Henry Keazor
»Avis de recherche«. Verlorene Zeit und gefundener Raum in Jean Nouvels INIST
»Keiner weiß b e s s e r als du, weiser Kublai, daß man die Stadt niemals mit der Rede verwechseln darf, die sie beschreibt. Und doch gibt es zwischen der einen und der a n d e r e n eine Beziehung.«
Italo Calvino, Die Städte und die Zeichen 5: Olivia, in:
Die unsichtbaren Städte (1972), München 1985
Architektur und Text
Im J a h r 1992 veröffentlichte d e r franzö
sische Architekt Jean Nouvel u n t e r d e m Titel »Avis d e r e c h e r c h e « (was sowohl m i t »Such « o d e r » V e r m i s s t e n a n z e i g e « als auch mit »Steckbrief« ü b e r s e t z t wer
den kann) einen Text, d e r sich in einem s c h m a l e n Buch ü b e r Nouvels zwei Jah
re z u v o r f e r t i g g e s t e l l t e n G e b ä u d e k o m plex in Nancy, d a s s o g e n a n n t e »INIST«, findet.
1Obwohl die dort a u f e i n a n d e r f o l g e n d e n k u r z e n Artikel, Pläne u n d Foto
grafien in d e r Absicht z u s a m m e n g e s t e l l t sind, d e m Leser b e z i e h u n g s w e i s e der Le
serin die Architektur vorzustellen, liefert Nouvels Beitrag trotz d e s Titels, der an die p r ä z i s e B e s c h r e i b u n g von e t w a s ge
m a h n t , d a s d a m i t i d e n t i f i z i e r t u n d ge
f u n d e n w e r d e n soll keine traditionelle
Architekturbeschreibung, s o n d e r n k o m m t s t a t t d e s s e n im Gewand e i n e r E r z ä h l u n g daher.
Im Laufe s e i n e r Karriere h a t Nouvel wiederholt eine starke Neigung z u r Ver
s c h r ä n k u n g v o n Texten u n d Architek
tur gezeigt: So b e t o n t er i m m e r wieder, d a s s er d e r e r s t e Student an d e r Ecole d e s BeauxArts in Paris gewesen sei, d e r 1972 eine Diplomarbeit einreichte, die, a n s t a t t d e r ü b l i c h e n u n d e r w a r t e t e n Zeichnun
gen, Pläne und Modelle, a u s einer einzigen Seite im Format 21 x 29,7 cm b e s t a n d , auf d e r eine k o n z e p t u e l l e Beschreibung d e s zu g e s t a l t e n d e n Projektes getippt war.
2Im Unterschied d a z u präsentierte Nou
vel im Fall des INIST mit seinem Text von 1992 a l l e r d i n g s kein z u k ü n f t i g e s Pro
jekt, s o n d e r n beschrieb s t a t t d e s s e n einen
Originalveröffentlichung in: Dogramaci, Burcu ; Förster, Simone (Hrsgg.): Architektur im Buch. Dresden 2010, S. 211-226
#1
Abb. 1: Übersichtsplan über den Gebäude
komplex des INIST in Nancy, 1 992
Gebäudekomplex, den er bereits einige Jahre zuvor, zwischen 1985 und 1989, ge
plant und ausgeführt hatte. Als er seine Erzählung niederschrieb
3, bezog er sich mithin auf eine Architektur, die zu diesem Zeitpunkt bereits drei Jahre alt war (und in der Tat spricht der Text an einer Stelle auch konkret das Alter des INIST an, wenn es etwa heißt, dass ein Mitarbeiter hier be
reits seit mehreren Jahren arbeite).
Über den Umstand hinaus, dass die von Nouvel gewählte fiktionale Form für eine Architekturbeschreibung eher unüb
lich scheint, überrascht auch, dass der Ar
chitekt seinen Text nicht etwa als seine
eigene Schöpfung präsentiert, sondern sie stattdessen als Ausschnitt aus einem Ro
man mit dem Namen »Avis de recherche«
ausgibt, den er »au rayon le plus bas du kiosque de la gare de Perpignan« gefun
den und gekauft habe.
4Diese präzise FundortAngabe ver
mittelt dem Leser dabei in gleich doppel
ter Weise Informationen, denn zum einen w i r d so deutlich gemacht, dass es sich bei dem Buch offenbar um einen Vertre
ter jenes in qualitativer Hinsicht prekä
ren Genres handelt, das im Englischen mit dem Begriff »airport novel« umrissen wird (also auf einer Reise gekaufte, anspruchs
losen Zeitvertreib verheißende Massenli
teratur, deren französisches Äquivalent tatsächlich der »roman de gare«, also der
»Bahnhofsroman«, ist);
5zum anderen aber w i r d zugleich in ironischer Weise ange
deutet, dass sich das Buch (nicht einmal dort) besonders gut verkauft zu haben scheint und daher im untersten Regal ei
nes Bahnhofskiosks gelandet ist dies eine Deutung, die durch den Text selbst bestätigt wird, dessen Lektüre eben nicht die in diesem Kontext vielleicht erwar
tete, sentimentale oder spannende Lek
türe bietet
6: Da der Text, seiner angebli
chen Herkunft zum Trotz, schließlich ver
fasst wurde, um die Eigenarten der INIST
Gebäude zu erfassen und zu vermitteln, überrascht dies vielleicht zunächst einmal auch nicht. Dennoch, und gerade in Anbe
tracht der Funktion des INIST und seines von Nouvel daraus abgeleiteten Erschei
nungsbildes, erscheint die getroffene Wahl
des angeblichen literarischen Kontextes
Verlorene Zeit und gefundener Raum in Jean Nouvels INIST 213
ü b e r r a s c h e n d . Denn der Gebäudekomplex in Nancy w u r d e errichtet, u m hier die Zen
trale des »Institut de l'Information Scien
tifique et Technique« (abgekürzt »INIST«) zu b e h e r b e r g e n , einer Unterabteilung d e s
»Centre National de la Recherche Scienti
fique« (kurz »CNRS«).
Jean Nouvels INIST
In den f r ü h e n 1980er Jahren erkannte man die Notwendigkeit einer z e n t r a l e n Insti
t u t i o n z u r S a m m l u n g , Lagerung, Verar
b e i t u n g u n d Vermittlung sämtlicher wis
s e n s c h a f t l i c h e r Daten der v e r s c h i e d e n e n Forschungsinstitute des CNRS. Der hierfür n o t w e n d i g e Bau sollte (als Teil der dama
ligen generellen Strategie der DeZentrali
sierung) außerhalb von Paris errichtet wer
den, ein Baugrund im Osten Frankreichs
Abb. 2: Computerplatine, 2007
bei Nancy w u r d e d a r a u f h i n a u s g e s u c h t u n d ein A r c h i t e k t u r w e t t b e w e r b ausge
schrieben, den Nouvel 1985 gewann.
