DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
DIE GLOSSE
Geisterzeit
Ein Gespenst geht um: Zeittakt für Ärzte! Für eine Beratung gemäß GOA-Ziffer werden drei Minuten veranschlagt, für eine eingehende Untersuchung gemäß Ziffer 65 zehn und für 14 A zwei Minuten.
Macht 21 DM in fünfzehn Minuten oder etwa 80 DM in einer Stunde (der Händedruck zum Abschied des Patienten wird dabei nicht mitgezählt).
Wenn bisher noch niemand die Zeit entdeckt hätte, gäbe es sie trotzdem. Denn spätestens die konzertierte Aktion eines der mo- dernsten Gesundheitssysteme der Welt hätte sie erfunden. Pa- tient, zahle deine Beiträge, fasse dich kurz und komme nicht wie- der und nicht zu dir!
Irgendwie war es schon länger zu argwöhnen. Das Honorarsystem für Ärzte paßt nicht in die Zeit und nicht in die heutige Zeit. Welcher Kleinbetrieb läuft mit 80 DM pro Stunde?
Eine allgemeinärztliche Durch- schnittspraxis erzielt zur Zeit 230 000 DM Jahresumsatz, das heißt pro Stunde etwa 125 DM bei veranschlagtem Acht-Stunden- Tag. Überlassen wir es den Be- triebswirten, zu errechnen, wel- che Anteile davon für Personal und Unkosten wirtschaftlich sind.
Und überlassen wir es den einzel- nen Kollegen, dahinterzukom- men, wessen Freizeit sie mit ih- rem Zehn- bis Zwölf-Stunden-Tag finanzieren.
Was ist das nur für ein Zeitgeist, der die ärztliche Tätigkeit in die Zeit zwingen will? Hegels Welt- geist kann es nicht sein, denn er hätte einen solchen Mißgeist so- fort erkannt. Es kann nur der Esprit de siecle sein!
Die Zeit verhält sich verführe- rischer als das rassigste Weib der Welt. Will man sie zudecken, streckt sie die Arme vom Bett aus entgegen. Wir glauben, sie zu ha-
ben. Seit alters ist sie der Trick philosophischer Gaukler und wis- senschaftlicher Taschenspieler. In sogenannter Objektivität über- brücken sie mit ihr hyper- und dia- bolisch die Kluft zwischen Ursa- che und Wirkung. Sie tun so, als ob sie Raum und Zeit kennten, als ob sie beide in den Griff bekämen.
Dabei messen sie das eine dau- ernd mit dem anderen, niemals ohne einander.
Der Genius medicinae floh bereits ins Exil. Er fand, daß der Arzt für den Patienten da sei. Die Wissen- schaft der Medizin sieht den Arzt neben dem Patienten. Und die Ko- stenträger der Zeit sehen ihn we- gen des Patienten. Der Genius floh, Wissenschaft und Kostenträ- ger gehen dem Arzt jetzt direkt auf den Geist, denn sie können beide ohne Patient nicht sein und hätten ihn am liebsten für sich al- lein.
Es ist nicht zu fassen; die Zeit, je- ner magische Kleister der Klüfte, ist ebenfalls nicht zu fassen. Also nimmt man's praktisch: „Time is money!" In der Karikatur zerren sie das Unfaßbare ins Faßbare,
„Halbgötter in Weiß", und wissen
Die „Gartenlaube"
weiß Bescheid
„... dem aufmerksamen Beob- achter wird eines nicht entgehen:
je dichter die Häuser emporstei- gen um die grünen Oasen der Großstädte, je weiter hinaus die Stadt ihre Arme ausstreckt und je mehr Reihen von Mietkasernen entstehen, um so spärlicher wer- den die Nadelbäume in den stra- ßenumsäumten Anlagen, in den Gärten vor und hinter den Häu- sern. Von Jahr zu Jahr wird der Spitzentrieb kümmerlicher; die Nadeln werden dürr und fallen ab, kahler und kahler strecken sich die Aeste empor, und schließlich kommt der Gärtner und haut den verdorrten Baum ab, und der hüb- sche Vorgarten ...
nicht, wen sie in den Dreck zie- hen. Ist es Gott, den sie mit dem Mißgeschick der eigenen Schöp- fung identifizieren wollen? Ist es die Religion, der sie Naivität nach- sagen wollen? Oder ist es der Arzt, den sie des frevelhaften Übermuts bezichtigen wollen?
Oder ist es gar der Patient, der al- les glauben und verdauen soll?
Sie schaffen es, alle hineinzuzie- hen, sogar sich selbst. Würden sie nämlich selber zu Patienten, muß sofort die zauberhafte Zeit her, um Krankheit und ärztliche Vergü- tung zusammenzukleistern. Nein, sie möchten sich nicht kurz fas- sen, sondern sich endlich einmal richtig aussprechen. Wehe dem, der nicht an ein bisserl Zauberei glaubt! Spricht man über sich selbst, kommt einem eine Stunde wie fünf Minuten vor. Zeitgeist kontra Geisterzeit.
Vom Psychiater bis zum Tomogra- phen, von der Couch bis zum Computer bemüht der Zeitgeist die Zeit. Er bemüht sich nicht für den Patienten, denn der lebt zur falschen Zeit.
Dr. med. H. Rauchfuss
Woher kommt dieses Absterben der Nadelbäume in den Stadtgär- ten, während doch die Laubbäu- me weiter gedeihen und verhält- nismäßig sogar prächtige Baum- kronen entwickeln?
Gerade die Eigenschaft, welche uns den Christbaum so lieb macht, nämlich daß er zur „Som- mer- wie zur Winterszeit grün" ist, bringt ihm Verderben, denn sein bitterster Todfeind ist der Schnee.
Allerdings nicht der Schnee an und für sich, wie er draußen im endlosen Walde auf seinen Zwei- gen ruht, sondern der Schnee in der Stadt, der durch die Verbren- nungsgase zahlloser Stadtessen verunreinigte Schnee."
Zitat aus der „Gartenlaube" Nr. 48 des Jahres 1892.
Ausgabe A 82. Jahrgang Heft 25/26 vom 21. Juni 1985 (25) 1921