RUNDBRIEF FOTOGRAFIE
Analoge und digitale Bildmedien in Archiven und Sammlungen
Rundbrief Fotografie, Vol. 23 (2016), N
Der aus Pest im damaligen Österreich-Ungarn stammende und als Maler ausgebildete Otto Schoefft (1833 – ca. 1900) hatte mit seinen von den Zeitgenossen viel gepriesenen foto- grafischen Genreszenen, die er im Auftrag des ägyptischen
Vizekönigs Ismail Pascha im Hinblick auf die Wiener Welt- ausstellung von 1873 schuf, für die Gattung neue Maßstäbe gesetzt [1]. Die Aufnahmen wurden spätestens 1875 als Serie von 91 Albuminabzügen unter dem Titel Le Caire pittoresque
Felix Thürlemann
AUSGESCHIEDEN,
ABER NICHT WEGGEWORFEN
Ägyptenfotografien von Otto Schoefft in einem Album des Pariser Musée d’art et d’histoire du Judaïsme
Im 19. Jahrhundert hatten professionelle Fotografen bis- weilen die Gewohnheit, aus der gleichen Kameraposition nacheinander zwei Platten zu belichten. Vor allem bei auf- wendig arrangierten Genreszenen lässt sich diese Praxis beobachten. Manche Fotografen archivierten, falls mehr als eines von ihnen befriedigend war, beide Negative und machten Abzüge von beiden, andere veräußerten die je- weils weniger gelungene Platte an einen Konkurrenten. Den zweiten Weg wählte auch der aus Pest im damaligen Öster- reich-Ungarn stammende Otto Schoefft (1833 – ca. 1900), einer der ambitioniertesten unter den in Ägypten tätigen europäischen Fotografen. Der Vergleich der ausgeschiede- nen Aufnahmen mit jenen, die Schoefft selbst vertrieben hat, erlaubt es, der Frage nachzugehen, an welchen ästhe- tischen Kriterien und technischen Standards der Fotograf sich bei seiner Arbeit und der anschließenden selbstkriti- schen Sichtung der Resultate orientiert hat.
Rejected, But Not Discarded: Photographs of Egypt by Otto Schoefft in an Album of the Musée d’Art et d’Histoire du Judaïsme, Paris
In the 19th century professional photographers occasion- ally had the habit to expose two successive plates from the same camera position. This practice can particularly be observed with elaborately arranged genre scenes. If more than just one of the negatives was satisfactory, some photo- graphers archived both plates and also made prints from both of them; others would sell the less successful plate to a competitor. Otto Schoefft (1833 – about 1900), a native of Pest in former Austria-Hungary and one of the most ambi- tious of the European photographers operating in Egypt, chose the latter path. A comparison of the rejected photo- graphs with those that Schoefft sold gives us an insight into Schoefft’s aesthetic criteria, technical standards and his self-critical examination of the results.
Abb. 3 – „Tombeaux des Mameluks“, Auf- nahme Nr. 58 in Le Caire pittoresque, um 1872, Albuminabzug, 24,7 x 19,5 cm (Österreichische Nationalbibliothek ÖNB, Bildarchiv, Inv. FKB *2886, 58).
Abb. 2 – Minarette und Mamelukengräber in Kairo, um 1872, Albuminabzug, 25,5 x 20 cm, Aufnahme nach einer von Schoefft aus- geschiedenen Platte im Album Palestine (mahJ, Paris, Inv. MAHJ PH D.07.100). Alle abgebildeten Aufnahmen stammen von Otto Schoefft.
Abb. 1 – Album Palestine, um 1885 (Musée d’art et d’histoire du Judaïsme – mahJ, Paris, PH D.07).
angeboten. Diese sind auf dem Trägerkarton meist mit der doppelten Herausgeber-Signatur „Naya & Schoefft – Venise“, bisweilen jedoch mit „Schoefft – Photographe de la Cour“
bezeichnet [2].
Zu einer größeren Anzahl der Aufnahmen haben sich weitestgehend motivgleiche, im Detail jedoch abweichende Fassungen erhalten. Diese hat Otto Schoefft in zwei Phasen an zwei verschiedene Konkurrenten veräußert. Abnehmer für eine erste Gruppe von Negativen waren Georgios (um 1845 – um 1895) und Constantinos Zangaki (um 1845 – 1916). Das griechische Brüderpaar hat die von Schoefft erworbenen Plat- ten mit seiner eigenen Signatur versehen und die Abzüge zu- sammen mit eigenen Aufnahmen den Touristen zum Kauf an- geboten [3]. Schließlich haben sich im Pariser Musée d’art et d’histoire du Judaïsme in einem um 1885 zusammengestellten Reise-Album mit dem Titel Album Palestine weitere Aufnahmen von Otto Schoefft in unsignierten Abzügen erhalten (Abb. 1)[4].
Diese stellen qualitativ eine dritte Wahl dar.
Das Album Palestine
Der Titel Album Palestine auf dem vom Pariser Buchbinder Louis Dubois signierten schwarzen Ledereinband bezieht sich inhaltlich auf den Hauptteil der eingeklebten Albuminabzüge.
Dabei handelt es sich, eingeleitet von einem ausfaltbaren drei- teiligen Jerusalem-Panorama, um eine kohärente Sammlung von 94 mit „Bonfils“ – ein direkter Verweis auf den franzö- sischen Fotografen [Paul] Félix Bonfils (1831–1885) bezie- hungsweise sein Familienunternehmen Maison Bonfils – be- zeichneten Motiven aus Jerusalem und den biblischen Stät- ten im Heiligen Land. Da eine der Aufnahmen frühestens 1878 entstanden sein kann, steht dieses Datum als ‚ter- minus post quem‘ für die Zusammenstellung des Albums fest [5]. Vermutlich ist aber auch die auf 1883 datierte Pa- lästinakarte am Schluss des Bandes bereits mit den Foto- grafien zusammen eingeklebt worden [6]. Auf die Bonfils- Aufnahmen, alle im Format 28,5 × 22,5 cm, folgen zwölf un- signierte Aufnahmen mit Motiven aus Ägypten. Diese zahlen-
Abb. 6 – Wasserträgerin, ausgeschiedene Aufnahme im Album Palestine, um 1872, Albuminabzug, 27,5 x 21,5 cm (mahJ, Paris, Inv. PH D.07.101).
Abb. 9 – Otto Schoefft (signiert „Zangaki“):
„Nr. 769 Femme fellah“, um 1872, Albumin- abzug, 27 x 21 cm (Privatsammlung).
Abb. 10 – „Porteuse d’eau“, Aufnahme Nr. 29 in Le Caire pittoresque, um 1872, Albumin- abzug, 24,7 x 19,5 cm (ÖNB, Bildarchiv, Inv. FKB *2886, 29).
Abb. 8 – „Fille de peuple“, um 1872, Variante von Abb. 9, Albuminabzug, 13 x 8,6 cm, Foto: 11,1 x 7,3 cm (Davis Museum, Welles- ley College, Inv. 2009.390.8, Gift of Rosa- mond Brown Vaule, Class of 1959).