7Bei der Gestaltung seines Komplexes rekurrierte der Architekt dabei auf zwei, aus den Funktionen des INIST abgeleitete Metaphern: Da die Aufgabe des INIST un
ter a n d e r e m in der Verarbeitung von Da
ten und der daraus resultierenden Produk
tion und Auslieferung von I n f o r m a t i o n e n
I i H M L ^
Abb. 3: INIST, Nancy 1992, A r c h i t e k t j e a n Nouvel, Fotograf: Georges Fessy
!
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Abb. 4: Ansicht der Administrationswürfel des INIST, Nancy 1 992, Fotograf: Georges Fessy
b e s t e h t , k o n z i p i e r t e Nouvel d e n Gebäu
d e k o m p l e x im Erscheinungsbild eines Fa
b r i k g e l ä n d e s .
8Daher e r i n n e r n die Um
risse, Formen, Elemente u n d Materialien d e s INIST m i t ihrer WellblechhüttenÄs
thetik, den Schornsteinen, Rohren sowie den nach außen verlagerten Metalltreppen und Stahlverkleidungen an eine Raffinerie o d e r I n d u s t r i e n a n l a g e (Abb. 3).
Um j e d o c h z u r gleichen Zeit die elek
tronische Natur sowohl der »Rohstoffe« als auch des »Endprodukts« deutlich zu ma
chen, nähert Nouvel den Gebäudekomplex
zugleich immer wieder Formen an, die aus d e m Kontext m o d e r n e r I n f o r m a t i o n s t e c h nologie v e r t r a u t sind: So s e t z t er auf das die »Mikrografie«Abteilung b e h e r b e r g e n d e Gebäude drei Kuben, in d e n e n die Verwaltung u n t e r g e b r a c h t ist (Abb. 1, 3 u n d 4); in ihrer seriellen A n o r d n u n g er
innern diese Würfel an Transistoren oder P r o z e s s o r e n auf einer C o m p u t e r p l a t i n e (Abb. 2), w ä h r e n d ihre Fassaden a u f g r u n d d e r F o r m u n d A n o r d n u n g s m u s t e r d e r schmalen, rechteckigen Fenster die Asso
ziation zu den Lochstreifenkarten älterer
Verlorene Zeit und gefundener Raum in Jean Nouvels INIST 215
C o m p u t e r t e c h n i k h e r v o r r u f e n (Abb. 5).
D a rü b e r h i n a u s v e r w e i s e n die g l e i ß e n d
r o t e n Streifen, welche d a s a n s o n s t e n in Schwarz g e h a l t e n e D a t e n b a n k G e b ä u d e mit e i n e m Gitterwerk ü b e r z i e h e n , auf die Laserstrahlen, mit deren Hilfe Informatio
nen auf Trägermedien geschrieben bezie
h u n g s w e i s e von dort abgelesen w e r d e n . Derartige A u ß e n a n s i c h t e n der Gebäu
de f i n d e n sich in d e m eingangs erwähn
ten, 1992 v e r ö f f e n t l i c h t e n Buch vermit
tels Plänen (Abb. 6) sowie in Farbe wie in SchwarzWeiß g e h a l t e n e r Fotografien aus
f ü h r l i c h d o k u m e n t i e r t . Vom Inneren d e r Bauten zeigt d e r Band h i n g e g e n ledig
lich einige wenige u n d z u d e m nicht be
s o n d e r s instruktive Ansichten, die f e r n e r fast ausschließlich leere Räume u n d Bli
cke auf wieder nach außen weisende Fens
ter zeigen (Abb. 7). Die Aufgabe, den Le
ser b e z i e h u n g s w e i s e die Leserin des Bu
c h e s mit d e m von Menschen bevölkerten Inneren v e r t r a u t zu m a c h e n , wird i n d e s v o n Nouvels Text ü b e r n o m m e n , in d e m sowohl die Außen als auch i n s b e s o n d e re die I n n e n r ä u m e d e s INIST evoziert und b e s c h r i e b e n werden.
Jean Nouvels Erzählung
In A n b e t r a c h t der t e c h n o l o g i s c h e n Natur d e s G e b ä u d e k o m p l e x e s w ä r e vielleicht zu e r w a r t e n gewesen, d a s s d e r Architekt e h e r d a s d a z u p a s s e n d e Genre d e r Sci
enceFiction gewählt hätte, a b e r Nouvel hat sich s t a t t d e s s e n f ü r eine einfache, in d e r e r s t e n Person u n d im I m p e r f e k t ge
h a l t e n e E r z ä h l u n g e n t s c h i e d e n , die von
Lochstreifen
Kapazität 100 KB mittlere Zu- gnffszeit Sek.-Bereich Transferrate 200 B/Sek.
Vorteil kostengünstig bei kleinen Datenmengen Nachteil geringe Kapazität, langsam, hoher Platzbedarf
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Abb. 5: Darstellung und Erklärung eines Com
puterlochstreifens, 1996
j e m a n d e m zu s t a m m e n s c h e i n t , d e r an d a s INIST k o m m t , u m hier e i n e n Ange
stellten zu b e s u c h e n , diesen a b e r erst in d e n v e r s c h i e d e n e n A b t e i l u n g e n s u c h e n m u s s . Schritt f ü r Schritt w e r d e n Leser o d e r Leserin so d u r c h d e n Komplex ge
f ü h r t : A n g e f a n g e n von d e r A n k u n f t mit d e m Auto in d e r (bis h e u t e ) g e r a d e z u l ä n d l i c h e n U m g e b u n g d e s INIST bis z u d e m Moment, wo die Begegnung mit d e m Angestellten d e s INIST endlich in d e r Ca
feteria stattfindet, womit d e r A u s s c h n i t t a u s d e m Roman »Avis de recherche« a u c h e n d e t . Diese D r a m a t u r g i e e i n e r s c h r i t t weisen Annäherung ermöglicht es Nouvel, die Struktur seiner Architektur analytisch d a r z u l e g e n sowie zugleich d e r e n Erschei
n u n g s b i l d zu v e r m i t t e l n . Als d e r Erzäh
ler zu Beginn an d e m G e b ä u d e k o m p l e x a n k o m m t , wird folglich z u m e i n e n d a s Äußere d e s INIST mit seinen technologi
schen Merkmalen kurz b e s c h r i e b e n , wäh
r e n d sich z u m a n d e r e n z u g l e i c h Abfol
ge u n d A n o r d n u n g d e r e i n z e l n e n Gebäu
d e erklärt f i n d e n (so wird z u m Beispiel
deutlich g e m a c h t , d a s s die einmal verti
kal d u r c h den g a n z e n Komplex h i n d u r c h l a u f e n d e Brücke die vier sich d a r a n an
s c h l i e ß e n d e n G e b ä u d e wie eine Art Rück
grat m i t e i n a n d e r v e r b i n d e t : Abb. 1).
