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Die „Deutsche Islam Konferenz“ als institutionalisiertes multilaterales Kommunikations- und Verhandlungssystem zur politischen Interessenvermittlung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren

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Dirk Struck

Die „Deutsche Islam Konferenz“ als institutionalisiertes multilaterales Kommunikations- und Verhandlungs-

system zur politischen Interessenvermittlung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren

Dissertation

Fakultät für

Kultur- und

Sozialwissen-

schaften

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1

Die „Deutsche Islam Konferenz“ als institutionalisiertes multilaterales Kommunikations- und Verhandlungssystem

zur politischen Interessenvermittlung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren

Dissertation

zur Erlangung des Grades

Doktor der Sozialwissenschaften (Dr. rer. soc.)

der Fernuniversität Hagen (Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften)

vorgelegt von Dirk Struck, M.A.

Erstgutachter: Prof. Dr. Lars Holtkamp Zweitgutachter: Prof. Dr. Thomas Eimer Promotionsfach: Politikwissenschaft Datum der Disputation: 09.12.2019

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Erklärung:

Hiermit versichere ich an Eides statt, dass ich die vorliegende Dissertation selbstständig und ohne unzulässige Inanspruchnahme Dritter verfasst habe. Ich habe dabei nur die angegebenen Quellen und Hilfsmittel verwendet und die aus diesen wörtlich, inhaltlich oder sinngemäß entnommenen Stellen als solche den wissenschaftlichen Anforderungen entsprechend kenntlich gemacht. Die Versicherung selbstständiger Arbeit gilt auch für Zeichnungen, Skizzen oder graphische Darstellungen. Die Arbeit wurde in gleicher oder ähnlicher Form weder derselben noch einer anderen Prüfungsbehörde vorgelegt und auch noch nicht veröffentlicht. Mit der Abgabe der elektronischen Fassung der endgültigen Version der Arbeit nehme ich zur Kenntnis, dass diese mit Hilfe eines Plagiatserkennungsdienstes auf enthaltene Plagiate überprüft und ausschließlich für Prüfungszwecke gespeichert wird. Es ist mir bekannt, dass wegen einer falschen Versicherung bereits erfolgte Promotionsleistungen für ungültig erklärt werden und eine bereits verliehene Doktorwürde entzogen wird.

Berlin, den 17.01.2020 Dirk Struck

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3

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung ... 6

2. Forschungsstand ...10

3. Theorie ...13

3.1 Neokorporatismus ...13

3.2 Akteurzentrierter Institutionalismus ...19

3.3 Theorie des kommunikativen Handelns ...22

3.4 Modell zur Kategorisierung von inklusiven nationalstaatlichen Formaten zur politischen Interessenvermittlung ...25

4. Methodik ...32

4.1 Untersuchungsgegenstand ...32

4.2 Operationalisierung der Variablen ...34

4.3 Methodisches Vorgehen und Quellenlage ...36

5. Interaktionsprozesse zwischen dem Staat und Religions- gemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland ...40

6. Die „Deutsche Islam Konferenz“ (DIK) ...45

6.1 Die erste Phase von 2006 bis 2009 (DIK I) ...45

6.1.1 Institutionelle Rahmenbedingungen ...45

6.1.2 Struktur und Zusammensetzung...51

6.1.2.1 Organisationsstruktur ...51

6.1.2.2 Zusammensetzung ...52

6.1.3 Der Politics-Prozess ...58

6.1.3.1 Das Plenum ...58

6.1.3.1.2 Akteurskonstellation ...60

6.1.3.1.3 Interaktionsorientierungen ...64

6.1.3.1.4 Gremienarbeit und Entscheidungsfindung ...67

6.1.3.2 Die Arbeitsgruppe 1 (AG 1) ...74

6.1.3.2.1 Inhalte und Zielsetzung ...74

6.1.3.2.2 Akteurskonstellation ...75

6.1.3.2.3 Interaktionsorientierungen ...78

6.1.3.2.4 Gremienarbeit und Entscheidungsfindung ...81

6.1.3.3 Die Arbeitsgruppe 2 (AG 2) ...93

6.1.3.3.1 Inhalte und Zielsetzung ...93

6.1.3.3.2 Akteurskonstellation ...94

(5)