Abb. 7 – Wasser- trägerin, um 1872, Variante von Abb. 6, Albuminabzug, 9 x 6 cm (Getty Research Institute, Los Angeles, Ken and Jenny Jacob- son Orientalist Photography Collection, Inv.
2008.R.3 [A16]).
Katharina Arlt
EXPERIMENTELLE FARBFOTOGRAFIE UND COMPUTERKUNST
Zur „Zahlenfrau (Anna)“ (um 1970) von Wolfgang G. Schröter
Fotohistorische Ressentiments gegenüber der Farbfotografie und ihre späte institutionelle Anerkennung als künstleri- sches Medium in der DDR spiegeln sich bis heute in der For- schungslage wider. So liegt der Fokus der überwiegenden Untersuchungen zur Farbfotografie auf der Fotografengene- ration der Autonomen, deren Schaffenszeit in den 1980er Jahren beginnt. Dass bereits die Generation der Gründer- und Aufbaujahre beachtenswerte professionelle farbfoto- grafische Leistungen erzielte, beweist das Œuvre des Foto- grafen Wolfgang G. Schröter (1928–2012), dessen fotografi- scher Nachlass 2014 von der Deutschen Fotothek in Dresden erworben wurde. Im Zentrum des Beitrags steht stellver- tretend für Schröters experimentelles, komplexes farbfoto- grafisches Gesamtwerk der Versuch einer fototechnischen Rekonstruktion und fotohistorischen Kontextualisierung seiner Arbeit „Zahlenfrau (Anna)“, einer auf fotometrischer Grundlage entstandenen fotografischen Farbumsetzung der 1970er Jahre.
Experimental Colour Photography and Computer Art: On Wolfgang G. Schröter’s ‘Numerical Woman (Anna)’ (ca. 1970)
The current state of research mirrors photo-historical resentment against colour photography as well as its late institutional recognition as an artistic medium in the GDR.
Predominantly, the investigation into colour photography tends to focus on the generation of the autonomous photo- graphers, who began working in the 1980s. However, the œuvre of photographer Wolfgang G. Schröter (1928–2012), whose photographic estate was acquired by the Deutsche Fotothek in Dresden in 2014, proves that the generation of the founding and form-taking period already created remark- ably professional colour photographs. This article attempts a photo-technical reconstruction and photo-historical con- textualisation of an artwork that is exemplary of Schröter’s oeuvre of experimental and complex colour photography:
his colour photographic piece based on photometry, ‘Numer- ical Woman (Anna)’ (1970s).
Abb. 1 – Wolfgang G. Schröter: Harle- kin und Colombine, 1968, Fotogramm mit Sabattier- Effekt auf zwei montierten Orwo- Colorpositivfilm- bahnen à 100 x 240 cm, Repro- aufnahme eines Colornegativfilms, 18 x 24 cm.
Wenn nicht anders angegeben, alle Abbildungen Deut- sche Fotothek in der SLUB Dresden.
Die Nobilitierung der Farbfotografie
Die Problematik der Geringschätzung der Farbfotografie tradiert sich insbesondere seit ihrer Markteinführung und Massenwirksamkeit Mitte der 1930er Jahre. Ihre Ablehnung wurde zunächst begründet mit dem defizitären menschlichen Wahrnehmungsapparat, den Unzulänglichkeiten der Techno- logie und späterhin dem Vorwurf des Distanz- und Authentizi- tätsmangels [1]. Mit der topisch gewordenen Diffamierung der Farbe als ‚unwesentlich‘, im Sinne einer verzichtbaren Zutat, der Abstraktion unfähig, wurde indirekt die der klassischen Kunsttheorie entstammende Opposition von ‚disegno e colo- re‘ auch auf den Dualismus der Farb- und Schwarz-Weiß-Foto- grafie übertragen [3]. Erst mit Beginn der 1960er Jahre setzte im deutschsprachigen Raum, zunächst in der Bundesrepublik, eine Etablierung der Farbfotografie als ernstzunehmendes bild- ästhetisches Medium ein. Anspielungsreich wählte Wolfgang G. Schröter (1928–2012), Farbfotograf der DDR und Autor, den Titel seines Artikels „Farbfotografie ohne Magie und Ver- fremdung“, der 1974 im Fotojahrbuch International erschien [3].
Obschon 14 Jahre später, so rekurrierte er zweifelsfrei auf die 1960 während der photokina in Köln vielbeachtete Ausstellung Magie der Farbenfotografie und die gleichnamige, von Wal- ter Boje herausgegebene Publikation [4]. Schröter teilte das Hauptanliegen Bojes, der für eine Akzeptanz der Farbfoto- grafie als Kunstform eintrat, und schreibt: „Was wäre, wenn...
die angestrengten Bemühungen von Niepce und Daguerre die leuchtenden Farben auf den Mattscheiben ihrer Kameras festzuhalten, erfolgreich verlaufen wären, wenn sie also gleich den Schlüssel zur Farbfotografie gefunden hätten? Ganz selbstverständlich hätte man von Anfang an Fotografie als Farbfotografie betrieben und verstanden. Die Schwarzweiß- fotografie wäre der Sonderfall, den heute die Farbfotografie darstellt.“ [5] Bojes Programm einer pluralistischen Ästhetik durfte Schröter nicht offen goutieren. Der Formalismusvor- würfe verheißende Titel der Schröterschen Schrift ist jedoch nur partiell irreführend. Zwar rät der Autor von einer absolu- ten „Loslösung der Farbe vom Gegenstand“ ab, gesteht jedoch weitestgehend Abstraktion zu, insofern sie einen „Ausschnitt aus der Wirklichkeit“ zeige [6]. Bojes Veröffentlichung als ers- ter Schritt auf dem Weg der Nobilitierung der Farbfotografie in der Bundesrepublik gab Schröter gleichfalls Anlass, seinem Unmut über das in der DDR immer noch vorherrschende ästhetische Primat der Schwarz-Weiß-Fotografie Ausdruck zu verleihen.