I n t e r e s s a n t e r w e i s e ä n d e r n sich mit d e m Eintreten in d a s Innere s o d a n n Stil u n d V e r f a h r e n s w e i s e d e s Textes, d e n n n u n w e r d e n die Dinge w e n i g e r k o n k r e t b e s c h r i e b e n als v i e l m e h r evoziert. Hier
bei spielen m e n s c h l i c h e Aktivitäten u n d E r i n n e r u n g e n eine große Rolle, d e n n im G e g e n s a t z zu den Fotografien d e s Buches mit s e i n e n m e n s c h e n l e e r e n A u f n a h m e n (Abb. 7) sind die G e b ä u d e in Nouvels Er
z ä h l u n g e n bevölkert: Als der Erzähler am Empfang des INIST die u m ihn h e r u m täti
gen Angestellten b e o b a c h t e t , e r i n n e r t er sich, »[...] s o u d a i n je r e s s e n t i s u n e etran
ge f a s c i n a t i o n p o u r ce lieu oü t o u t evo
quait le travail de precision et l'ordre. Je me rappelais le lointain e b l o u i s s e m e n t en
f a n t i n du ä la visite de l'höpital t o u t neuf oü m o n p e r e allait travailler. II m ' a v a i t t o u t m o n t r e : les a p p a r e i l s r a d i o g r a p h i q u e s , les b u r e a u x d e s c h i r u r g i e n s , les salles d ' o p e r a t i o n s ... Des m o t s oublies, e n f o u i s , e m e r g e a i e n t alors d ' u n e longue a m n e s i e : scialytique, o x y g e n e , a z o t e ...
m o t s p r e s t i g i e u x , m y s t e r i e u x d e n a t u r e ä p r o v o q u e r u n e vocation«.
9Und in d e r Tat e m p f i n d e t d e r Erzähler s o d a n n d e n Wunsch, e b e n f a l l s im INIST zu arbeiten, zu einem der Angestellten zu w e r d e n und zu ihrem Stab von »sages informaticiens«
d a z u z u g e h ö r e n .
1 0Mit d e r E r i n n e r u n g an d e n Kranken
h a u s b e s u c h wird nicht n u r auf eine d e r
H a u p t f u n k t i o n e n d e s INIST a n g e s p i e l t Daten d e r Vergangenheit f ü r die Z u k u n f t zu s a m m e l n , zu lagern u n d zu verarbei
t e n , s o n d e r n es wird a u c h d e r Faktor d e r Zeit an sich in d e n Fokus g e n o m m e n , n a c h d e m er s c h o n zuvor, bei d e r Annähe
r u n g an d a s Gebäude, a n g e k l u n g e n war:
Im N ä h e r t r e t e n v e r w e i s t d e r E r z ä h l e r z u m einen auf die Vergangenheit, i n d e m er mitteilt, d a s s d e r g e s u c h t e u n d verab
r e d e t e Mitarbeiter s c h o n seit einigen Jah
ren a m INIST arbeitet; z u m a n d e r e n wur
d e d a s n u n n ä h e r r ü c k e n d e Z u s a m m e n treffen ihm z u f o l g e in d e r Vergangenheit w i e d e r h o l t v e r s c h o b e n , u n d schließlich wird a n g e d e u t e t , d a s s die beiden sich zu e i n e m w e i t e r z u r ü c k l i e g e n d e n M o m e n t i h r e s Lebens b e r e i t s s c h o n e i n m a l ken
n e n g e l e r n t h a b e n . S o d a n n w e r d e n a u c h Gegenwart u n d Z u k u n f t a u f g e r u f e n u n d z u e i n a n d e r in B e z i e h u n g g e s e t z t , w e n n d e r d e m G e b ä u d e k o m p l e x n ä h e r t r e t e n de Erzähler sich den v e r a b r e d e t e n Ange
s t e l l t e n i r g e n d w o im I n n e r e n d e s INIST vorstellt, wie er g a n z in seine Arbeit ver
s u n k e n u n d noch weit d a v o n e n t f e r n t ist, an die in wenigen Minuten s t a t t f i n d e n d e Begegnung zu d e n k e n .
Es sind e b e n d i e s e Vorausgriffe u n d Rückblenden, eng v e r k n ü p f t mit und nicht selten sogar erst a u s g e l ö s t von der Archi
tektur, in d e r e n Räumen der Erzähler be
s t ä n d i g nach seiner V e r a b r e d u n g f r a g e n u n d s u c h e n m u s s , welche eine Atmosphä
re von Neugierde, S p a n n u n g u n d Erwar
t u n g sowohl im Erzähler wie i n s b e s o n d e re im Leser b e z i e h u n g s w e i s e in der Lese
rin a u s l ö s e n .
Verlorene Zeit und gefundener Raum in Jean Nouvels INIST 217
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Abb. 6: Doppelseite aus: Olivier Boissiere und Georges Fessy (Hg.): L'INISTdans l'ceuvre de Jean Nouvel, Paris 1 992
Atmosphäre, Raum und Zeit
Niklas Luhmann hat in seinen Schriften und hierbei insbesondere in seinem 1995 erschienenen Buch Die Kunst der Gesell
schaft Atmosphäre als etwas definiert,
das durch einen besetzten Raum erzeugt w i r d . " Er sieht dabei Zeit und Raum als Entitäten, die erst dadurch geschaffen werden, dass ein per se abstraktes und nicht wahrnehmbares »Medium« durch die »Form« unterschieden wird, welche das »Medium« überhaupt erst in Erschei
nung treten lasse.
12In Bezug auf den Raum macht Luhmann deutlich, dass dieser als Phänomen überhaupt erst sieht und
wahrnehmbar wird, wenn er mit einer spe
zifischen Form wie zum Beispiel vermit
tels einzelner, bestimmter Objekte zusam
menkommt: Wenn diese das Medium des abstrakten Raumes besetzten, entstün
den überhaupt erst distinkte Räume, Orte und Stellen
13, und dieser solcherart be
setzte Raum sowie die in ihm ermöglich
ten Handlungen und Ereignisse erzeugten dann Atmosphäre.
14In Nouvels Text ist es die Architektur der geometrischen, glänzenden, effizien
ten und nützlichen Gebäude des INIST, die
durch ihre verschiedenen Räume und.
ihre jeweiligen Zwecke strukturiert mit
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Abb. 7: Doppelseite aus: Olivier Boissiere und Georges Fessy (Hg.): L'INIST dans l'ceuvre de Jean Nouvel, Paris 1992
ihren eifrigen Mitarbeitern u n d der Inter
aktion mit d e n privaten u n d p e r s ö n l i c h e n E r i n n e r u n g e n d e s f a s z i n i e r t e n Erzählers eine A t m o s p h ä r e d e r Ü b e r r a s c h u n g , der S p a n n u n g u n d d e r E r w a r t u n g s c h a f f e n , welche am Schluss d e s Textes f ü r den Er
z ä h l e r wie f ü r den Leser b e z i e h u n g s w e i s e die Leserin sämtlich erfüllt w e r d e n frei
lich auf je u n t e r s c h i e d l i c h e Weise.
