• Keine Ergebnisse gefunden

Terhag, Jürgen: Musikkulturen - Fremd und vertraut. Ausblick auf den 39. Bundeskongress für Musikpädagogik 2002 in Berlin

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Terhag, Jürgen: Musikkulturen - Fremd und vertraut. Ausblick auf den 39. Bundeskongress für Musikpädagogik 2002 in Berlin"

Copied!
3
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

22 AFS-AKTUELL

- Magazin 12 / 2001

Die Welt der Musik wird bunter, denn die Musik der Welt nähert sich einan- der an. In Zukunft werden globale und lokale Musikkulturen vermutlich immer neue Verbindungen eingehen, wobei die Musikpädagogik mit dafür sorgen sollte, dass diese nicht zum kleinsten gemeinsamen Nenner mu- tieren, sondern zum größten gemein- samen Vielfachen werden.

Musikkultur im Wandel Wir sind derzeit Zeugen eines musik- kulturellen Umbruchs, der im außer- kulturellen Bereich nur mit dem Zusammenbruch des Kommu- nismus vergleichbar ist. Das

gesamte vergangene Jahrhundert war in Europa bestimmt vom Übergang aus der hier rund eintausend Jahre dominierenden Kultur der Noten- schrift in eine noch ungewisse Zu- kunft: In der Neuen Musik nutzte man die Improvisation, exotische Instru- mente und Tonsysteme oder man ver- suchte, sich durch grafische Notation oder Multimedia von der Einengung durch die Notenschrift zu befreien. In der Populären Musik knüpfte man gleichzeitig an längst verschüttete abendländische Traditionen aus der Zeit vor der Erfindung der Noten- schrift an. Hier verlangt die körperli- che Seite der Musik erneut nach ihrem Recht, nachdem sie über Jahr-

hunderte durch Kirche, Musikpädago- gik und -wissenschaft unterdrückt wurde. Diese Unterdrückung war ein- hergegangen mit einer Verkümme- rung der rhythmischen Komplexität im Vergleich zu nahezu allen anderen Kulturen der Welt. Musiksoziologisch betrachtet hat der Musicalbesuch längst das Opern-Abo abgelöst und spätestens mit der Elton-John-Ballade beim Staatsbegräbnis von Lady Di hat

MUSIKKULTUREN – FREMD

UND VERTRAUT

Ausblick auf den 39. Bundeskongress für Musikpädagogik 2002 in Berlin

Jürgen Terhag

Fotos: Peter Ohligschläger

(2)

23 MUSIKKULTUREN

Arbeitskreis für Schulmusik e.V.

Populäre Musik auch traditionelle re- präsentative Funktionen übernom- men.

In diesem Zusammenhang sollten wir uns einerseits vor dem wertenden Vergleich unterschiedlicher Musik- kulturen hüten und andererseits davor, sie zu einer Art

‘Weltsprache’ zu ver- kleistern, die angeb- lich in allen Zivilisatio-

nen verstanden wird. Diese ‘Welt- sprache’ hat es nie gegeben und dies wird vermutlich so bleiben. Unter pädagogischem Aspekt muss das Fremde daher zunächst einmal als fremd akzeptiert werden; erst danach kann es uns eventuell vertrauter wer- den. Fremdes kann dabei auch Äng- ste auslösen, die sowohl Aus- länderfeindlichkeit als auf

Fremde projizierten Selbsthass er- klären können als auch die Etablie- rung rechter Jugendkulturen.

Anschluss an verschüttete abendländische Musiktraditionen Beim Umgang mit fremden Kulturen ist Respekt erforderlich. Statt im stili- stischen Niemandsland fröhlich drauf- los zu grooven, sollten wir in der Mu- sikpädagogik mit dazu beitragen, das beschriebene körperliche-musikali- sche Vakuum möglichst authentisch zu füllen. Hierbei sollten wir auch den Anschluss an verschüttete abendländi- sche Musiktraditionen suchen. In an- deren Kulturen findet immer wieder ein in Deutschland unvorstellbarer Übergang zwischen volksmusikali- scher Tradition und aktuellem Pop statt. Bei uns existieren stattdessen nur Brüche: Durch die ‘Säuberung’

volksmusikalischer Traditionen im 19.

Jahrhundert und den Missbrauch der Volksmusik durch die Nazis war im Deutschland der 1950er Jahre jenes Vakuum entstanden, in das die anglo- amerikanische Populäre Musik Flächen deckend einbrechen konnte.

In dasselbe Vakuum dringt auch die volkstümliche Musik, die als zeit- genössische Schlagermusik im tradi- tionellen Gewand historisch nichts mit gewachsener Volksmusik zu tun hat.

Aus all diesen Gründen singen bei den Vorstellungsrunden auf internationa- len Jugendtreffen die französischen oder italienischen Jugendlichen wei- terhin völlig selbstver-

ständlich ein Volkslied in ihrer je- weiligen Mutter-

Fotos: B. Ohligschläger / F. Neumann

(3)

24 AFS-AKTUELL

- Magazin 12 / 2001

sprache, bevor die Deutschen Yester- day anstimmen – womit selbstver- ständlich nichts gegen eine der schön- sten Kompositionen des 20. Jahrhun- derts gesagt sein soll!

Anregungen, Ideen und Themenvorschläge für Berlin 2002 Die folgende Zusammenfassung soll als Anregung für Veranstaltungen beim AfS-Bundeskongress 2002 die- nen, die auf ein respektvolles Mitein- ander der Musikkulturen zielen.

