ägypten aus dem Rahmen fällt, verliert seinen Sinn und damit seinen Zeichencha­

rakter. Die kalendarische Zeit ist also in Ägypten keine Leerform, in die die Ereignisse einströmen, sondern eine prall mit Sinn erfüllte Form, die unablässig rituell aufgeführt wird, um den Zustrom der Ereignisse abzuwehren. Was sich dann trotzdem ereignet, und was wir

„Geschichte" nennen würden, hat sich diesem Rahmen einzufügen.

Man kann diese ägyptische Zeitstrategie „Gegenwartsbewältigung"

nennen, im Unterschied zur mesopotamischen, auf Divination beru­

henden, für die Stefan Maul den Begriff „Zukunftsbewältigung"

geprägt hat. Gegenwartsbewältigung richtet sich gegen die Angst, die von Bruch, Wandel und Veränderung ausgeht. Die Gegenwart wird bewältigt, indem jeder Tag in eine heilige Ordnung eingefügt wird, die nur bewahrt, beachtet und begangen werden muss, um als Medium der Zeitbewältigung zu funktionieren. Weil es hier in erster Linie um Gegenwartsbewältigung geht, sucht man vergebens nach größeren ret­

rospektiven Rekonstruktionen von Vergangenheit. Aufgezeichnet wer­

den nur einzelne Ereignisse. Bei dem, was als aufzeichnungswürdig festgehalten wird, wird keine scharfe Grenze gezogen zwischen dem Feiern von Festen, dem Errichten von Bauwerken und dem Erringen von Siegen. Alles schreibt sich ein in die Form des Kalenders, die das Gelingen von Ordnung unter den Bedingungen der Zeitlichkeit vor­

schreibt, indem sie die Zeit rhythmisiert, Kontinuität stiftet, Bruch, Wandel und Veränderung ausschließt und einen Sinnhorizont aus­

leuchtet, innerhalb dessen man sich orientieren und identifizieren kann. E. Hornung hat für dieses Geschichtsbild die glückliche Formel

„Geschichte als Fest"' geprägt.

Die ägyptische Formel für die Konzeption einer sich zyklisch erneu­

ernden Zeit ist „Tag für Tag wie beim Ersten Mal"2. Das „Erste Mal"

ist der ägyptische Begriff für „Schöpfung", genesis, bereschit. Mit jedem

1 Geschichte als Fest. Zwei Vorträge zum Geschichtsbild der frühen Mensch­

heit, Darmstadt 1966.

2 S t u S t , S . 2 0 5 .

(7)

Tag wiederholt sich das Erste Mal, mit jedem Zyklusende taucht die kreisende Zeit zurück in die vorweltliche Zeitlosigkeit. Eine als Nut­

buch bekannte Kosmologie beschreibt den Sonnenaufgang folgender­

maßen: „Er (der Sonnengott) entsteht wie er entstand beim Ersten Mal in der Erde des Ersten Males."

An jedem Abend stirbt der Sonnengott; das bedeutet das Ende des Tageszyklus, aber es bedeutet keine Katastrophe, weil der Gott, wie es in den Texten immer wieder betont wird, in die Erde eingeht, aus der er entstanden ist, und in den Mutterschoß, aus dem er hervortrat. Sein Weg rundet sich also zur vollendeten Kreisbahn; daher mündet dieser Tod notwendigerweise in eine neue Geburt und ist nur der Ubergang zu einem neuen Zyklus. Dieser Vorgang bildet die ägyptische Heilsge­

schichte. Im Mysterium des allnächtlichen Sonnentodes und der all­

morgendlichen Neugeburt gründen alle Jenseits­ und Unsterblich­

keitshoffnungen des Ägypters3. Deshalb, aufgrund dieser Analogie, ist der Vollzug der Riten und die rituelle Formung der Zeit so ungeheuer wichtig. So wie der Kosmos und die Zeit im Sonnenlauf, so soll sich auch die menschliche Welt in ihren staatlichen, gesellschaftlichen und persönlichen Abläufen immer wieder erneuern und in den Idealzu­

stand des „Ersten Males" zurückkehren. Denn die zyklische Zeit, die auf diese Weise erzeugt wird, ist eine gewissermaßen heilswirksame, bedeutungsvolle Zeit, in der auch der Mensch auf Erneuerung hoffen darf. Er hat an denselben Riten und Deutungen Anteil. So wie der Sonnenuntergang in den Deutungsmustern des Lebensendes, so erscheint das Lebensende in den Deutungsmustern des Sonnenunter­

gangs ­ die beiden Ereignisse beleuchten sich gegenseitig. Gelingen bedeutet in ägyptischer Vorstellung nicht Fortschritt, sondern Rück­

kehr: Rückkehr zum Ersten Mal, zu den Vorbildern der Vergangenheit, zu den Normen der Vorfahren.