Denn erst mit d e m letzten Satz, w e n n der lange g e s u c h t e u n d erfragte INISTMit
arbeiter endlich auf den w a r t e n d e n Erzäh
ler trifft, wird deutlich, dass der Leser oder die Leserin nicht, wie sie es a n g e s i c h t s
d e s U m s t a n d e s h ä t t e n e r w a r t e n k ö n n e n , d a s s der Text a u s der Feder eines männli
chen Architekten s t a m m t , d e m Bericht ei
nes Mannes gefolgt ist. Vielmehr erweist sich die H a n d l u n g plötzlich als tatsäch
lich a u s d e r Perspektive einer Frau erlebt und erzählt: Während z u v o r j e d e r eindeu
tige Verweis auf das Geschlecht des Erzäh
lers s o r g s a m v e r m i e d e n w u r d e er w u r d e zu Beginn vielmehr als »un h y p o t h e t i q u e visiteur«
1 5e i n g e f ü h r t u n d u n t e r Rück
griff auf einen Kunstgriff, der nur in Spra
c h e n wie z. B. d e m F r a n z ö s i s c h e n o d e r
d e m Italienischen möglich ist, in d e n e n
Verlorene Zeit und gefundener Raum in Jean Nouvels IIMIST 219
die Endung des Partizips Perfekt d e m Ge
schlecht d e s Partizips folgt, enthüllt Nou
vel erst am Ende seines Textes mithilfe ei
nes einzigen Buchstabens einem »e« , d a s s der Leser b e z i e h u n g s w e i s e die Lese
rin die Erlebnisse und Erwartungen einer Frau verfolgt haben, die an das INIST ge
k o m m e n ist, um ihren f r ü h e r e n Geliebten w i e d e r z u s e h e n , d a b e i o f f e n b a r auf eine m ö g l i c h e W i e d e r a u f n a h m e ihrer abge
b r o c h e n e n Beziehung hoffend: »Puis une main se p o s e sur m o n epaule. Son sourire me fit i m m e d i a t e m e n t c o m p r e n d r e que je n'etais pas v e n u e pour rien.«
1 6Polykontexturalität und
»Architexture«
Diese z u n ä c h s t v e r k a p p t e u n d n u r an
g e d e u t e t e Liebesgeschichte ist vielleicht auch d e r Grund, weshalb der Text als Aus
schnitt a u s einem »roman de gare« aufge
fasst werden soll. Zur gleichen Zeit j e d o c h v e r m a g d e r Text es, eine Eigenart zu inter
p r e t i e r e n , die L u h m a n n f ü r K u n s t w e r k e allgemein, im Besonderen j e d o c h f ü r Ar
c h i t e k t u r wie folgt definiert hat: »Es wer
d e n im Einzelwerk, vor allem in d e r Ar
chitektur, lokale Beobachterpositionen ge
schaffen, von d e n e n Anderes jeweils an
d e r s a u s s i e h t als von a n d e r e n Positionen a u s , die e b e n f a l l s v o r g e s e h e n [...] sind.
Kunstwerke werden, a n d e r s gesagt, poly
kontextural angelegt.«
1 7Eben eine solche »Polykontexturalität«
wird auf d a s Geschickteste auch in Nou
vels Text ausgespielt, wenn Leser oder Le
serin diesem z u n ä c h s t in der unkritischen
A n n a h m e folgen, d e r E r z ä h l u n g e i n e s Manns zu folgen, der einen a n d e r e n Mann a m INIST sucht und findet u m d a n n erst a m Ende zu begreifen, dass er oder sie die ganze Zeit die Beschreibung einer Frau ge
lesen haben, die hofft, d a s s a u s g e r e c h n e t das INIST z u m Ort einer möglichen Erneu
e r u n g ihrer Beziehung werden möge: Der Text hat einen neuen Kontext b e k o m m e n u n d lädt d a z u ein, z u s c h a u e n , ob sich nun, von der a n d e r e n , neuen Position aus, das in ihm Dargelegte vielleicht etwas an
ders darstellt.
Zugleich verbeugt sich Nouvels spiele
r i s c h k o n s e q u e n t e Unterlassung von Hin
weisen auf d a s Geschlecht des Erzählers und seine letztendliche Auflösung u n t e r Angabe der weiblichen »e«Endung in »ve
nue« auch vor einem a n d e r e n Autor und seinen Bestrebungen, Sprache und Archi
tektur zu einer Art von »Architexture« zu verbinden
1 8: Schon die p r o s a i s c h e Benen
n u n g von Nouvels fiktivem R o m a n a u s schnitt »Avis de recherche« verweist auf den ähnlich trockenen Titel von Georges Perecs 1978 v e r ö f f e n t l i c h t e m Roman La
vie - mode d'emploi, wo ebenfalls ein Gebäude, hier ein Wohnhaus in Paris, mithil
fe literarischer Strategien »erbaut« wird;
d a r ü b e r h i n a u s ist j e d o c h d e r U m s t a n d h e r v o r z u h e b e n , d a s s auch Perec, mit des
sen Person und Werken Nouvel ü b e r sei
nen Lehrer Paul Virilio b e s t e n s v e r t r a u t sein dürfte
1 9, in seinen Romanen La Dis-
pahtion (1969) und Les Revenentes(1972) e b e n f a l l s d e m B u c h s t a b e n »e« eine be
s o n d e r e Bedeutung verliehen hat, i n d e m
er seine V e r w e n d u n g in La
Disparitionk o m p l e t t vermied u n d ihn d e m g e g e nü b e r
in Les Revenentes z u m einzig v e r w e n d e t e n Vokal machte.
2 0Architekturkritik und Literatur Seit den f r ü h e n 1960er Jahren bis h e u t e beklagen Architekten und Architekturthe
oretiker v e r s c h i e d e n e r geografischer Her
k u n f t gleichermaßen den Umstand, dass es w e d e r u n t e r den Architekten selbst noch u n t e r J o u r n a l i s t e n eine wirkliche Traditi
on u n d Kultur a n g e m e s s e n e r Architektur
b e s c h r e i b u n g gibt: Bücher oder Zeitschrif
ten tendieren noch i m m e r dazu, Pläne und Fotografien von k u r z e n , eher uninspirier
ten u n d t r o c k e n e n Texten s e k u n d i e r e n zu lassen, in d e n e n vor allem der praktische Zweck d e s Baus und seine technischma
t h e m a t i s c h e n Daten B e h a n d l u n g finden, nicht j e d o c h die vor u n d in d e m Gebäu
de zu m a c h e n d e n sinnlichen Erfahrungen.