Ausgehend von der Hypothese eines entwicklungsge- schichtlich bedingten Vorteils der Schwarz-Weiß-Fotografie begründete Wolfgang G. Schröter die zögerliche Akzeptanz der Farbfotografie als künstlerische Ausdrucksform. Als lo- gische Konsequenz folgt, dass erst wenn die Gewöhnung an das jüngere Medium der Farbfotografie geleistet ist, es zu ei- ner Etablierung derselben innerhalb der Bildkünste kommen kann. Daher seien die Gründe für eine Ablehnung der Farbfo- tografie auch innerhalb institutioneller Strukturen des Kunst-
betriebes zu suchen. Gerade die Kunstgeschichte habe nicht aufgehört, seit der Erfindung der Fotografie ihre Ansprüche an die Malerei auf das neue Medium zu übertragen. Schröter spricht von einer „malerischen Überforderung […] besonders der Farbfotografie“ [7], deren mediale Unterschiede insbeson- dere in den Bereichen der Konzeption, Präsentation und Re- zeption einer Untersuchung bedürften. Dies scheitere jedoch bereits an der Akzeptanz der Bildgegenstände der Fotografie, für deren absolute Liberalisierung der Autor vehement eintrat
[8]. Kunsthistorisch relevant seien jedoch Schröter zufolge bis- lang allein Arbeiten, denen das Attribut „museumswürdig“ für ein „der Ewigkeit verhaftetes Kunstwerk“ zukomme [9]. In sei- nem Text geht er so weit, zu vermuten, dass die Kunstwissen- schaft während der Popularisierungszeit der Fotografie einen Teil ihrer Deutungshoheit verloren habe und sich dies nach- teilig auf ihre Beurteilung zukünftiger Generationen des neu-
en Mediums ausgewirkt habe [10]. Dennoch insistiert Schröter auf dem Desiderat einer „Abhandlung“, die sich ausschließlich den „Probleme[n] der Ästhetik und Erkenntnistheorie der Farbfotografie“ widmen solle [11]. Der abschließende Appell des Autors richtet sich an professionelle Fotografen. Allein die unbegründete Angst vor der komplexeren Technologie könne nicht länger als Erklärung ihrer Farbverdrossenheit gelten, auch müsse die Anerkennung der Farbfotografie auf dem Ge- biet authentischer Live-Fotografie endlich vollzogen werden.
Schröters publizistisches Engagement für eine Aufwertung und Anerkennung der Fotografie in Farbe wurzelte vor allem in seiner eigenen exzeptionellen Erfahrung als professioneller Fotograf [12].
Farbfotografie zwischen Auftrag und Kunst
Als einer der ersten Exponenten der Farbfotografie in der DDR arbeitete Wolfgang G. Schröter seit Beginn der 1950er Jahre als Bildreporter im Auftrag für Illustrierte des In- und Auslandes der DDR [13]. Zuvor hatte der gebürtige Wolfener
„Seine Spezialisierung in den Bereichen des Experimentellen und der Wissenschaftsfotografie
ermöglichte ihm ein weitest- gehend unabhängiges Arbeiten als freischaffender Colorfotograf für international operierende
foto-chemische und optische
Betriebe der DDR.“
während des Scanvorgangs errechnet. Über ein Computerpro- gramm wurde eine bestimmte Anzahl von Zeichen und Sym- bolen jedem Dichte- bzw. Helligkeitsgrad des Fotos, im Sinne eines Codes, zugeordnet. Die Auswahl der Symbole und Zei- chen erfolgte per Zufallsprinzip über das Programm. Die ein- zelnen Piktogramme bestehen überwiegend aus mathemati- schen und physikalischen Symbolen, Rechen- sowie Schalt- zeichen [22]. Gespeichert wurden die auf diese Weise entstan- denen Grafiken zunächst auf Mikrofilm. Über einen Mikro- filmdrucker wurden sie ausgedruckt und anschließend dieser
„Ausdruck fotografiert und vergrößert“ [23]. Das Motiv der computergenerierten Arbeit ist erst mit einem gewissen räum- lichen Abstand vollkommen wahrnehmbar, dann verbinden sich die Mikrozeichen zu einem gegenständlichen fotografi- schen Bildeindruck, der sich bei näherer Betrachtung wieder in ein Raster aus Symbolen und Codes auflöst [24].
Die experimentelle Fotografie Wolfgang G. Schröters
Aus politisch und technologisch motivierten Gründen kann von keiner Bewegung der Computerkunst innerhalb der DDR gesprochen werden [25]. Erst Ende der 1970er und wäh- rend der 1980er Jahre werden video- und computerbasierte Kunst vereinzelt von offizieller Seite toleriert [26]. Schröter, der durch seine Tätigkeit für die Filmfabrik Wolfen und Carl Zeiss in Jena Einblicke in den Bereich der Wissenschaftsfo- tografie als maßgebliches Visualisierungsinstrument für For- schungsresultate erhalten hatte [27], erkannte das ästhetische Potenzial wissenschaftlicher Fotografie und nutzte die bildge- nerierenden Auswerte- und Messtechnologien der Zentralin- stitute für Astrophysik und Isotopen- und Strahlenforschung der Akademie der Wissenschaften der DDR für eigene expe- rimentelle Bildschöpfungen. So entstand Anfang der 1970er Jahre mithilfe analoger fotometrischer Dichtemessung, die ur- sprünglich zur Visualisierung radioaktiver Substanzen einge- setzt wurde, eine Arbeit Schröters, mit der er sich von den bis dahin abbildenden Komponenten Linie, Punkt und Fläche lös- te und die Ästhetik der Computergrafik, der Kenneth C.
Knowltons und Leon D. Harmons vergleichbar, aufgriff und in- terpretierte. Im Unterschied zu Knowlton und Harmon arbei- tete Schröter mit einer eigenen Fotografie und überwiegend analog.
Um 1970 schuf Wolfgang G. Schröter das Werk Zahlenfrau (Anna), das wie die Mehrheit der Arbeiten Schröters nicht als Vintageabzug überliefert ist (Abb. 4). Zudem konnte bislang keinerlei Auftrag oder ein konkreter Anwendungszweck für diese Arbeit nachgewiesen werden. Es ist daher zunächst von einem autonomen bildkünstlerischen Selbstauftrag des Foto- grafen auszugehen. Im Nachlass in der Deutschen Fotothek Dresden befinden sich jedoch ein Schwarz-Weiß-Negativ so- wie ein Colorpositivfilm der Gesamtdarstellung, die es er- möglichen, den künstlerischen Prozess und damit auch das Werk zu rekonstruieren [28]. Ausgangspunkt der Arbeit war eine Schwarz-Weiß-Aufnahme eines weiblichen Akts im klas-
sischen Kontrapost vor weißem Hintergrund. In einer zwei- ten Bearbeitungsstufe wurde Schröters Fotografie mittels ei- nes Fotometers horizontal Zeile für Zeile abgetastet, wobei die auf einer Skala ausgegebenen punktuellen Messwerte den jeweiligen Dichteanteilen der Schwarz-Weiß-Aufnahme ent- sprechen [29]. Die Messergebnisse ergaben für die dunkelsten Partien, jene mit dem höchsten Dichteanteil wie beispielswei- se die des Haarschopfes, den höchsten Wert, für den Schröter die Ziffer 4 vergab, die nächst dunkleren Abschnitte wurden entsprechend mit den Ziffern 3, 2 und 1 indiziert. Die hellsten Partien, wie die in der Tonwertreduktion ohne Binnenzeich- nung verbleibenden Hautpartien, erschienen ohne Beziffe- rung als Leerstellen. Via Projektion des Aktmotivs und mit- hilfe eines darüber gelegten Rasters (Abb. 5) markierte Schröter wohl zunächst den Umriss des Modells auf einem weißem Trägermaterial (evtl. Karton), übertrug danach unter Zuhilfe- nahme einer Schriftschablone innerhalb des Umrisses jeweils händisch die ermittelten Werte bzw. Ziffern für die Tonwerte, Zeile für Zeile, und erzeugte so für jeden Ziffernwert jeweils eine Positivvorlage. Durch Abfotografieren dieser vier einzel- nen Positivvorlagen, erhielt Schröter vier einzelne Schwarz- Weiß-Negative (eines für jeden Ziffernbereich 1 bis 4) (Abb. 6).