3. Djet: die Zeit des Osiris: der Erinnerung und moralischen Verantwortung

Was hat es nun mit der anderen Zeit auf sich: Djet, der Zeit der unwan­

delbaren Fortdauet? Wie wurde sie kulturell ausgedeutet und ausgestal­

tet? Djet ist die moralische Zeit, die Zeit der Rechenschaft und der Verantwortung. Djet ist die Zeit des Steins. Mit diesem Aspekt der

3 Hierzu und zum Folgenden siehe TuJ.

(8)

Zeit verlassen wir das Reich des Sonnengottes und betreten das Reich des Osiris, des Gottes der Toten, der selbst ein Toter ist und als solcher in unwandelbarer Vollkommenheit fortdauert. Das bringt auch sein Name zum Ausdruck: Wannafre, griechisch Onnophrius, heißt: der in Vollendung Existierende. So wie die Neheh-Zeit mit dem Sonnengott und dem Werden, so ist die Djet-Zeit mit Osiris und dem Sein verbun­

den.

Die moralische Konstruktion der Zeit beruht auf dem Gedanken, dass man für sein Handeln und Unterlassen zur Rechenschaft gezogen wird. In dieser Konstruktion erscheint die Zeit als ein Zusammenhang von Tat und Folge, der nach ägyptischer Vorstellung durch die M a a t (Wahrheit ­ Gerechtigkeit ­ Ordnung) garantiert wird. Die Menschen müssen die M a a t in ihrer Lebensführung verwirklichen und zwar dadurch, dass sie aneinander denken und füreinander handeln. M a a t ist der Zentralbegriff einer kooperativen Ethik. Der Tun­Ergehen­

Zusammenhang ist eine Sache des Gedächtnisses und der Aufmerk­

samkeit füreinander. Dieses Gedächtnis setzt nach Auffassung der Ägypter den Tun­Ergehen­Zusammenhang in Kraft. Er wirkt nicht automatisch wie ein Naturgesetz, sondern nur im Raum der gegensei­

tigen Erinnerung und Aufmerksamkeit, des Aneinander­Denkens und Füreinander­Handelns. Sinn oder Nicht­Sinn der Welt ist, mit ande­

ren Worten, eine Frage des Eingedenkseins oder der Vergessenheit. Wir können die moralische Konstruktion der Zeit daher als Gedächtniszeit bezeichnen.

Gedächtnis, Gewissen, Verantwortung, Rechenschaft: das alles kon­

stituiert nun auch sehr zentral den ägyptischen Begriff der Gerechtig­

keit als Inbegriff einer Lebensführung, die dem Einzelnen unvergäng­

liche Fortdauer im Gedächtnis der Nachwelt verheißt. Dieser Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Unsterblichkeit findet seinen Ausdruck in der Idee des Totengerichts. Die Ägypter dachten sich, dass sie nach dem Tode vor Osiris und einem Totengericht Rechenschaft ablegen müssten für ihre Lebensführung. Während sie beteuerten, der Ma'at gemäß gelebt und eine lange Liste von Sünden nicht begangen zu heben, wurde ihr Herz auf eine Waage gelegt. Mit jeder Lüge würde es schwerer werden und dann von dem Monstrum, das neben der Waage sitzt verschlungen werden. Wer aber ohne Sünde befunden wurde, der wurde in das Reich des Osiris und in die Zeit ewiger Fortdauer aufgenommen.4 Vollendung und ewige Dauer waren

4 TuJ.S. 100­115.

(9)

für sie also nicht nur eine Sache des Steins, der Monumente, sondern vor allem der moralischen Vollkommenheit. Um im Raum der Djet­

Zeit fortzudauern, bedurfte es dreierlei: der moralischen Vollkommen­

heit oder „Tugend", der Schrift, von ihr zu berichten, und des Stein­

monuments als Träger dieser Schrift und Ort der Erinnerung. Daher ist das ägyptische Monumentalgrab nicht nur ein Medium des Gedächtnisses, sondern auch, mit Schiller zu reden, eine „moralische Anstalt".5

4. Die Verknüpfung von Neheh und Djet

Das besondere der ägyptischen Konstruktion der Zeit ist nun aber nicht nur die Unterscheidung, sondern vor allem die Verbindung der beiden Aspekte, Neheh und Djet, die erst zusammen die Zeit ergeben.