Mehr noch: Anstatt den Lesern einen An
reiz zu g e b e n , sich d a s m ö g l i c h e Leben im Inneren vorzustellen, f ü h r t die häufige Konzentration auf Außenfotografien dazu, d a s s d e m solcherart in d e n Fokus gerück
ten ä u ß e r e n Erscheinungsbild eine über
mäßige A u f m e r k s a m k e i t g e s c h e n k t wird.
Dies kann Architekten w i e d e r u m d a z u er
m u n t e r n , sich bei ihren k ü n f t i g e n Projek
ten vor allem mit d e r A u ß e n w i r k u n g ihrer Bauten zu b e s c h ä f t i g e n , a n s t a t t ü b e r die r ä u m l i c h e n Wirkungen des Inneren nach
z u d e n k e n . In vielen Beschreibungen, auf Fotografien, Illustrationen u n d Präsenta
tionen der Gebäude sind n u r selten Men
s c h e n zu s e h e n , d e r e n A b w e s e n h e i t die
Architektur g e r a d e z u wie eine selbst or
g a n i s i e r t e , a u t o n o m e Maschine w i r k e n lässt.
2 1Bereits 1964 wies der a m e r i k a n i s c h e Architekt T h o m a s C r e i g h t o n auf eine mögliche Lösung d e s Problems hin, als er schrieb: »Ce n'est ni c h e z les architectes, ni c h e z les critiques p r o f e s s i o n n e l s q u e l'on trouve les m a i t r e s de la d e s c r i t p i o n visuelle, m a i s c h e z les e c r i v a i n s [ ,.].«
22Obgleich diese Einschätzung von Kollegen wie z. B. d e m Architekturhistoriker Marcel Cornu geteilt und u n t e r s t ü t z t wurde, der 1968 schrieb: »II f a u t sortir de l'architec
ture pour e n t e n d r e l'architecture«
2 3, wies Pierre Vago bereits v o r h e r auf die Gründe hin, w a r u m seine Landsleute u n f ä h i g sei
en, von den »maitres de la d e s c r i p t i o n vi
suelle« zu lernen: »[...] les a r c h i t e c t e s re
g a r d e n t , ils ne lisent pas. [...] l'architec
te f r a n c a i s n'a plus, ou ne p r e n d plus, Ie t e m p s de lire et de reflechir.«
2 4Daher fühlte sich ein Architekt und Jour
nalist wie PierreAlain Croset noch 20 Jah
re später dazu herausgefordert, über mög
liche Lösungen f ü r das weiterhin bestehen
de Problem einer fehlenden, qualifizierten und anspruchsvollen Architekturbeschrei
bung n a c h z u d e n k e n . In seinem 1988 ver
öffentlichten Artikel »The Narration of Ar
chitecture« schlug er im Gefolge von Cor
nu, Creighton und Vago vor, eine solche Be
schreibung an literarischen Erzählungen zu orientieren, da der Autor auf diese Weise auch die zeitlichen Abläufe bei der Erkun
d u n g eines Gebäudes und die Totalität der
dabei gemachten Erfahrung vonseiten der
Besucher am besten vermitteln könne.
2 5Verlorene Zeit und gefundener Raum in Jean Nouvels INIST 221
Liest man den vier Jahre nach »The Narration of Architecture« veröffentlich
ten Text »Avis de recherche« von Jean Nouvel in diesem Licht, so scheint es ge
radezu, als habe sich der Architekt (des
sen Kampfruf »L'avenir de l'architecture n'est plus architectural«
26sich geradezu wie ein Echo von Cornus oben zitierter Aufforderung ausnimmt) damit von einem folgsamen Leser von Crosets Text in den dort imaginierten, idealen Autor verwan
delt: Nouvel wendet nicht nur das dort ge
forderte Mittel der literarischen Erzählung an, um die räumlichen und zeitlichen Er
fahrungen zu vermitteln, welche die Be
sucher des INIST innen wie außen machen können, sondern er überschreitet zugleich die Grenzen zwischen dem Architekten, dem Leser und dem Kritiker in einer Wei
se, wie Croset es sich gewünscht hatte
27, da Nouvel das INIST nicht vom Standpunkt des Architekten aus beschreibt, sondern aus dem Blickwinkel der Besucherin, die hier nach einem früheren und möglicher
weise wieder künftigen Geliebten sucht und daher (wie Nouvel es in seiner Einlei
tung zu dem »RomanAusschnitt« formu
liert) »particulierement sensible« für das ist, was sie nach und nach entdeckt.
28»Espace percu,concu, vecu«
In diesem Zusammenhang betrachtet, kann die Entscheidung Nouvels, seinen Text als Ausschnitt aus einem billigen Roman von einem Bahnhofskiosk zu prä
sentieren, geradezu auch als ebenso iro
nischer wie sarkastischer Seitenhieb auf
den Umstand verstanden werden, dass der französische Architekt keine Zeit hat be
ziehungsweise sich keine Zeit nimmt, »de lire et de reflechir«: Er scheint folglich erst zum Lesen verführt werden zu müssen, indem man ihm leichte Kost anbietet.
Zugleich nimmt Nouvel offenbar die zuvor von Creighton und seinen Kolle
gen formulierte Einladung an, sich um ei
nen kritischen Architekturdiskurs zu be
mühen, der für die sozialen und emoti
ven Aspekte eines Gebäudes sensibler werden lässt. Er verwendet in seiner ar
chitektonischen »Suchanzeige« daher an keiner Stelle das unter Architekten übli
che technische SpezialistenVokabular, um das Äußere und Innere des INIST zu beschreiben; stattdessen evoziert er ver
mittels der Erzählung die Architektur und ihre verschiedenen Räume, indem er et
was Beachtung schenkt, das man mit Luh
mann als »Atmosphäre« oder, dem fran
zösischen Soziologen Henri Lefebvre fol
gend, als »l'espace vecu« bezeichnen könnte: Lefebvre verwendete den Begriff in seinem 1974 erschienenen Buch La pro-
duction de l'espace, um eine Verfahrensweise zu beschreiben, die (bei allen Un
terschieden im Detail) in gewisser Weise derjenigen Luhmanns ähnelt: Lefebvre be
schreibt drei verschiedene, aber miteinan
der vermittelte Arten von Raum »l'espa
ce percu«, »l'espace concu« und »l'espa
ce vecu«
29, wobei er Ersteren (den wahr
genommenen Raum) als eine materielle, physisch und empirisch messbare, »abso
lute« Entität definiert, der gegenüber der
zweite (der konzipierte Raum) eine bereits
i n d i v i d u a l i s i e r t e , s u b j e k t i v e u n d reflek
tierte Form darstelle, » m a d e u p of projec
tions into the empirical world«
3 0, welche somit v o m m e n s c h l i c h e n Geist interpre
tiert, g e f o r m t u n d v e r ä n d e r t w e r d e . Der d r i t t e T y p u s (der g e l e b t e Raum) ist i h m z u f o l g e die soziale Sphäre d e r Bewohner u n d Benutzer d e s a u s d e m k o n z i p i e r t e n Raum r e s u l t i e r e n d e n Gefüges. Stark ver
e i n f a c h t g e s a g t : Der » w a h r g e n o m m e n e Raum« ist z u m Beispiel der Raum des Geo
g r a f e n , d e r » k o n z i p i e r t e Raum« ist der
jenige des Architekten, u n d der »gelebte Raum« ist d e r j e n i g e d e s Bewohners o d e r B e s u c h e r s d e r g e s c h a f f e n e n Architektur.