4

6.1.3.3.3 Interaktionsorientierungen ...96

6.1.3.3.4 Gremienarbeit und Entscheidungsfindung ...99

6.1.3.4 Die Arbeitsgruppe 3 (AG 3) ... 106

6.1.3.4.1 Inhalte und Zielsetzung ... 106

6.1.3.4.2 Akteurskonstellation ... 107

6.1.3.4.3 Interaktionsorientierungen ... 109

6.1.3.4.4 Gremienarbeit und Entscheidungsfindung ... 112

6.1.3.5 Der „Gesprächskreis Sicherheit und Islamismus“ (GK) ... 117

6.1.3.5.1 Inhalte und Zielsetzung ... 117

6.1.3.5.2 Akteurskonstellation ... 117

6.1.3.5.3 Interaktionsorientierungen ... 120

6.1.3.5.4 Gremienarbeit und Entscheidungsfindung ... 122

6.1.4 Gesamtergebnisse der DIK I ... 128

6.1.5 Fazit der DIK I ... 131

6.2 Die zweite Phase von 2010 bis 2013 (DIK II)... 134

6.2.1 Institutionelle Rahmenbedingungen ... 134

6.2.2 Struktur und Zusammensetzung... 136

6.2.3 Inhalte und Zielsetzung ... 142

6.2.4 Der Politics-Prozess ... 144

6.2.4.1 Akteurskonstellation ... 144

6.2.4.2 Gremienarbeit ... 145

6.2.4.3 Interaktionsorientierungen ... 149

6.2.4.4 Arbeitsgemeinschaft „Präventionsarbeit mit Jugendlichen“ (AG Prävention) ... 153

6.2.4.5 Projektgruppen ... 159

6.2.5 Gesamtergebnisse der DIK II ... 169

6.2.6 Fazit der DIK II ... 171

6.3 Die dritte Phase von 2014 bis 2017 (DIK III) ... 173

6.3.1 Institutionelle Rahmenbedingungen ... 173

6.3.2 Inhalte und Zielsetzung ... 176

6.3.3.1 Erster Teil der DIK III (Zusammensetzung) ... 181

6.3.3.2 Zweiter Teil der DIK III (Zusammensetzung) ... 184

6.3.3 Struktur und Zusammensetzung... 186

6.3.4 Der Politics-Prozess ... 188

6.3.4.1 Akteurskonstellation ... 188

6.3.4.2 Gremienarbeit ... 190

(6)

5

6.3.4.2.1 Erster Teil (Wohlfahrtspflege) ... 191

6.3.4.2.2 Zweiter Teil (Seelsorge) ... 198

6.3.4.3 Interaktionsorientierungen ... 203

6.3.5 Gesamtergebnisse der DIK III ... 206

6.3.6 Fazit der DIK III ... 211

7. Fazit ... 214

7.1 Gesamtbetrachtung der DIK von 2006 bis 2017 ... 214

7.2 Politikwissenschaftliche Einordnung ... 217

8. Ausblick ... 222

8.1 Beginn der DIK IV im November 2018 ... 222

8.2 Handlungsempfehlungen... 225

9. Anhang ... 229

9.1 Interview-Leitfaden ... 229

9.2 Modell zur Kategorisierung von Formaten der politischen Interessenvermittlung .. 231

9.3 Geschäftsordnung der DIK I ... 232

10. Abkürzungsverzeichnis ... 234

11. Quellen- und Literaturverzeichnis... 239

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1. Einleitung

„Ich habe für diesen September zu einer Islamkonferenz eingeladen. Ich bin ja als Innenminister für die Beziehungen zu den Religionsgemeinschaften zuständig […] wir [müssen] nicht nur mit der Katholischen Kirche, mit der Evangelischen Kirche und mit der jüdischen Gemeinschaft, sondern auch mit den Muslimen in geregelte, institutionalisierte Beziehung und Kommunikation kommen“ (SCHÄUBLE 2006a).

Mit diesen Worten im Rahmen einer Fachtagung der „Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen“ über „Globale Migration“ am 30. Mai 2006 in Berlin erwähnte der Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble erstmals öffentlich die beabsichtigte Einrichtung und Durchführung der „Deutschen Islam Konferenz“ (DIK). Dem war eine etwa sechsmonatige Vorbereitungszeit vorausgegangen. Im November 2005 hatte der CDU-Politiker Schäuble nach dem Regierungswechsel das Innenressort von dem SPD-Politiker Otto Schily übernommen. Die Große Koalition unter der Führung von Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte im Koalitionsvertrag den „Dialog mit dem Islam“ in neuartiger Weise als Ziel der Regierungspolitik verankert:

„Ein interreligiöser und interkultureller Dialog ist nicht nur wichtiger Bestandteil von Integrationspolitik und politischer Bildung; es dient auch der Verhinderung und Bekämpfung von Rassismus, Antisemitismus und Extremismus. Gerade dem Dialog mit dem Islam kommt in diesem Zusammenhang eine bedeutende Rolle zu. Dabei ist es ein Gebot des wechselseitigen Respekts, auch Differenzen, die die Dialogpartner trennen, eindeutig zu benennen“

(CDU/CSU/SPD 2005: 137).

