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Academic year: 2022

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No. 2/2019

This work is licensed under a Creative Commons Attribution 4.0 International License.

https://doi.org/10.18716/ojs/krimoj/2019.2.1

Bernd Dollinger & Dörte Negnal

Diskurs – Praxis – Kriminalität

Anlassgebend für diesen Band mit höchst unterschiedlichen Perspektiven auf die Diskurs-Pra- xis „Kriminalität“ ist die 1. Tagung des Netzwerks „Kriminologie in Nordrhein-Westfalen“, die wir vom 27-29. März dieses Jahres an der Universität Siegen veranstaltet haben.

Das Netzwerk wurde 2017 von kriminologisch Forschenden gegründet, um die vielfältigen Ak- tivitäten sowohl an Universitäten und Hochschulen als auch in der Praxis im Bereich der Kri- minologie, der Soziologie abweichenden Verhaltens, der Soziologie sozialer Probleme und so- zialer Kontrolle sowie der Kriminalpsychologie zu bündeln und hier auch für eine erweiterte Sichtbarkeit zu sorgen. Wir möchten den Austausch zwischen Forschung, Lehre und Praxis anregen und haben mit dieser Tagung insbesondere Nachwuchs-Wissenschaftler*innen ein- geladen, Beiträge vorzustellen. Ein Hintergedanke hierbei war es, im interdisziplinären Aus- tausch innovative Ideen zu fördern. Denn wie bereits John Braithwaite zuspitzte: „Our under- graduate classes are more intellectually engaging than most of the work published in our journals“ (2011, ix). Dass mitunter zwar viel, aber bei Weitem nicht immer Innovatives veröf- fentlicht wird, hängt mit vielerlei Strukturellem zusammen.

Nennen möchten wir nur drei Aspekte. (1) Forschungen im Drittmittelbereich stecken enge Zeitfenster. In diesem Rahmen Forschende unterliegen Karriere-Zwängen, die sich mit dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz verschärft haben und den Publikationsdruck erhöhen. Insbe- sondere für kriminologische Themengebiete zeigt sich zudem (2), dass wiederholt die politi- sche und moralische Dimension von Kriminalität bzw. Kriminalisierung reproduziert wird, ohne dabei ihren Konstruktionsmechanismen auf die Spur zu kommen und (3) mit Verweis auf Wehrheim (2018) eine normative Logik des Verhinderns statt des Erschließens und Ver- stehens Einzug hält, die durch die extensive Förderpolitik der Bundes- und EU-Programme im Bereich der Sicherheitsforschung eher gefördert als substantiell in ihren Grundlagen analysiert wird.

Sicher ist, es gibt hierfür keine ad hoc-Lösungen, doch lassen sich durchaus Potentiale kenn- zeichnen, die wir auch mit dem Netzwerk anregen wollen: etwa durch eine Pluralität von An- sätzen. Insbesondere die Sozialwissenschaften bieten methodisch vielfältige Zugänge, die zu nutzen und zur Diskussion zu stellen den Dialog zwischen den Disziplinen bereichern kann.

Pluralität sollte sich ferner auch in der Diversität von Forschungsgegenständen zeigen können und über die Drittmittellogik hinausreichen. Dafür bedarf es einer Autonomie gegenüber si- cherheitspolitischen Verwertungsinteressen, denn zu allererst sind Forschung und Lehre frei.

Gleichzeitig ist der Dialog mit Praxispartner*innen und Forschungsteilnehmenden oftmals Grundlage von Forschung. Ihre Bedarfe sollten Berücksichtigung finden, ohne Taktgeber für die Forschenden zu werden. Und gerade in der kriminologischen Forschung, die mit der ‚Di- agnose‘ von Problemlagen und Herausforderungen von gesellschaftlichen Akteur*innen adres- siert wird, sind deren Herstellungsweisen nicht aus dem Blick zu verlieren, denn die Frage der Verbreitung eines Phänomens ist unweigerlich mit seiner Herstellung verbunden; oder wie der

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Dollinger & Negnal | Editorial 111

KrimOJ | Vol. 1 | Issue 2 | 2019

Wissenschaftsforscher Hans Jörg Rheinberger (1997) formulierte: Das Sein eines Forschungs- gegenstandes korrespondiert mit seinem Werden. Hierzu gilt es, ‚langsame‘ Forschung zu er- möglichen, in der sich Fragen sukzessive entwickeln können. Auch hierfür kann ein For- schungsnetzwerk ermöglichende Strukturen bieten, um langjährige Zusammenarbeiten zu gestalten. Hierin sollte es uns ein Anliegen sein, eine konstruktive Fehlerkultur zu pflegen, denn es sind mit Merton (1967, S. 4) die intuitiven Sprünge, die Fehlstarts oder vermeintlichen Fehler, die losen Enden und glücklichen Unfälle, die Diskussionen anregen, statt einer makel- losen Performance in Vorträgen und Texten.