Der »gelebte Raum« ist also nicht von Zah
len u n d Maßen, s t a r r e n A b s t ä n d e n , Gera
den oder Winkeln b e s t i m m t , s o n d e r n wird vielmehr durch die p e r s ö n l i c h e n Erlebnis
se und Erfahrungen in einem u m g e b e n d e n Raum definiert.
In N o u v e l s Text wird d i e s e r A s p e k t d u r c h die Erinnerungen deutlich gemacht, welche z u m Teil alleine d u r c h die Gebäu
de u n d die in i h n e n a n g e t r o f f e n e Atmo
s p h ä r e a u s g e l ö s t w e r d e n . Zugleich d e u t e t seine Formulierung von d e m »[...] rencon
tre l o n g t e m p s differee et t r o p attendue«
3 1an, dass diese zu lange Wartezeit in gewis
ser Weise als eine verlorene Zeit angese
h e n wird. Aber mit d e m INIST hat die Er
z ä h l e r i n einen Raum g e f u n d e n u n d ent
deckt, f ü r den sie »particulierement sen
sible« ist u n d der, wie in Marcel Prousts Roman Ä la recherche
du temps perdu32,ihre E r i n n e r u n g e n s t i m u l i e r t u n d struk
turiert sowie zugleich die e n t s p r e c h e n d e U m g e b u n g f ü r eine Begegnung mit ihrer
Vergangenheit liefert, welche schließlich in ihre Z u k u n f t h i n a u s w e i s t .
»Madeleines architecturales«
In e i n e r k r i t i s c h e n B e s p r e c h u n g d e r Ar
c h i t e k t u r Aldo Rossis
3 3h a t David Man
gin d e s s e n G e b ä u d e als p r a k t i s c h e An
w e n d u n g der S c h l ü s s e l s z e n e von Prousts
A la rechercheinterpretiert, wo verloren g e g l a u b t e E r i n n e r u n g e n d u r c h G e r ü c h e u n d Aromen a u s g e l ö s t u n d w i e d e r b e l e b t w e r d e n seine B e z e i c h n u n g v o n Rossis S c h ö p f u n g e n als » m a d e l e i n e s architectu
rales«
3 4greift mit seiner Mischung von Ar
c h i t e k t u r und Erinnerung deutlich Gaston Bachelards Idee der »poetique de l'espa
ce« auf, wo das Konzept eines Hauses als A n a l y s e i n s t r u m e n t z u r E r f o r s c h u n g d e r m e n s c h l i c h e n Seele u n d ihrer Erinnerun
gen e i n g e s e t z t wird.
3 5Neil Leach hat 2006 eine künftige, ideale Architektur entwor
fen, in der Vergangenheit, Gegenwart u n d Z u k u n f t i n t e r a g i e r e n ; es mit Bachelards Idee e i n e s » m a i s o n onirique« kombinie
r e n d , e r s a n n Leach »in a v e r y Prous
tian way [...] itself a type of introjection of previous experiences«
3 6, wie er selbst schreibt ein Gebäude, d a s seine eigene Zukunft, auch im Hinblick auf seine mög
liche Interaktion mit k ü n f t i g e n Betrach
tern u n d Besuchern, v o r w e g n i m m t : »[...]
an architecture, then, of the >future per
fect< tense, which a t t e m p t s to predict, by e x h a u s t i v e a n a l y s e s , t h e activities t h a t will h a v e h a p p e n e d . «
3 7Die A r c h i t e k t u r w ä r e d a h e r z u g l e i c h b e s t r e b t , e i n e n in
t e n s i v e n Eindruck bei d i e s e n Besuchern
Verlorene Zeit und gefundener Raum in Jean Nouvels INIST 223
u n d Betrachtern zu hinterlassen und wür
d e » t h r o u g h its poetic intent, [...] f o r c e o p e n t h e s u b j e c t , b r o a d e n it, and intro
d u c e it to new horizons«.
3 8Genau d i e s simuliert Nouvels INIST
Text, d e s s e n Keimzelle aus der Planungs
p h a s e des Projekts stammt
3 9und der hier b e r e i t s v e r s u c h t e , die m ö g l i c h e n Reak
tionen auf die Architektur v o r w e g z u n e h men: Während ihrer Annäherung und beim D u r c h s c h r e i t e n d e s INIST wird die Prota
gonistin d e s fiktiven Romans an ihre Ver
g a n g e n h e i t g e m a h n t , deren Erinnerungen sie f ü r die auf sie w a r t e n d e Zukunft vor
bereiten.
Aber Nouvels Erzählung will nicht vor
schreiben, was j e d e r Besucher d e s INIST g l e i c h e r m a ß e n zu e r l e b e n u n d zu e m p finden hat: Wie Nouvel in der k u r z e n Ein
f ü h r u n g zu d e m v e r m e i n t l i c h e n Roman
a u s s c h n i t t betont, handelt es sich bei den dort mitgeteilten Eindrücken nicht um die
j e n i g e n des »typischen« Besuchers, son
d e r n v i e l m e h r u m diejenigen eines »hy
o t h e t i q u e visiteur« dies wohl auch d e r G r u n d , w e s h a l b er d e n b e s o n d e r e n u n d sehr persönlichen Rahmen einer unterbro
c h e n e n Liebesgeschichte wählte, die f ü r den d u r c h s c h n i t t l i c h e n Besucher d e s Ge
b ä u d e k o m p l e x e s in Nancy eher a t y p i s c h sein d ü r f t e .
bei d e m Bahnhof von Perpignan, wo das Buch angeblich g e k a u f t wurde, handelt es sich nicht einfach u m irgendeinen Bahn
hof: Als der s p a n i s c h e Surrealist Salvador Dali
40P e r p i g n a n im J a h r e 1963 b e s u c h te, erlebte er bei seiner A n k u n f t am Bahn
hof angeblich eine ekstatische Vision, die ihn d a z u veranlasste, den Ort d i e s e s Er
lebnisses z u m Z e n t r u m d e s U n i v e r s u m s zu erklären. Auf dieses Ereignis wird noch h e u t e am Bahnhof von Perpignan verwie
sen: Auf einem der HauptBahnsteige so
wie auf den u m d a s Gebäude h e r u m ver
teilten Grenzsteinen sind die Worte »Per
p i g n a n Centre d u Monde« g e s c h r i e b e n . In Anlehnung an diese Erfahrung m a c h t e Dali den »Gare du Perpignan« a u c h z u m Hauptgegenstand eines gleichnamigen, im Jahre 1965 a u s g e f ü h r t e n Gemäldes (Köln, M u s e u m Ludwig) u n d er e r k l ä r t e einige Jahre später, d a s s die iberische Halbinsel vor 123 Millionen J a h r e n g e n a u an d e m Ort rotiert habe, wo sich h e u t e der Bahn
hof von Perpignan befindet.