Damit begann die Bundesregierung einen institutionellen Gesprächsprozess mit den Muslimen in Deutschland. Zuvor gab es nur vereinzelte Gesprächskontakte mit den islamischen Verbänden und einzelnen Muslimen. Dem gegenüber waren die Kontakte des Staates zu den anderen etablierten Religionen wie der Katholischen und Evangelischen Kirche sowie der Jüdischen Gemeinde in Deutschland zu Beginn des 2. Jahrtausends institutionalisiert und die Beziehungen durch Verträge geregelt.

Im Ausland wurde die Einrichtung der DIK als „innovativ“ und als „Unikat“ bewertet:

„Deutschland macht da etwas, was es so in dieser Form in anderen Ländern nicht gibt.“ Da es „keine Präzedenzinitiative“ gab, habe es allseits großes Interesse an dem Verlauf der DIK gegeben (SAK38): Die DIK sei „schon eine deutsche Besonderheit (…) In anderen Staaten gibt es (…) nichts wirklich Vergleichbares“

(NAK21).

(8)

7 Tatsächlich gab es im europäischen Ausland zuvor bereits von staatlicher Seite Versuche, mit Vertreter*innen des Islam ins Gespräch zu kommen und institutionelle Kontakte aufzubauen:

Frankreich: Conseil francais du culte musulman (CFCM), gegründet 2003;

Niederlande: Contactorgaan Moslims en Overheid (CMO), gegründet 2004, Italien: Consulta per l`Islam in Italia (CII), gegründet 2005;

Großbritannien: Mosques and Imams National Advisory Board (MINAB), gegründet 2006.

Dabei handelt es sich entweder um mit staatlicher Hilfe gegründete islamische Dachverbände oder um Beratungsgremien. Im Vordergrund stand dabei, eine Ansprechinstanz des Staates gegenüber islamischen Repräsentanten zu haben, um staatliche Entscheidungen zu vermitteln (vgl. LAURENCE 2012: 13 ff.). Strukturell war die DIK etwas anderes als die Systeme im Ausland, insbesondere durch ihre Anlage als neo-korporatistisches Format zur Konfliktlösung im Rahmen eines Aushandlungsprozesses.

Somit wurde auf Initiative und unter Leitung des Bundesministeriums des Innern mit der DIK erstmals ein institutionalisierter gesamtstaatlicher Rahmen für „einen langfristig angelegten Verhandlungs- und Kommunikationsprozess zwischen Vertretern des deutschen Staates und Vertretern der muslimischen Bevölkerung Deutschlands“ (BMI 2006) geschaffen. Im Rahmen des freiwilligen multilateralen Kommunikations- und Verhandlungssystems DIK sollen Probleme gelöst, ein inhaltlicher Konsens erzielt und gemeinsame Ergebnisse erreicht werden.

Problemlösung und Konfliktregulierung standen im Zentrum der Intention zur Schaffung der DIK: „Ich weiß, dass ich keine Schönwetterveranstaltung mache. Da werden nicht nur freundschaftliche Erklärungen ausgetauscht, sondern da sagen wir:

Hier gibt es ein Problem“ (SCHÄUBLE 2006e: 85).

Durch diese Aussage verdeutlicht sich auch der grundsätzliche Unterschied in der Kommunikationsausgangslage gegenüber dem bis dahin bestehenden (bewährten) und eher harmonisch verlaufenden Diskurs zwischen dem Staat auf der einen und der Katholischen Kirche, der Evangelischen Kirche und der Jüdischen Gemeinde in Deutschland auf der je anderen Seite. Die staatlichen und die muslimischen Akteure

(9)

8 saßen sich zum ersten Mal in institutionalisierter Form an einem Tisch gegenüber und sprachen miteinander. Es geht hier nicht nur um eine soziale Integration von Muslimen, sondern um gesellschaftliche Teilhabe von muslimischen Organisationen.

Insofern ist dieses Kommunikations- und Verhandlungssystem verschränkt verortet in der Religions- und der Integrationspolitik. Durch die oben genannte Aussage im Koalitionsvertrag, dass dem Dialog mit dem Islam in Zusammenhang mit der Verhinderung und Bekämpfung von Rassismus, Antisemitismus und Extremismus eine besondere Bedeutung zukäme, wird zudem ein Bezug zum Feld der Sicherheitspolitik und der Gefahrenabwehr hergestellt.