Im stufenweise aufeinanderfolgenden Ausbelichten der ein- zelnen Negative auf fototechnischem Schwarz-Weiß-Film (Lichtmontage) muss eine sich aus diskreten Werten von 1 bis 4 generierende Gesamtdarstellung des weiblichen Akts in Schwarz-Weiß entstanden sein (Abb. 7). Im Unterschied zu Knowlton und Harmon, die sich bewusst für Zeichen und Symbole höchst unterschiedlicher Dichtegrade entschieden hatten, verwendete Schröter Ziffern, deren Schriftbilder be- kanntermaßen zugunsten ihrer besseren Lesbarkeit nur ge- ringe Unterschiede der Helligkeitswerte aufweisen. Das Resul- tat ist ein relativ homogener Gesamteindruck der Binnen- fläche der Aktdarstellung, deren einzelne diskrete Werte sich bei größerer Distanz kaum unterscheiden und als nahezu gleichförmiges Punkt- oder Strichraster wahrgenommen wer- Abb. 6 – Fototechnisches Schwarz-Weiß-
Negativ der Lichtmontage (in Ziffern auf- gelöster Akt) mit montierter Papiermaske im Randbereich, 12 x 17,8 cm.
Abb. 7 – Lichtmontage (in Ziffern aufgelöster Akt), digitale Invertierung in Positivansicht des fototechnischen Schwarz-Weiß-Films, 12 x 17,8 cm.
Abb. 5 – Projektions- vorlage mit darauf belichteter Raster- folie, digitale Inver- tierung in Positiv- ansicht des foto- technischen Schwarz-Weiß-Films, 11,9 x 23,8 cm.
„Im stufenweise aufeinander- folgenden Ausbelichten der einzelnen Negative auf foto- technischem Schwarz-Weiß-Film
(Lichtmontage) muss eine sich aus diskreten Werten von 1 bis 4 generierende Gesamtdarstellung des weiblichen Akts in Schwarz-
Weiß entstanden sein.“
[18] Zur Geschichte und Entwicklung der Computerkunst in Zagreb vgl. Peter Weibel (Hg.): Bit international: Nove tendencije.
Computer und visuelle Forschung. Zagreb 1961–1973, Ausst.- Kat., Graz: Neue Galerie Graz 2007, S. 40.
[19] Ebd., S. 40
[20] Heike Piehler: Die Anfänge der Computerkunst, Frankfurt am Main: dot 2002, S. 239.
[21] Weibel 2007 (wie Anm. 18), S. 40, 42.
[22] Für ausführliche Werkanalysen und Kontextualisierungen innerhalb der Ausstellungsreihe Nove Tendenije vgl. Margit Rosen (Hg.): A Little-Known Story about a Movement, a Magazine, and the Computer’s Arrival in Art: New Tendencies and Bit International 1961–1973, Ausst.-Kat. Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe, Cambridge und London: MIT- Press 2011, sowie Piehler 2002 (wie Anm. 20), S. 294–296.
[23] Piehler (wie Anm. 20), S. 295.
[24] Ein bestimmendes Merkmal vieler Arbeiten der Computer- kunst ist ihr figuratives Ausgangsmaterial und dessen schrittweise Abstraktion durch analoge oder digitale Weiter- verarbeitung. Vgl. Weibel 2007 (wie Anm. 18), S. 44.
[25] Für Video- und Computertechnik erfolgte keine Massenpro- duktion in der DDR. Diese wurde ausschließlich für Industrie-, Forschungszwecke und wissenschaftliche Lehre verfügbar gemacht, mit dem Ziel einer qualitativ-quantitativen Produkt- optimierung. Daher konnten diese Technologien nicht in den Alltagsgebrauch gelangen und somit Teil der künstlerischen Auseinandersetzung werden.
[26] Horst Bartnig zählt zu jenen Pionieren einer computer- basierten Kunst der DDR. Seit 1979 entwickelte er seine konstruktivistischen Arbeiten auf Grundlage von Computer- berechnungen in Zusammenarbeit mit dem Zentralinstitut für Informatik und Rechentechnik in Berlin Adlershof. Vgl.
Ina Prinz: Horst Bartnig im Arithmeum. Arithmeum For- schungsinstitut für diskrete Mathemathik, Bonn: Bouvier 2000. Eine offizielle Initiative der Videokunst der DDR ist erst Mitte der 1980er Jahre zu verzeichnen. Vgl. Galerie am Markt Annaberg-Buchholz (Hg.): Videografie – Video und Computer- kunst, Annaberg-Buchholz: Galerie am Markt 1988, S. 13.
[27] Zu Schröters experimentellen Verfahren und deren Orientie- rung an wissenschaftlichen Methoden vgl. den Katalogtext
„Auftrag Innovation“, in: Arlt 2016 (wie Anm. 12), S. 6–24.
[28] Die Ausführungen zur Entstehung der Arbeit Zahlenfrau (Anna) basieren auf der theoretischen Rekonstruktion der Autorin, die sich auf den überlieferten Fotofilmbestand im Nachlass des Fotografen stützt (vgl. Nachlass Wolfgang G. Schröter, SLUB Dresden, 2014.DF.003, Negativbestand).
Hilfreiche technische Informationen verdanke ich den Kon- sultationen mit André Rous, Fotograf und Werkstattleiter der Deutschen Fotothek Dresden. Ein Teil der Rekonstruktion mit Neuprints nach dem überlieferten Filmmaterial Schröters wurde im Rahmen der Ausstellung Aus den Archiven II: Das große Color-Praktikum /Wolfgang G. Schröter im LVR-Landes- Museum Bonn (28. April bis 26. Juni 2016) und im beglei- tenden Katalog (wie Anm. 12, S. 19/20) präsentiert.
[29] Durchgeführt wurde diese Messung in den 1970er Jahren von Prof. Dr. Hartmut Baumbach am Zentralinstitut für Iso- topen- und Strahlenforschung in Leipzig. Auskunft gemäß Interview der Autorin mit Prof. Dr. Hartmut Baumbach am 29.10.2015 in Leipzig.
[30] Zur Problematik der Wahrnehmung digitaler Bilder vgl. Fried- rich Kittler: „Computergrafik. Eine halbtechnische Einfüh- rung“, in: Herta Wolf (Hg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt am Main:
Suhrkamp 2002, S. 178–194, hier S. 180.
[31] Wolfgang G. Schröters experimentelle Farbfotografien wur- den häufig als ganzseitige Werbeanzeigen für die Produkte der Wolfener Filmfabrik in der Schweizer Zeitschrift Camera geschaltet, meist auf der Innenseite des vorderen Titelblat- tes oder auf der Außenseite des Rückentitels der Zeitschrift.