4 1Nouvels fiktiver R o m a n »Avis d e re
cherche« mag zwar vom u n t e r s t e n Regal eines Bahnhofskiosks s t a m m e n er w u r d e damit j e d o c h n i r g e n d w o weniger als am
»Zentrum d e s Universums« e r s t a n d e n .
Das Zentrum des Universums Ein a b s c h l i e ß e n d e r Blick v e r m a g zu
letzt a u c h z u zeigen, d a s s selbst h i n t e r
d e r Angabe d e r g e o g r a f i s c h e n Lage d e s
B a h n h o f s eine klare Absicht steht, d e n n
Anmerkungen
1 Jean Nouvel: Avis de recherche, in: Olivier Bois
siere und Georges Fessy (Hg.): L'INIST dans l'oeuvre de Jean Nouvel, Paris 1992, S. 2730.
2 Vgl. Jean Nouvel: Fragments: en differe ... in
terview, en directs..., in: L'architecture d'aujourd'hui, Bd. 231, 1984, S. 214, hier S. 9.
Frederic Migayrou, Les desseins du concept, in:
Chantal Beret (Hg.), Jean Nouvel, Ausst.Kat.
Centre Georges Pompidou, Paris 1992 (n. pag.).
Olivier Boissiere: Jean Nouvel, Basel 1996, S. 11, wo allerdings mit 1970 ein falsches Jahr für die Diplomarbeit angegeben wird.
3 Die Entstehung der Erzählung ist recht komplex:
Nouvel stellte anlässlich des ausgeschriebenen Wettbewerbs sein INISTProjekt im Juli 1985 an
hand einer Reihe von Plänen sowie eines vier
seitigen Begleittextes mit dem Titel »La beaute de l'efficacite« vor. Darin heißt es an einer Stel
le (S. 2): »Mais, ahn de mieux situer sur quel re
gistre esthetique joue le bätiment, decrivons les impressions d'un hypothetique visiteur particu
lierement sensible ä ce qu'il decouvre (impres
sions recueillies page 83 dans le roman >Avis de recherche<, achete au rayon le plus bas du kios
que de la gare de Perpignan ...).« Dessen un
geachtet folgt der so angekündigte Ausschnitt aus dem Roman tatsächlich jedoch nicht. Nou
vel veröffentlichte diesen Text kurz darauf, wo
bei er allerdings den Satz mit der Ankündigung des fiktiven Romanausschnitts strich: vgl. Jean Nouvel: La beaute de refficacite. Centre de la Do
cumentation du C. N. R. S., Nancy, in: L'architec
ture d'aujourd'hui, Bd. 242, 1985, S. 3841 (mein herzlicher Dank geht an Charlotte Huisman von den Ateliers Jean Nouvel in Paris, die mir freund
licherweise den ursprünglichen Text von Nou
vel zugänglich gemacht hat). Es scheint also, als habe Nouvel die »impressions recueillies« aus dem fiktiven Roman erst 1992 verfasst, als das hier in Anm. 1 aufgeführte Buch geplant wur
de. Allerdings hat er hierbei willentlich Spuren des Kontextes hinterlassen, aus dem der »Aus
schnitt« aus »Avis de recherche« ursprüng
lich stammt, indem er in seinen Beschreibun
gen der Gebäude zum Teil auf Details verweist, die in den ersten Plänen noch vorgesehen wa
ren, dann aber nicht realisiert wurden so z. B.
die in »Avis« beschriebenen »grandes antennes
circulaires« auf dem Dach eines Gebäudes oder der dort ebenfalls erwähnte »heliport«. All die
se Details sind auf den ursprünglichen, 1985 veröffentlichten Plänen zu sehen, werden dort in den darauf Bezug nehmenden Beschreibun
gen erwähnt und finden sich schließlich auch noch in Nouvels 1992 veröffentlichtem »Avis de recherche«Text.
4 Nouvel 1992 (wie Anm. 1), S. 27.
5 Vgl. »roman de gare« = »airport novel«, in: Jean
Benoit OrmalGrenon und Natalie Pomier: The Concise OxfordHachette French Dictionary, Ox
ford 2004. Auch online unter http://www.oxford reference.com [Abruf: 22. 11.2009].
6 Vgl. dazu auch das Urteil von Conway Lloyd Mor
gan: Jean Nouvel. The Elements of Architecture, New York 1998, S. 189: »As a piece of romantic fiction, it is too long on descriptions of the loca
tion of this brief encounter and too Short on the emotions and passions of the protagonists. 1t would seem that Jean Nouvel, the author, made the right career choice in opting for architec
ture.«
7 Boissiere 1996 (wie Anm. 2), S. 104109.
8 Nouvel 1985 (wie Anm. 3), S. 40.
9 Nouvel 1992 (wie Anm. 1), S. 29.
10 Nouvel 1992 (wie Anm. 1), S. 30.
11 Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1995, S. 181.
12 Luhmann 1995 (wie Anm. 11), S. 180.
13 Ebd. Das Englische mit seiner Unterscheidung von »space« (Luhmanns abstraktem, unbesetz
tem Medium) und »room« (Luhmanns konkre
tem, besetztem, Atmosphäre erzeugendem Raum) macht ein Nachvollziehen von Luhmanns Darle
gungen leichter.
14 Luhmann 1995 (wie Anm. 11), S. 181.
15 Nouvel 1992 (wie Anm. 1), S. 27.
16 Nouvel 1992 (wie Anm. 1), S. 30 (Hervorhebung des Verf.).
17 Luhmann 1995 (wie Anm. 11), S. 485.
18 Für diesen Begriff vgl. Peta Mitchell: Construct
ing the Architext: Georges Perec's >Life a User's Manual<, in: Mosaic a journal for the interdis
ciplinary study of literature, Bd. 37/1, 2004, S. 116, wo der Begriff in Abgrenzung von des
sen Gebrauch bei Mary Ann Caws und Gerard Genette als »a text in which architecture
Verlorene Zeit und gefundener Raum in Jean Nouvels INIST 225
and literature are so thoroughly imbricated that book and building become one« definiert wird.
19 Perec steuerte 1974 seinen Text »Especes d'es- paces« zu ViriMos Reihe »L'Espace critique« bei, der als Vorbereitung und Ausgangspunkt für sei
nen Roman La vie - mode d'emploi diente. Vgl.
dazu Mitchell 2004 (wie Anm. 18), S. 2, und Re
nate Overbeck: Georges Perec: Das Leben Ge
brauchsanweisung. Der Roman als Puzzle, Ann
weiler am Trifels 2003, S. 1417. Für Nouvels frühe Beziehung zu Virilio vgl. die von ihm mit
geteilten Erinnerungen in: World Architects in their Twenties, Tokio 1999, S. 4475, hier be
sonders S. 5359 und S. 67.