Vom Umgang mit Musik in anderen Kulturen können wir lernen, dass eine reiche Mu- sikkultur nicht nur aus einer handvoll genie-ähnlicher Schöpfer/innen zeit- los gültiger Werke und deren Publi- kum besteht, sondern auch aus der in das alltägliche Leben integrierte Krea- tivität aller. Selbst das perfekteste mu- sikalische Werk sollte der lebendigen und immer wieder erneuerten musi- kalischen Eigenschöpfung nicht im Wege stehen.

Die Musik anderer Kulturen sollte in Schule und Ausbil- dung möglichst authentisch, praxisnah und mit Respekt vor der fremden Kultur vermittelt werden.

Wo die praktische Reproduktion einer Musik durch eine stilistisch befriedi- gende Vereinfachung nicht möglich ist, sollte auf ein "europäisiertes" Mu- sizieren verzichtet werden.

Die selbstverständliche Tradi- tionspflege der abendländi- schen Musikkultur muss jegli- chen Eurozentrismus vermeiden. Sie darf nicht den Blick auf eine Zukunft verstellen, in der diese Kultur vermut- lich zunehmend als historischer "Son- derfall" (Rösing 1994) gelten wird.

Die durch die dominante Schriftkultur verschütteten oralen Musiktraditionen Eu- ropas, die viele Parallelen zur Po- pulären Musik und zu "außereuropäi- schen" Musikkulturen aufweisen, soll- ten weiter erforscht und wieder un- terrichtlich nutzbar gemacht werden.

Der Umgang mit Schriftlich- keit und Musiktheorie sollte in Schule und Hochschule vor allem der Musikgestaltung dienen.

Das letzte Jahrhundert hat zur Genü- ge bewiesen, dass man sogar ohne jegliche Notenkenntnis Musikge- schichte schreiben kann. Auch in der europäischen Musikgeschichte ist theoretisches Wissen niemals Selbst- zweck gewesen; es diente allenfalls dazu, das zu beschreiben, was vorher gespielt, gesungen, improvisiert und komponiert wurde (Gagel 2000; Gies 2000).

Mögliche Themen für Workshops und Veranstaltungen in Berlin

• Wie kann das Fremde vertrauter werden? Beispiele aus der Unterrichts- praxis

• Welche Rolle spielt die Musik frem- der Kulturen im Musikunterricht?

• Welche Musikkulturen werden im Musikunterricht thematisiert?

• Fremdenhass und rechtsradikale Jugendkulturen

• Instrumental- und Vokalworkshops mit Umsetzungsmöglichkeiten für den Musikunterricht

• Darstellung fremder Kulturen in Lie- dern und Lehrwerken

• Die Musik anderer Kulturen als The- ma des Fächer übergreifenden Unter- richts

• Ziele, Inhalte und Methoden für die Beschäftigung mit der Musik unter- schiedlicher Kulturen

• Der Kulturbegriff in Lehrplänen für die allgemein bildenden Schulen

• Traditionelles deutsches Liedgut als Thema der interkulturellen Musik- pädagogik

• Gemeinsames Sing-Repertoire für Kinder und Jugendliche – nicht mehr angesagt?!

• Lebendige Volksmusiktraditionen anderer Kulturen im Unterricht

• Die Musik der Heimatkulturen der zweiten und dritten Einwanderer-Ge- neration im Unterricht

• Authentische volksmusikalische Kul- turen in europäischen Regionen

• Zwischen Blaskapelle und Rockband:

Was haben Jugendliche (noch) mit Volksmusik zu tun?

• Sampling und Computer-Recording:

Zeitgemäße Form der mündlichen Überlieferung?

• Volkstümliche Musik zwischen Fern- sehkultur, Schlager-Ersatz und Mega- Geschäft

• Volkstanz in der Techno-Disco: Ein Widerspruch nur in deutschen Kultur- landschaften?

Ein ausführlicher Text zum Thema so- wie weiter führende Literaturanga- ben sind unter der u.a. Adresse oder unter www.terhag.de abrufbar (e-mail: juergen.terhag@uni- koeln.de)

Ein Gebäudeteil der Hochschule der Künste in Berlin. In den Räumen der HdK wird der AfS-Bundeskongress 2002 stattfinden.

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

So stellte Lise Resznicek in ihrem Workshop über ver- schiedene Gesangsstile der Populären Musik vor allem die Klangideale in den Mittelpunkt, die den meisten

Beim AfS-Wettbewerb sind völlig an- dere Überlegungen der Grund für Ner- vosität: „Die Irina sieht zwar mit ihrem Piercing ziemlich wild aus, aber die ist ja doch ziemlich

2 Bei der Gestaltübertragung wird eine musikalische Gestalt auf eine andere übertragen, indem sich beispielsweise ein Bodypercussion-Rhyth- mus stufenlos in eine

Wenn wir Musik hoch schätzen, ihr ei- ne kulturelle, pädagogische und auch eine nationale Identifikationsfunktion zuschreiben und gleichzeitig akzeptie- ren, dass sie

Zeile 3135 ff.: „Wir stehen für eine eigenständige Jugend- politik, eine starke Jugendhilfe und eine starke Jugendar- beit, die junge Menschen teilhaben lässt und ihre Poten-

rotz seiner langen Erfolgsge- schichte handelt es sich bei die- sem Thema um ein heißes musik pä - dagogisches Eisen, denn über das Klas- senmusizieren, verstanden als

Die katastrophalen Ausbildungsbedin- gungen  und  -kapazitäten  für  den  Mu- sikunterricht in der Grundschule sowie

Terhag selber äußert sich zu sei- nem Ausscheiden eher pragmatisch: „Ich hätte die- sen Schritt schon früher getan, denn ich finde ei- gentlich, dass in einem sol-