Die staatliche Seite äußerte von Beginn an, dass durch die spezielle organisatorische Verfasstheit der religiösen Muslime und einer angeblich mangelnden Repräsentativität ihrer Verbände ein Diskurs auf Augenhöhe erschwert werde:

„Ich sehe sie [die Deutsche Islam Konferenz, Anm. d. Verf.] als eine ständige Einrichtung des Dialogs zwischen staatlichen Stellen mit den Muslimen in unserem Land. Dem liegt der Gedanke zu Grunde, dass der Islam ja nicht wie die christlichen Kirchen verfasst ist und es keine repräsentative Organisation der Muslime gibt. Ich kann sie von Staats wegen auch nicht anordnen. Die Länder können auch nicht von Staats wegen Islamunterricht in den Schulen durchführen, ohne einen islamischen Partner zu haben. Es ist das Grundprinzip, dass der Staat das nicht verordnet, sondern dass er es partnerschaftlich organisiert. Also brauchen wir eine Entwicklung in der islamischen Community in unserem Land, damit sie partnerschaftsfähig wird“

(SCHÄUBLE 2006b: 14).

Neben der formulierten Erwartung einer „Entwicklung“ der muslimischen Verbände im Sinne einer Angleichung an traditionelle bundesrepublikanische Standards weisen diese Worte auch auf die politische Interdependenz, also der wechselseitigen Abhängigkeit der Akteure zu- und voneinander, in diesem Politikfeld hin. Ohne ein Zusammenwirken mit den muslimischen Akteuren ist der Staat nicht handlungsfähig.

Er kann nicht Top-Down agieren, sondern muss in den Prozess der politischen Interessenvermittlung treten. Dies entspricht dem Prinzip der kooperativen Demokratie.

Nach alledem wird die DIK in dieser Untersuchung als ein neuartiges inklusives (national)staatliches Format begriffen, das als Kommunikations- und Verhandlungssystem die Bearbeitung von politischen Problemen und Differenzen zur Aufgabe hat, mit dem Ziel einer friedlichen Dissens- und Konfliktlösung.

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9 Bei allen Unterschieden in ihrer institutionellen Stellung oder Ressourcenausstattung wird unter Verhandlung ein Modus von sozialer Interaktion zwischen gleichberechtigten Akteuren verstanden, die im Wege des direkten Austauschs von Forderungen, Angeboten und Argumenten eine gemeinsame Entscheidung anstreben (vgl. BENZ 2007: 106). Das Verhandlungskollektiv versucht im Konsens zu einer Lösung zu gelangen, die für alle beteiligten Akteure Gültigkeit hat (vgl.

HOLZINGER 2004: 3 f.). In Verhandlungen geht es immer um Konfliktsituationen, die die Aufteilung von Nutzen oder Kosten zwischen den Akteuren betreffen oder die sich entsprechend interpretieren lassen (vgl. BENZ 2007: 107).

Im politischen Diskurs wurden die Ergebnisse der DIK unterschiedlich und teilweise widersprüchlich bewertet. Das Bundesministerium des Innern sprach von einem

„weitgehende[n] Konsens, aber keine[r] Einstimmigkeit“ (DIK 2009b). Einzelne Mitarbeiter des Bundesministeriums des Innern betonten, die erste DIK habe

„entgegen aller anfänglichen Skepsis (…) zu sehr konkreten Ergebnissen und Empfehlungen“ geführt (BUSCH/GOLTZ 2011: 44) und sei „politisch erfolgreich“

gewesen (HERMANI 2010: 96). Muslimische Teilnehmer erklärten hingegen, dass

„konkrete Ergebnisse nicht vorliegen“ (SOYKAN 2011) würden bzw. „keine nennenswerten nachhaltigen Ergebnisse“ erzielt worden seien (ATES 2011).

Weiterhin wurde festgestellt, die erste DIK sei „Palaver, das nichts bringt“

(SCHMIESE 2007) und „ohne Konsens“ (AM ORDE 2009) oder mit „wenig Konsens“

(GEYER 2010) zu Ende gegangen.

Die Fragestellung der Untersuchung lautet auf dieser Grundlage: Wurden im Rahmen des Kommunikations- und Verhandlungssystems „Deutsche Islamkonferenz“ zwischen den Teilnehmern inhaltlicher Konsens und ein angestrebtes gemeinsames Gesamtergebnis erzielt? Zu analysieren ist, welche Bedingungen und Faktoren diesbezüglich zum Erfolg oder Misserfolg der Konferenz führten.