So erscheint auf der Innenseite des Vordertitelblattes in der Juli-Ausgabe 1969 eines seiner Ganzkörperfotogramme mit Sabattier-Effekt in Montagetechnik. Auf diese Weise kam Schröter auch mit weiteren Ausgaben und Inhalten der Zeit- schrift in Kontakt und könnte in der Juni-Ausgabe 1969 Kenneth C. Knowltons und Leon D. Harmons Arbeit Mural im Rahmen eines Artikels zur Computergrafik rezipiert haben.
Siehe L. A. Mannheim: „Bildverarbeitung über Computer“, in: Camera: Internationale Zeitschrift für Photographie und Film, offizielles Organ der FIAP, 1969, No. 6, S. 40–42.
[32] Vgl. Herbert W. Franke: Computergraphik – Computerkunst, München: Bruckmann 1971, S. 7.
Autorin
Katharina Arlt M. A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Technische Universität Dresden, Philosophische Fakultät, Institut für Kunst- und Musikwissenschaft, Zellescher Weg 20, 01217 Dresden, Germany, Tel. +49- 351-463-32774, katharina.arlt@tu-dresden.de, www.farbaks.de
Andrea Arnold, Barbara Spalinger Zumbühl, Vai van den Heiligenberg und Stefan Zumbühl
„PANNOTYPEN [SIND] UNSTREITIG UNTER ALLEN COLLODIUMPOSITIVS
DIE EMPFEHLENSWERTHESTEN.“
Die Pannotypie – ein Transferverfahren auf schwarzes Wachstuch.
Zur Geschichte, Technik, Materialität und Schadensphänomenen
So selten wie Pannotypien heute sind, so gering sind die Kenntnisse von diesem fotografischen Verfahren. Unter- suchungen hierzu stellen ein Desiderat dar. Anhand litera- rischer Quellen sowie technologischer Untersuchungen an Pannotypien aus dem Bestand der Burgerbibliothek in Bern möchte der vorliegende Beitrag ein erster Schritt dahin ge- hend sein, diese Lücke zu schließen.
Der erste Teil befasst sich mit dem historischen Hinter- grund und den theoretischen Grundlagen des Verfahrens.
Hierzu werden Anleitungen von Fotopionieren der ersten Stunde herangezogen, um die einzelnen Schritte im Her- stellungsprozess zu rekonstruieren. Der zweite Teil nimmt die Objekte selbst unter die Lupe. Mit Hilfe kunsttechnolo- gischer Methoden ließen sich nicht nur neue Erkenntnisse zur Materialität und Struktur von Pannotypien gewinnen, sondern auch Schadensphänomene, die mit den Schilde- rungen der historischen Quellen überraschend deckungs- gleich sind, aufzeigen.
‘Pannotypes (are) Indisputably the Most Recom- mendable Among all Collodion Positives.’: The Pannotype – A Transfer Process onto Black Oil- cloth. History, Technique, Materiality and Damage Phenomena
Today, pannotypes are just as rare as the knowledge of this photographic process is limited. Investigations regarding this remain a desideratum. With the aid of literary sources as well as technological investigations of pannotypes from the holdings of the Burgerbibliothek in Bern, this present contribution seeks to take first steps toward filling this gap.
The first part concentrates on the historical background and the theoretical bases of the process. For this, instructions by the earliest pioneers of photography are called upon in order to reconstruct the individual steps in the production process. The second part places the objects themselves under the magnifying glass. By means of art technological methods, not only new knowledge can be gained regarding the mater- iality and structure of pannotypes, but the damage phenom- ena that are surprisingly congruent with the portrayals of the historic sources are also demonstrated.
Abb. 1 – Unbekannter Fotograf: Porträt Molly von Greyerz (1808–1890), um 1865, Pannotypie, Bildträger: 9,0 x 7,2 cm.
Wenn nicht anders angegeben, stammen alle Objekte aus der Burgerbibliothek Bern (hier: FA von Greyerz F.Dag.137).
hatte sich gezeigt, dass mit Ruß behandelte Wachstücher be- sonders lange elastisch blieben [31]. Ein hochwertiges Wachs- tuch konnte auch noch eine dritte Schicht mit stark glänzen- der Oberfläche aus Lacken und flüchtigen Firnissen aus einer Mischung aus Leinölfirnissen und Harzen enthalten. Für Panno- typien verwendeten die Fotografen vermutlich Wachstücher mit zwei Schichten.
Der Transferprozess
In der Frühzeit des Pannotypie-Verfahrens waren unter- schiedliche Übertragungsmethoden zur Erzeugung der posi- tiven Bilder in Gebrauch, die mehr oder weniger erfolgreich waren. Nach den Vorgaben von Wulff arbeiteten die Fotogra- fen an einer Übertragung vom Glas auf ein Wachstuch. Da- bei transferierten sie in den ersten Jahren nach Einführung der Pannotypie die nasse Kollodiumschicht zuerst auf ein Fließpapier und dann auf ein Wachstuch. Dabei lag die Silber- schicht an der Oberfläche auf. Das Motiv ist spiegelverkehrt dargestellt. Weiske hielt diese indirekte Übertragung für eine zwecklose Spielerei, die nicht zur Verbesserung des Bildes bei- tragen würde [32].
Auch ‚trockene‘ direkte Transfermethoden wurden be- schrieben, konnten sich jedoch nur bedingt durchsetzen [33].
Dabei wurde die nasse Kollodiumplatte getrocknet und der Fotograf hatte nun die Möglichkeit, die Übertragung ohne Zeitdruck später durchzuführen. Für den Transfer wurde die Kollodiumschicht mit Spiritus übergossen und das Wachs-
tuch aufgelegt [34]. Kleffel empfahl das Aufgießen einer Mi- schung aus Alkohol und Salpetersäure auf die Kollodiumplatte und nach Abgießen derselben, das Wachstuch aufzulegen und anzudrücken. Die Ablösung der Kollodiumschicht erfolgte in trockenem Zustand zwei bis drei Stunden später [35].
Auguste Belloc berichtete 1855 von einer direkten Trans- fermethode, bei der die nasse Kollodiumplatte zuerst in ein gummiertes Wasserbad gelegt wurde. Als Trägermaterial dien- te ihm ein schwarzes, ‚schönes‘ Wachstuch, welches zunächst erwärmt und anschließend auf die nasse Kollodiumplatte übertragen wurde. Das Motiv ist nun seitenrichtig dargestellt.
Nach dem Ablösen trocknete das Bild und musste nicht noch zusätzlich lackiert werden [36].