Insofern verstehen wir die vorliegenden Beiträge als Impulse, die bei der Konstitution von Kri- minalität verschiedene Ebenen bespielen: Mikro, Meso und Makro; Situation und Diskurs; Be- deutungen und Praktiken. Diskurse etwa sind Arenen von Bedeutungsaufladung und Positio- nierung. Clarke (2005, 2012) hat mit Rekurs auf den postmodern turn gezeigt, wie sich Diskurse in sozialen Situationen niederschlagen. Hier werden sie geformt und formen ihrer- seits Situationen. Akteur*innen nehmen erste Zuschnitte vor und Handlungen vollziehen sich mit Bezug zu einem ‚matter of concern‘. Diese ,Sache von Belang‘ ermöglicht Vor- und Rück- griffe und liefert erste Hinweise auf die Verwobenheit von Ereignis und Prozess.

In sozialen Situationen sind hierbei die Praktiken zentral, denn in Handlungsvollzügen in situ deuten sich immer schon weitergehende Bezüge an. Hier wird auf etwas verwiesen, etwas vo- rangebracht, anderes zurückgehalten. Es sind solche Versatzstücke von Praxis, die in Prozesse bzw. Diskurse eingebunden sind, und es ist eine Aufgabe von Forschung, diesen Zusammen- hängen nachzuspüren. Kriminalität als Verstoß gegen soziale Regeln und deren Setzungen ver- weisen zurück auf entsprechende Rahmenbedingungen, die für die Konstitution von abwei- chendem Verhalten zentral sind.

Jugendkriminalität ist so ein Forschungsgegenstand, der das Diskursfeld der Kriminologie in eine gesellschaftliche Sicherheitsarchitektur und damit in spezifische Praxen übersetzt. Unter dem Titel “Know Your enemy” untersucht Dirk Lampe die Präventionsverständnisse bei Prak- tiker*innen der Jugendkriminalprävention. Der Beitrag von Anke Stallwitz nimmt dann die Gewalt gegen Frauen in der Stockholmer Drogenszene in den Blick. Ihre Forschung themati- siert die Formen und Funktionen von Gewalt und zeigt die Verwobenheit von Peer Research- Projekten und Interventionsmöglichkeiten auf, die kriminologische Forschung zu leisten ver- mag. Ähnlich der Konstruktion von Jugendkriminalität bedeutet auch Radikalisierung ein so- ziales Problem, das seine Zugehörigen als problematisch entwirft. Katharina Leimbach rekon- struiert, wie die Bearbeiter*innen ihre Klient*innen erst als „Radikale“ entwerfen und wie sich die Kategorisierungsarbeit im institutionellen Setting vollzieht.

Im Anschluss untersuchen zwei Beiträge den Strafvollzug als politischen Bildungsraum. Hier- bei bezieht Lisa Schneider rechtliche, pädagogische und gestalterische Aspekte der Bildungs- arbeit mit ein. Anne Kaplan, Klara Verlinden und Sabrina Wittig beziehen ihre Überlegungen auf die sexuelle Bildung im Haftkontext. Zu den repressiven Organen einer ‚Sicherheitsgesell- schaft‘ (Singelnstein & Stolle) gehören neben diesen Zwangskontexten auch polizierende Bür- gergruppen und die Polizei selbst. So bietet Frauke Reichl in ihrem Beitrag einen theoretischen Zugriff zum Verständnis polizierender zivilgesellschaftlicher Akteur*innen, während Laila Ab- dul-Rahman, Hannah Espín Grau und Tobias Singelnstein forschungsmethodische Überle- gungen zur Untersuchung von Polizeigewalt in Deutschland darlegen. Im Abschlussbeitrag skizziert Laura Gammon eine der umstrittensten Sanktionen im Jugendstrafrecht. Der Ju- gendarrest ist kriminalpolitisches Instrument und erfährt doch wenig Beachtung aus der Sicht

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Dollinger & Negnal | Editorial 112

KrimOJ | Vol. 1 | Issue 2 | 2019

seiner Adressat*innen. Dieser Leerstelle widmet sich die Autorin und meldet hier Forschungs- bedarfe an. Diese sehr unterschiedlichen Forschungsgegenstände in diesem Band deuten an, was wir mit der angesprochenen Pluralität kriminologischer Forschung eingangs erwähnt ha- ben. Wir wünschen eine inspirierende Lektüre.

Literaturverzeichnis

Braithwaite, J. (2011). ‘Foreword’, In M. Bosworth & C. Hoyle (Eds.), What is Criminology? (pp. vii-x).

Oxford: Oxford University Press.

Clarke, A. (2005). Situational Analysis. Grounded Theory After the Postmodern Turn. London, New Delhi: SAGE Publications.

Clarke, A. (2012). Situationsanalyse. Grounded Theory nach dem Postmodern Turn. Wiesbaden: Sprin- ger VS.

Merton, R.K. (1967). Social Theory and Social Structure. 2. Auflage. New York: Free Press.

Rheinberger, H.-J. (1997). Toward a History of Epistemic Things: Synthesizing Proteins in the Test Tube. Stanford: University Press.

Wehrheim, J. (2018): Kritik der Versicherheitlichung: Thesen zur (sozialwissenschaftlichen) Sicher- heitsforschung. Kriminologisches Journal, 50(3), 211-221.

Kontakt | Contact

Prof. Dr. Bernd Dollinger | Universität Siegen | Fakultät II, Department Erziehungswissen- schaft und Psychologie | bernd.dollinger@uni-siegen.de

Jun.-Prof.'in Dr. Dörte Negnal | Universität Siegen | Fakultät II, Department Erziehungswis- senschaft und Psychologie | doerte.negnal@uni-siegen.de

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