Bewährungs- probe
Erste Erfahrungen
aus der Schneekatastrophe in Schleswig-Holstein
Schleswig-fiolstein wurde von ei- nem Naturereignis getroffen, das es in diesem Ausmaß und in die- sem Umfang seit Menschengeden- ken nicht gegeben hat. Ein or- kanartiger Sturm und heftigste Schneefälle hielten, beginnend mit dem 28. Dezember, vier Tage hindurch an. Weite Teile des Lan- des wurden unter schweren Schneemassen begraben. Städte, Dörfer und Gehöfte waren von der Außenwelt abgeschnitten.
An dieser Stelle wird nicht über die Rettungsmaßnahmen im Rahmen der Katastrophenabwehr berich- tet. Vielmehr soll in einer ersten Analyse ein Gesichtspunkt ange- sprochen werden, der von heraus- ragender Bedeutung für die ge- sundheitliche Versorgung der Be- völkerung in Katastrophenzeiten ist: Das Vorhandensein und die Funktionsfähigkeit einer Vielzahl von dezentralen Einrichtungen des Gesundheitswesens, worunter sowohl niedergelassene Ärzte, Zahnärzte und Apotheken als auch Krankenhäuser zu verstehen sind.
ln der gesundheitlichen Versor- gung der Bevölkerung bestand das Hauptproblem in den Trans- portschwierigkeiten. Die einge- schneiten Regionen waren von der Umwelt abgeschnitten. Weder kam ärztliche Hilfe hinein, noch konnten die in dieser Region woh- nenden Bürger außerhalb ihrer al- lerengsten Nachbarschaft ärztli- che Hilfe in Anspruch nehmen. Ei- ne Schnellumfrage bei den Ge- sundheitsämtern der hauptbetrof- fenen Kreise nach Beendigung des Katastrophenalarms ergab, daß dabei Probleme insbesondere mit Dialysepatienten auftraten, die regelmäßig in Krankenhäusern
dialysiert werden müssen. Da ins- besondere in den ersten Tagen ein Hubschraubereinsatz wegen des Sturmes nicht möglich war und auch die Bundeswehr einge- schlossene Gebiete selbst mit Ket- tenfahrzeugen nicht erreichen konnte, war hier die Situation kri- tisch. Später wurden die Dialyse- patienten entweder durch Hub- schrauber oder durch Kettenfahr- zeuge der Bundeswehr und dann mit Krankenkraftwagen in die Krankenhäuser gefahren.
Nachdem deutlich wurde, daß wei- te Bereiche Schleswig-Holsteins auf Tage von der Umwelt abge- schnitten waren, erließ das Sozial- ministerium am 31. Dezember 1978 einen Aufruf an die Ärzte, Zahnärzte und Apotheker sowie an die Bevölkerung in Schleswig-Hol- stein, der mehrfach gesendet wor- den ist. Dieser Aufruf lautete: 1. Die Ärzte werden gebeten, auf den automatischen Anrufbeantworter zu ver- zichten und für Notfälle und für telefoni- sche Hinweise zur Verfügung zu stehen.
Dort, wo Apotheken schwer oder nicht erreichbar sind, sollen die Ärzte bei Hausbesuchen ausreichend Medikamen- te mitnehmen.
2. Zahnärzte, die in ihrer Praxis wohnen, werden gebeten, auf den automatischen Anrufbeantworter zu verzichten und für Notfälle zur Verfügung zu stehen.
3. Apotheker, die in Verbindung mit ih- rer Apotheke wohnen, werden gebeten, sich dienstbereit zu halten und diese Dienstbereitschaft durch einen Aushang in der Apotheke deutlich zu erkennen zu geben.
4. Die Bevölkerung wird gebeten, ärztli- che Hilfe nur in Notfällen in Anspruch zu nehmen. Nach Möglichkeit soll im Notfall der nächstgelegene Arzt aufgesucht wer- den. Im übrigen sollte mehr als bisher von einer telefonischen Beratung durch den Arzt Gebrauch gemacht werden. Ist ein Hausbesuch erforderlich, so soll dem Arzt das Auffinden der Wohnung erleich- tert werden.
5. Besonders gefährdet sind alte Men- schen und Menschen unter Alkoholein- wirkung. Insbesondere alte Menschen werden gebeten, zu Hause zu bleiben und gegebenenfalls telefonisch mit ihren Nachbarn in Verbindung zu treten.
Die Information:
Bericht und Meinung DER KOMMENTAR
Soweit bis jetzt bekanntgeworden ist, haben Ärzte, Zahnärzte und Apotheker diesen Aufruf weitge- hend befolgt. Viele Ärzte, Zahnärz- te und Apotheker hatten sich be- reits vor diesem Aufruf entspre- chend verhalten.
Eine detaillierte Auswertung der gesundheitlichen Versorgung in der Schneekatastrophe steht noch aus. Es kann aber schon jetzt fest- gestellt werden, daß es zu ernsten Zwischenfällen nicht gekommen ist. Dieses ist in allererster Linie der Tatsache zu verdanken - und das kann nicht nachdrücklich ge- nug betont und unterstrichen wer- den-,
..,. daß wir über ein dezentralisiert angelegtes System der gesund- heitlichen Versorgung verfügen.
Niedergelassene Ärzte, Zahnärzte und Apotheken konnten in ihrer engsten Umgebung die Versor- gung der von der Außenwelt abge- schnittenen Bevölkerung sicher- stellen. Ein Gesundheitswesen, das die Bevölkerung ausschließ- lich oder überwiegend über Groß- krankenhäuser, Polikliniken und Ambulatorien versorgt, hätte in dieser Situation versagt.
..,. Das Prinzip unseres Systems der gesundheitlichen Sicherung, die Bevölkerung über ein weitge- streutes Netz von niedergelasse- nen Ärzten, Zahnärzten und Apo- theken und über ein abgestuftes System der Krankenhausversor- gung - vom Zentralkrankemhaus bis hin zu klejnen Krankenhäusern -zu versorgen, hat sich bewährt.
Katastrophen, wie die Schneeka- tastrophe des ausklingenden Jah- res 1978, können sich in dieser oder in anderer Form jederzeit wiederholen. Das Gesundheitswe- sen muß sich darauf einstellen, die Bevölkerung auch in solchen Ka- tastrophenzeiten angemessen, wenn auch unter Schwierigkeiten, zu versorgen. Dieses sollte bei der Weiterentwicklung unseres Ge- sundheitswesens nicht außer acht bleiben.
Staatssekretär
Prof. Dr. med. Fritz Beske, Kiel
DEUTSCHES ARZTEBLATT Heft 6 vom 8. Februar 1979 333