Als bewährteste direkte Transfermethode galt jedoch die- jenige von Weiske: Die Innovation von Weiske bestand in der Verwendung einer verdünnten Schwefelsäure im Verhältnis 1:20 [37]. Nach der Vorbereitung der Platte in verdünnter Schwefelsäure und der Nachreinigung mit Wasser erfolgte der Zuschnitt des Wachstuches, welches kleiner zu sein hat- te als die Platte selber. Weiske empfahl die Verwendung eines schwarzen Wachstuchs der feinsten Sorte, nämlich das „dop- pelgewichste“ aus der Kunsthandlung Del Becchio in Leip- zig [38]. Die Erhitzung des Wachstuchs geschah über einer Spiritusflamme und dauerte solange an, bis es dampfte. Die noch feuchte Kollodiumplatte legte Weiske anschließend auf einen Tisch und setzte das warme Wachstuch von der Mitte her auf. Bei genügender Erhitzung des Wachstuchs und aus- reichender Feuchtigkeit der Kollodiumschicht konnte sich
Abb. 8 – Anschliff von Pannotypie F.Dag.112, Dunkel- feldaufnahme DF (links) und UV- Fluoreszenz mit Langpassfilter bei 515nm LP 515 (rechts).
Abb. 9 – Anschliff von Pannotypie F.Dag.137, Dunkel- feldaufnahme DF (links) und UV- Fluoreszenz mit Langpassfilter bei 515nm LP 515 (rechts).
Abb. 10 – REM-BSE: Bild der elementaren Dichte, UV-Fluoreszenz und FTIR-FPA Falschfarbenbilder der Pannotypie F.Dag.112. Die Abbildungen zeigen die relativen Signalintensitäten der über den Bildern angegebenen Integrations- bereiche. Die Abbildungen sind repräsentativ für folgende Komponenten: 1525-1494 cm-1: Gießharz, 1691-1599 cm-1: Protein (teilweise überlagert mit Kollodium), 1291-1262 cm-1: Kollodium. 1767-1671 cm-1 Carbonyle des Öles und dessen Oxidationsprodukte, 2946-2891 cm-1 und 2863-2836 cm-1 Kohlenwasserstoffverbindungen des Öles, 2116- 2051 cm-1 Berlinerblau.
Abb. 11 – REM-BSE: Bild der elementaren Dichte, UV-Fluoreszenz und FTIR-FPA Falschfarbenbilder der Pannotypie
„Molly von Greyerz“ um 1865 (F.Dag.137). Die Abbildungen zeigen die relativen Signalintensitäten der über den Bil- dern angegebenen Integrationsbereiche. Die Abbildungen sind repräsentativ für folgende Komponenten: 1526-1489 cm-1: Gießharz, 1671-1620 cm-1: Protein (teilweise überlagert mit Kollodium), 1300-1265 cm-1: Kollodium. 1748-1663 cm-1 Carbonyle des Öles und dessen Oxidationsprodukte, 2947-2900 cm-1 Kohlenwasserstoffverbindungen des Öles, 1656-1518 cm-1: Oxalate und andere Verbindungen, 1085-975 cm-1: Cellulose.
Johannes Hofmeister, Markus Köster und Stephan Sagurna
NATUR- UND HEIMATSCHUTZ-FOTOGRAFIE ZWISCHEN 1912 UND 1944
Zum fotografischen Nachlass Dr. Hermann Reichling und seiner Erschließung
Der Ornithologe und Museumsleiter Dr. Hermann Reichling (1890–1948) war ein Pionier des Naturschutzes und zugleich ein passionierter Fotograf. Sein fotografischer Nachlass um- fasst mehr als 9 000 Glasnegative, die zum Großteil von ihm selbst angefertigt wurden, sowie mehrere Kameras in den Auf- nahmeformaten 13 × 18 cm und 9 × 12 cm, außerdem einige Filmaufnahmen von eigener Hand. Er stellt eine erstrangige visuelle Quelle für die Natur- und Sozialgeschichte Nordwest-
deutschlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar.
Diesen zu erhalten, zu erschließen und für eine breite Öffent- lichkeit zugänglich zu machen ist das Ziel eines Verbundpro- jekts, das der Westfälische Heimatbund, das LWL-Museum für Naturkunde, das LWL-Medienzentrum für Westfalen und das LWL-Museumsamt für Westfalen mit Förderung der NRW- Stiftung Naturschutz, Heimat- und Kulturpflege seit 2014 ge- meinsam konzipiert haben und durchführen. Die fotografi-
Abb. 1 – Die frü- heste erhaltene Fotografie Reich- lings: „Petersvenn, 1912“, Glasnega- tiv, 13 x 18 cm.
Wenn nicht anders angegeben, stam- men alle Abbildun- gen von Hermann Reichling und aus der Sammlung Reichling im LWL- Medienzentrum für Westfalen, Münster.
Der Ornithologe und Direktor des Provinzialmuseums für Naturkunde in Münster Dr. Hermann Reichling (1890–1948) war ein Pionier des Naturschutzes und zugleich ein passio- nierter Fotograf. Sein Nachlass – insgesamt rund 9 000 Foto- grafien – stellt eine bedeutende Quelle für die Natur- und Sozialgeschichte Nordwestdeutschlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar. Im Folgenden werden der fotografi- sche Bestand sowie dessen archivische Sicherung, Digitali- sierung und Erschließung im Rahmen eines Verbundpro- jektes unter Federführung des LWL-Medienzentrums für Westfalen vorgestellt. Ein Onlineportal, ein Bildband und eine Wanderausstellung präsentieren ihn jetzt der Öffent- lichkeit.
Nature and Homeland Protection Photography Between 1912 and 1944: The Photographic Estate of Dr Hermann Reichling and its Indexing
Ornithologist and Director of the Provincial Museum for Natural History in Münster, Dr Hermann Reichling (1890–1948), was a pioneer in nature conservation and at the same time a passionate photographer. His work – a total of around 9,000 photographs – represents a significant source for the natural and social histories of northwest Germany in the first half of the 20th century. In the following, the photo- graphic collection as well as its archival protection, digitisa- tion and indexing within the scope of a group project under the leadership of the LWL Media Centre for Westphalia are introduced. An online portal, an illustrated book and a tour- ing exhibition present the collection to the public.
sche und fotohistorische Federführung dieses Projekts ist beim LWL-Medienzentrum angesiedelt, das mit seinem Bildarchiv die Verantwortung für einen bedeutenden Teil des fotografi- schen Erbes der Region Westfalen-Lippe trägt.