20 Zu Perec vgl. Mitchell 2004 (wie Anm. 18), Over
beck 2003 (wie Anm. 19) und Katja RechPietsch
ke: Die Semiologie des transparenten Gebäudes.
Raum Zeit Tod bei Lesage, Zola, Butor und Pe
rec, Frankfurt am Main u. a. 1995.
21 Vgl. Christophe Camus: Lecture sociologique de l'architecture decrite, Paris 1996, S. 8890.
22 Thomas Creighton in: L'architecture d'au
jourd'hui, Bd. 34, 1964/65, S. 2324, hier S. 24.
Vgl. auch den Wiederabdruck von Creightons Text unter dem neuen Titel »Critique, criteres, posture« in: Agnes Deboulet, Rainier Hodde und Andre Sauvage (Hg.): La critique architecturale.
Questions frontiers desseins, Paris 2008, S. 137142, hier S. 140.
23 Vgl. Marcel Cornu: Autocritique du critique, in:
Deboulet/Hodde/Sauvage 2008 (wie Anm. 22), S. 3751, hier S. 51.
24 Pierre Vago in: L'architecture d'aujourd'hui, Bd. 34, 1964/65, S. 45, hier S. 5, und in Debou
let/Hodde/Sauvage 2008 (wie Anm. 22) unter dem neuen Titel »La critique architecturale: en
tre carcan et utilite«, S. 2836, hier S. 33 f.
25 PierreAlain Croset: The Narration of Architec
ture, in: Beatriz Colomina und Joan Ockman (Hg.): Architecture Reproduction, New York 1988, S. 201211, hier S. 208. Crosets Kon
zept wurde in der Folge von Christophe Camus übernommen, vgl. Christophe Camus: De l'in
teret pour l'architecture des pseudo critiques [2004], in: Deboulet/Hodde/Sauvage 2008 (wie Anm. 22), S. 241249, der dort die Notwen
digkeit und die Herausforderung formuliert (S. 247), »de faire de l'architecture avec des
mots«. Für eine Reflexion über die Konsequen
zen eines solchen narrativen Verfahrens vgl. Ca
mus 1996 (wie Anm. 21), S. 96, der wie zuvor Croset 1988 (wie Anm. 25), S. 209 auf Paul Ri
coeurs »Temps et recit« (19831985) als mögli
ches narratologisches Vorbild verweist.
26 Vgl. Jean Nouvel: 1980: L'avenir de l'architec
ture n'est plus architectural, in: Les cahiers de la recherche architecturale, No. 67: Architecture 1980: Doctrines & Incertitudes, Oktober 1980, S. 86.
27 Croset 1988 (wie Anm. 25), S. 211: »Atthispoint it becomes clear how [...] it would be impossible to distinguish between the architect whose work is being published, the reader, and the critic.«
Nouvel scheint sogar mit eben diesem Gedanken zu spielen, wenn er einen Text, den er (»the ar
chitect«) selbst geschrieben hat, als einen Aus
schnitt aus einem Roman präsentiert, den er ge
lesen haben will (»the reader«) und in dem die in einem Gebäude gemachten Erfahrungen be
schrieben werden (»the critic«).
28 Nouvel 1992 (wie Anm. 1), S. 27.
29 Henri Lefebvre: La production de l'espace, Paris 1974, S. 50. Nouvel zitiert aus Lefebvres Buch in seinem Artikel »L'impossible urbanite«, in: Ä la recherche de l'urbanite, Ausst.Kat. Biennale de Paris: Premiere exposition d'architecture ä Paris, Paris 1980, S. 3334, hier S. 33.
30 Edward W. Soja: Thirdspace Journeys to Los An
geles and other realandimaginedplaces, Cam
bridge (Mass.) 1996, S. 79.
31 Nouvel 1992 (wie Anm. 1), S. 28.
32 Vgl. dazu u. a. Ellen Eve Frank: Literary Archi
tecture. Essays Toward a Tradition. Walter Pa
ter, Gerard Manley Hopkins, Marcel Proust, Hen
ry James, Berkeley/Los Angeles/London 1979, hierbei speziell das Kapitel III: »The Stored Con
sciousness«, S. 113165, hier besonders S. 154:
»[...] Proust's architectural device stimulates and structures memory [...]«, sowie Overbeck 2003 (wie Anm. 19), S. 9091.
33 David Mangin: L'AideMemoire, in: L'architecture d'aujourd'hui, Bd. 242, 1985, S. VIX. Es han
delt sich hierbei interessanterweise um genau jene Ausgabe der Zeitschrift, in der Nouvel sei
ne oben (vgl. Anm. 3) erwähnte Beschreibung des INISTProjekts veröffentlichte.
34 Mangin 1985 (wie Anm. 33), S. V.
35 Gaston Bachelard: La poetique de l'espace, Paris [1957] 1981, S. 19, 33 und 77. Wie Boissiere 1996 (wie Anm. 2), S. 54, darlegt, hat Nouvel 1982 Bachelards Typologie des Hauses in seinem Freizeitzentrum Les Godets in Antony (Frank
reich) aufgegriffen, wobei er allerdings die un
terschiedlichen Etagen nicht in einer horizonta
len, übereinandergestaffelten, sondern in einer vertikalen, aufeinanderfolgenden Sequenz an
ordnet.
36 Neil Leach: Camouflage, Massachusetts 2006, S. 143.
37 Leach 2006 (wie Anm. 36), S. 97.
38 Leach 2006 (wie Anm. 36), S. 221.
39 Vgl. dazu Anm. 3.
40 Der mit dem Bahnhof von Perpignan erfolgte SurrealismusVerweis wird später weitergeführt.
So ist der in der Erzählung erwähnte (und in der gebauten Wirklichkeit nicht existierende) Lese
raum des INIST nach einem gewissen »Andre Normand« benannt. Dies war das Pseudonym des Schriftstellers Christian Dotremont, das die
ser annahm, um sich über den Anführer der sur
realistischen Bewegung, Andre Breton, lustig zu machen er verwendete das Pseudonym u. a. in der gemeinsam mit NoeT Arnaud 1948 organi
sierten Ausstellung und Publikation Le Surrea- lisme en 947, Patalogue Ofpciel de l'Exposition Internationale du Surrealisme, einer Parodie auf Bretons und Marcel Duchamps Ausstellung und Katalog Le Surrealisme en 1947.
41 Gerhard Kolberg (Hg.): Salvador Dali. La Gare du Perpignan. Pop, Op, Yesyes, Pompier, Ostfil
dernRuit 2006, S. 36.