Die Zeit, wie sie die Ägypter erlebten, entstand oder bestand aus einer Komplexion von Neheh und Djet. Darauf will ich abschließend einge­

hen. Viele Darstellungen des Sonnengottes zeigen ihn, wie er bei Tage den Himmel befährt und bei Nacht Osiris in der Unterwelt bestrahlt.6

Diese nächtliche Vereinigung von Re und Osiris haben wir uns als eine Verbindung der Neheh­ und der Djetzeit vorzustellen. Im Grab der Nefertari ist eine widderköpfige Mumie mit einer Sonnenscheibe auf dem Kopf dargestellt, die von Isis und Nephthys flankiert und beschützt wird. Die Beischrift links unten erklärt: „Das ist Osiris, der in Re ruht", während die zur Rechten besagt: „Das ist Re, der in Osiris ruht."7 Die­

se Vereinigung von Re, dem Exponenten der ewig kreisenden kos­

mischen Zeit, und Osiris, dem Exponenten der unwandelbaren Fort­

dauer des Vollendeten, ereignet sich in der Mitternacht. Im 17. Kapitel des Totenbuchs findet sich ein weiteres Bild für die Zeit. Zwei nach außen gewendete Löwen flankieren die Hieroglyphe für das Wort

„Achet", die Stelle, an der, zwischen zwei Bergen, die Sonne auf und untergeht. Beim linken Löwen steht „der morgige Tag", beim rechten

„der gestrige Tag".8 Der Text zu dieser Darstellung lautet:

5 TUJ, S. 476-490.

6 Z.B. StuSt, S. 208Abb.31.

7 StuSt, S. 83 Abb. 13.

8 StuSt, S. 84 Abb. 14.

(10)

Ich bin das Gestern, ich kenne das Morgen.

Was bedeutet das?

Was Gestern betrifft: Osiris ist es.

Was Morgen betrifft: Re ist es.9

Im gleichen Text heißt es auch:

Was Neheh betrifft, das ist der Tag.

Was Djet betrifft, das ist die Nacht.10

Die beiden Löwen, die den Sonnenlauf flankieren und die für Gestern und Morgen, oder auch Tag und Nacht, und daher für Neheh und Djet stehen, symbolisieren das Ganze der Zeit, das sich aus der Verei­

nigung dieser beiden Aspekte ergibt.

Aber nicht nur der Kosmos, auch der Mensch lebt in beiden Zeiten zugleich. Im Vollzug der Riten, deren immer gleicher Ablauf die ewige Wiederkehr der kosmischen Zyklen im menschlichen Handeln abbil­

det, gewinnt er Anteil an der Neheh­Zeit, und durch die Errichtung der Monumente hofft er sich in die Djet­Zeit hineinstellen zu können.

Nach dem Tode aber will er ganz in die kosmische Zeit in ihren beiden Aspekten ­ der Stern­Zeit und der Stein­Zeit eingehen. Im Balsamie­

rungsritual sagt der Priester zum Toten:

Möge dein Ba existieren, indem er im Neheh lebt wie Orion im Leib der Himmelsgöttin;

und indem dein Leichnam dauert in der Djet wie der Stein des Gebirges."

Abkürzungen und Literatur:

StuSt: J. Assmann, Steinzeit und Sternzeit. Altägyptische Zeitvorstellun­

gen. W. Fink: München 2011.

TuJ: J. Assmann, Tod und Jenseits im Alten Ägypten, C.H. Beck: Mün­

chen 2003.

9 S t u S t , S . 8 2 . 10 Ebenda.

11 StuSt, S. 85.

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

In der rechten Hand trägt der Nikolaus vor sich einen

In der rechten Hand trägt der Nikolaus vor sich einen kleinen Tannenbaum.. Brigitte Sauer, 2008

Wenn die Grundan- nahmen stimmen, dass die russische Wirtschaft für Investoren nicht mehr at- traktiv ist, die russische Ölindustrie keine Expansionspläne hat und der rus- sische

Energieeffizienz ist die tragende Säule einer sinnvollen Energie- und Klima- politik und bringt zahlreiche Vorteile für Wirt- schaft, Arbeitsmarkt, Gesundheit und Umwelt..

Öffentliche Grünflächen und Straßen- wie Wegränder können bei der Einhaltung einfachster Regeln viel insektenfreundlicher werden: nur zweimal und spät im Jahr mähen sowie

"Damit aber die Anwendung der Mathematik auf die Körperlehre, die durch sie allein Naturwissenschaft werden kann, möglich werde, so müssen Prinzipien der Konstruktion der

Doch mittlerweile ist es zu einer kuriosen Tra- dition geworden, dass auch Protestplakate und Transpa- rente zum Bild gehören: Einmal im Jahr versammeln sich Mitarbeiter, Bewohner

Ist es nur die Ungunst des frühen Morgens, an dem viele noch nicht so recht munter sind, oder tragen die Menschen ihre Sorgen im eigenen Haus, in der Familie mit sich hinaus auf