Naturschutzpionier und Naturfotograf Dr. Hermann Reichling
Hermann Reichling wurde 1890 als Sohn eines Gymnasial- lehrers im thüringischen Eichsfeld geboren und wuchs im westfälischen Münster auf [1]. Nach Abitur und einem natur- wissenschaftlichen Studium an der dortigen Universität, das er mit einer ornithologischen Dissertation abschloss, wurde er 1919 mit nur 29 Jahren zum Leiter des Westfälischen Pro- vinzialmuseums für Naturkunde in Münster und 1926 auch zum Staatlichen Kommissar für Naturdenkmalpflege in der Provinz Westfalen berufen. In diesen Funktionen verschrieb er sich nicht nur der Beobachtung und Erforschung von Pflan- zen, Tieren und Landschaften, sondern setzte sich – unter dem Einfluss der in jenen Jahren aufblühenden Heimatbe- wegung – aktiv für den Schutz der Natur- und Kulturland- schaften im heutigen Nordrhein-Westfalen und Niedersach- sen ein. Westfalen zählte dank der Aktivitäten Reichlings bald zu den führenden Provinzen Preußens auf dem Gebiet des Naturschutzes; fast sechzig Naturschutzgebiete wurden zwischen 1926 und 1933 auf seine Initiative hin ausgewiesen.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ent- hob man Reichling, der sich mit seiner direkten und oft kom- promisslosen Art sowie seiner Anhäufung von Ämtern nicht nur Freunde gemacht hatte und auch mit Meinungsäuße- rungen gegenüber dem neuen Regime nicht hinter dem Berg hielt, aller Ämter [2]. 1934 wurde er wegen despektierlicher Äußerungen über Mitglieder der Reichsregierung im Wirts- haus denunziert und zeitweise im emsländischen Konzent- rationslager Esterwegen inhaftiert, allerdings aufgrund einer Intervention Hermann Görings, der u.a. als Oberster Beauf- tragter für den Naturschutz im Deutschen Reich fungierte, nach drei Monaten wieder entlassen. Reichling klagte an- schließend sogar erfolgreich gegen den KZ-Kommandanten sowie gegen ein Mitglied der Wachmannschaft wegen der erlittenen körperlichen Schädigungen. 1937 wurde er teil- rehabilitiert, aber nicht wieder als Museumsdirektor einge- setzt, sondern stattdessen mit einem Forschungsauftrag zur
„Natur des Dümmer“ und der aussterbenden Vogelwelt der nordwestdeutschen Moore betraut. Nach dem Krieg erhielt er seine alten Ämter zurück, starb aber schon 1948, u.a. an den Spätfolgen seiner KZ-Haft.
Moorlandschaften, Vogelfänger und Heimatschutz:
Fotografien 1912 bis 1944
Bereits als junger Mann hatte Hermann Reichling die Foto- grafie für sich entdeckt. Im Alter von 22 Jahren belichtete er die Aufnahme „Petersvenn bei Westbevern, 1912“ (Abb. 1). Sie
zeigt eine Moorlandschaft mit Wollgrasbewuchs in der Über- gangszone vom Wasser zum Land. Als Querformat angelegt und mit einer Bilddiagonalen, die sich von rechts unten nach links oben bis zur Horizontlinie zieht (Wollgras entlang der Uferkante), ist die Fotografie in ihrer Bildaufteilung klassisch gestaltet. Vordergrund, Mitte und Hintergrund bilden eine ausgewogene, aber nicht spannungslose Komposition dieser Moorszene, der die weißen Wollgrasblüten zusätzlich eine pointillistische Anmutung verleihen. Diese Aufnahme, ein Glasnegativ im Format 13 × 18 cm, gilt als die älteste erhal-
tene Fotografie Reichlings. Sie dokumentiert, wie Reichling bereits zu Beginn seines fotografischen Schaffens seine Bild- idee motivisch-inhaltlich und formal-gestalterisch umsetzte.
Bereits für diese erste Aufnahme muss Reichling mit einer umfangreichen fotografischen Ausrüstung für Aufnahme und Laborverarbeitung ausgestattet gewesen sein. Die Anleitung zur Photographie für Anfänger listet 1908 die Basisausrüstung eines Fotoamateurs wie folgt: „Aproximative Kosten für die erste photographische Einrichtung [für] 1 Camera für Platten 13 × 18 cm, 5 bis 6 Stück Doppelcassetten, Stativ und Pack- taschen, 1 Objectiv, [...] 30 Stück Aufnahmeplatten“ mit gut 300 Mark [3]. Dazu kamen noch Laborutensilien zur Entwick- lung und weiteren Ausarbeitung der Glasnegative, „Geräthe und Chemikalien für Negativ- und Positivprocess“ für unge- fähr 150 Mark [4]. Zum Vergleich: Der Jahresdurchschnitts- verdienst lag 1912 bei 1.100 Mark [5].
Im Laufe seiner fotografischen Aktivitäten über mehr als drei Jahrzehnte arbeitete Reichling mit unterschiedlichen Kameras verschiedenster Formate. Im LWL-Museum für Na- turkunde ist mit der fotografischen Sammlung Reichling auch eine hölzerne Reisekamera für Aufnahmen im Negativformat 13 × 18 cm erhalten. Man darf annehmen, dass Reichling mit dieser – oder zumindest mit einer vergleichbaren Kamera – seine ersten Aufnahmen herstellte (Abb. 2). Aufbau und Ein- satz dieser Kameratechnik waren relativ zeitaufwendig. Ohne die Verwendung eines Dreibein-Stativs waren Aufnahmen unmöglich. Für das Einrichten und Scharfstellen des Motivs, also für die Arbeit an der Mattscheibe, musste der Fotograf mit seinem Kopf unter einem schwarzen Einstelltuch ver- schwinden, um unter Ausschluss des Umgebungslichtes ein kopfstehendes und seitenverkehrtes Motiv beurteilen zu kön- nen. Auch die Belichtungszeiten für Landschaftsaufnahmen,
„Im Laufe seiner fotografischen Aktivitäten über mehr als drei Jahrzehnte arbeitete Reichling mit unterschiedlichen Kameras
verschiedenster Formate.“
Sonja Feßel
UNIKATE IM PLURAL
Zu den Special Theme Lectures des ICOM-CC Photographic Materials Working Group Interim Meeting, Rijksmuseum, Amsterdam, 23./24. September 2016
Über eine linguistische Eigenheit der englischen Sprache führte Martin Jürgens (Rijksmuseum, Amsterdam/NL), Orga- nisator des ICOM-CC Photographic Materials Working Group Interim Meeting am Rijksmuseum in Amsterdam, in die zwei- tägige Tagung ein [1]: Gibt es doch im Englischen – im Unter- schied zur deutschen und auch zur niederländischen Spra- che – kein Plural des Substantivs ‚Unikat‘. Die Erklärung ist nachvollziehbar: Es ist die Grundeigenschaft eines jeden Uni- kats, nur ein einziges mal vorzukommen. Und doch hat eine Fachcommunity, die sich tagtäglich mit einer Vielzahl an uni- kalen Objekten – mit Daguerreotypien, Ambrotypien, Photo- grammen, Polaroids, aber auch massenhaft produzierten, heute jedoch nur noch vereinzelt erhaltenen Papierabzügen – beschäftigt, längstens verinnerlicht, dass es eben nicht nur ein Unikat, sondern eine Vielzahl von Unikaten gibt; Unikate, deren Erhaltung und Erforschung die wesentlichen Aufgaben dieser Foto-Community sind. Uniques & Multiples, so der Titel der Veranstaltung, breitete dieses der Fotografie von Anbeginn eingeschriebene Spannungsfeld zwischen potenziell unend-
licher Reproduzierbarkeit und unikalem Objekt aus mannig- faltigen Perspektiven aus. Untergliedert in acht Sektionen, wurden in 30 Präsentationen internationale Forschungspro- jekte und Ergebnisse zu Fragen der Konservierung und Res- taurierung, zur Fotogeschichte, zu aktuellen Praxen wie auch den damit verbundenen Problemen – beispielsweise des Aus- stellens zeitgenössischer Fotografie – dargelegt [2]. Die Bei- träge der Special Theme Conference sollen im Folgenden aus- zugsweise vorgestellt werden.
Eröffnet wurde die Veranstaltung mit einem Keynote- Vortrag mit dem Titel „Reproducing Photographs, Thinking Photography“ von Steffen Siegel (Folkwang Universität, Essen), der die Frage des ‚Unikats im Plural‘ aufgriff und das Verhältnis von Unikat und Multiple wie auch das Denken da- rüber als bereits in der frühesten Entstehungsphase der Foto- grafie angelegt nachzeichnete. Bereits unmittelbar nach der Erfindung und Patentanmeldung der Daguerreotypie lassen sich Bemühungen feststellen, diese als Unikate hergestellten Bilder zu reproduzieren. Es ist überraschend und zugleich
Abb. 1 – Markus Seewald: Impos- sible Print Nr. 018, 17. September 2016 (© Markus Seewald).
vielsagend für die Konzeption einer von Foto-Restauratoren ausgerichteten Tagung, dass ein ausgewiesener Foto-Theo- retiker diese eröffnete. Bereits mit diesem ersten Beitrag wur- de die fruchtbare Verschränkung von fotohistorischen, theo- retischen und naturwissenschaftlichen Ansätzen erkennbar, die sich durch die gesamte Tagung zog.
Sofortbilder
Die erste Sektion, moderiert von Ioannis Vasallos (Rijksmuse- um, Amsterdam), schlug unter dem Titel „In an Instant“ den Bogen in die Gegenwart. Stephen Herchen (The Impossible Project, Enschede/NL) zeichnete in seinem Beitrag „The Impossible Project and the Magic of Analog Instant Photo- graphy“ die Geschichte der von Edwin Land in den 1940er Jahren entwickelten „One Step Photography“ nach bis zum Einstellen der Polaroid-Filmproduktion im Jahr 2005, um an- schließend das Fortleben der Sofortbildfotografie durch das
„Impossible Project“ aufzuzeigen. Dieses wurde durch den Kauf der letzten Polaroid-Fabrikation in Enschede/NL im Jahr 2008 durch Florian Kaps und André Bosman ins Leben ge- rufen [3]. Es widmet sich der Produktion und Weiterentwick- lung der ‚Instant Photography‘. Neben der Geschichte des Projekts standen vor allem das Verfahren und der komplexe schichtenweise Aufbau der Filmmaterialien im Vordergrund, die zum noch heute als ‚magisch‘ empfundenen Effekt führen.
Kathrin Pietsch (Nederlands Fotomuseum, Rotterdam/
NL) schloss mit ihrem Vortrag über „Large Format Instant Photography“ unmittelbar an die Ausführungen von Herchen an. Ausgehend von einem mehr als 1 × 2 m großen Selbstpor- trät des Künstlers Ulay, das dieser 1990 in einem eigens für Künstler eingerichteten Polaroid-Studio in Boston fertigte und das über viele Jahre hinweg in einem Büroraum hing, erläuter- te die Referentin Probleme der Konservierung und des Aus- stellens solcher fragilen Unikate. Ulay, der auch als Begründer der performativen Fotografie gilt, schuf als Selbstporträt eine Art Fotogramm mit Polaroid-Filmmaterial, von ihm auch als
‚Polagram‘ bezeichnet [4]. Pietsch bettete Ulays Werk in den weiteren Kontext der „Museum Camera“ ein, mit der die Firma Polaroid in den 1970er Jahren eine „Polaroid Museum Replica Collection“ anstrebte [5]. Schadhafte Veränderungen am Werk von Ulay wurden besonders im Vergleich mit einem zeitgleich entstandenen, aber in einer lichtdichten Transport- rolle im Atelier des Künstlers gelagerten Polagram deutlich.
Das Werk wurde Anfang 2016 unter strengster konservato- rischer Beobachtung in einer Ausstellung am Nederlands Fotomuseum ausgestellt. Damit leitete Pietsch nahtlos über in die folgende Sektion, die sich der Gefährdung überwiegend zeitgenössischer Werke durch Ausstellung widmete.
Zeitgenössische Fotografie
Die Sektion „Contemporary Photography: Editions and Conditions“, moderiert von Sylvie Pénichon (Art Institute
of Chicago, Chicago/USA), griff das derzeit heiß diskutierte Thema der Neuproduktion zeitgenössischer Fotografien – oft einhergehend mit der Zerstörung der Originale – wegen farb- lichen Veränderungen auf [6]. Clara von Waldthausen (Uni- versity of Amsterdam, Amsterdam/NL) eröffnete die Diskus- sion mit ihrem Beitrag „Reprinting Chromogenic First Gene- ration Prints in Photographic Art Collections“. Dabei fiel die Einführung des Begriffs „first generation print“ auf, den sie nutzte, um diese Fotografien von später neu produzierten zu unterscheiden. Zahlreiche Sammlungen und Institutionen las- sen derzeit Farbfotografien der 1970er bis 1990er Jahre – teil- weise auch auf expliziten Wunsch des Künstlers – durch neue Prints ersetzen. Die Referentin stellte Fallstudien mit Werken von Stephen Shore, Axel Hütte sowie der niederländischen Künstlerin Inez van Lamsweerde vor. Wenngleich der Wunsch nach dem dauerhaften Erhalt beziehungsweise dem Wieder- herstellen der originalen Farben nachvollziehbar sei, ginge eine solche Neuproduktion häufig mit zahlreichen Verände- rungen hervor – neuem Papier, anderen Techniken, mögli- cherweise gar verändertem Format und Bildinhalt –, die den
neuen Print deutlich vom „first generation print“ unterschei- den. Hier dann noch von einem Original zu sprechen, ist nur schwer möglich. Der Umgang mit dem „first generation print“
variiert. Einige Künstler, so beispielsweise Stephen Shore oder Axel Hütte, lassen die ersten Fotografien zerstören. Andere Fotografen, wie Inez van Lamsweerde, erlauben den Erhalt der frühen Fotografie und markieren spätere Abzüge eindeu- tig als „exhibition print“, als Ausstellungskopien.
Nora Kennedy und Katherine Sanderson (The Metropoli- tan Museum of Art, New York) setzten die Diskussion mit ih- rer Präsentation „The Future isn’t what it Used to be: Chang- ing Views on Contemporary Color Photography“ fort. Dabei zeigte sich, dass am Met eine Vielzahl an Begriffen zur Be- zeichnung neu produzierter Fotografien verwendet wird, die mitunter bereits eine Rechtfertigung der Neu- oder auch von Anbeginn mehrfach produzierten Aufnahmen in sich tragen:
So unterscheidet das Met zwischen „collection print“ und
„reserve print“, „exhibition print“ oder „match print“. Wann immer möglich, kauft das Met zwei Abzüge einer Fotografie, wobei einer als Werk – als „collection print“ –, der andere