Diese Frage zu beantworten ist nicht nur im vorliegenden Kontext politikwissen- schaftlich relevant, sondern auch generell nutzbringend im Sinne von „Lessons Learned“ für die Errichtung neuer inklusiver Formate zur Bearbeitung politischer Probleme zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren auch in anderen politischen Feldern.

(11)

10

2. Forschungsstand

Das Format der DIK zur politischen Interessenvermittlung zwischen Staat und Muslimen in Deutschland auf dem Gebiet der Religions- und Integrationspolitik ist ein

„neuartiges Phänomen“, wodurch „deutlich Bewegung in das Verhältnis zwischen Politik und Islam gekommen“ sei (MEYER/SCHUBERT 2011: 7). Hinsichtlich des institutionalisierten Verhältnisses zwischen Politik und Islam einerseits und politischer Regulierbarkeit von Integrationsprozessen andererseits besteht weiterhin ein Forschungsdesiderat: „Je näher man der Frage rückt, ob und ggf. wie unter der gegebenen Interessenvielfalt politisch steuernd eingegriffen werden kann, desto deutlicher reduziert sich die Anzahl weiterführender Veröffentlichungen“ (Ebenda: 14 ff.).

Die Funktionsweise und die Effektivität des Kommunikations- und Verhandlungssystems DIK sind bisher nicht eingehend politikwissenschaftlich erforscht worden. Die veröffentlichten Forschungsbeiträge zur DIK konzentrieren sich weitgehend auf inhaltliche Policy-Dimensionen und sind hauptsächlich innerhalb der politikwissenschaftlichen Migrations- und Integrationsforschung, der Kultur-, Religions- und Islamwissenschaften verortet. Hervorzuheben sind die Arbeiten im Rahmen der Exzellenscluster „Religion und Politik“ an der Universität Münster (MEYER/SCHUBERT 2011), „Kulturelle Grundlagen von Integration“ an der Universität Konstanz (TEZCAN 2012) sowie die Monographien „Die politische und mediale Repräsentation in Deutschland lebender Muslime, Eine Studie am Beispiel der Deutschen Islam Konferenz“ (BAYAT 2016) und „Governing Muslims and Islam in Contemporary Germany, Race, Time, and the German Islam Conference“

(HERNANDEZ AGUILAR 2018). Außerdem haben wissenschaftliche Mitarbeiter*innen des Bundesinnenministeriums Beiträge zur DIK veröffentlicht (HERMANI 2009; BUSCH/GOLZ 2011). „Die Deutsche Islamkonferenz 2006-2009“

von HERMANI ist eher diskursanalytisch angelegt, wertet insbesondere die öffentlichen und medialen Wahrnehmungen und Debatten zur DIK I aus und stellt die Handlungsziele der staatlichen Regierungsakteure dar. Die Monographie von BAYAT ist ebenfalls eher diskursanalytisch, jedoch mehr aus Sicht und mit Fokus auf die muslimischen Akteure. Die Werke von TEZCAN, der auch selbst an der ersten Phase der DIK teilgenommen hatte, und von HERNANDEZ AGUILAR sind in den Bereich

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11 der politikwissenschaftlichen Integrationsforschung einzuordnen. Sie beschäftigen sich vorwiegend mit den inhaltlichen Themen der DIK, analysieren die Konfiguration und Handlungsziele der am Prozess beteiligten muslimischen und staatlichen Akteure.

Die vorliegende Untersuchung ist in der politikwissenschaftlichen Verhandlungsforschung verortet, legt den Fokus auf die Politics-Prozesse unter Berücksichtigung der Polity-Strukturen und analysiert über einen längeren Zeitraum die DIK als ein inklusives multilaterales Format zur politischen Interessenvermittlung.

Sie möchte einen Ansatz bieten, die politikwissenschaftliche Lücke in diesem Forschungsbereich zu verringern und Raum für weiterführende wissenschaftliche Untersuchungen in diesem Bereich eröffnen.

Im Rahmen der politikwissenschaftlichen Verhandlungsforschung geht es um die Analyse kollektiver Entscheidungsprozesse im Rahmen von Diskursen und Verhandlungen als Formen der politischen Steuerung, Regulation und Koordinierung (vgl. HOLZINGER 2004: 1). In modernen politischen Systemen hat sich ein konsensueller Politikmodus entwickelt, in dem „Entscheidungen von vornherein an einer Mehrzahl von Bezugseinheiten orientiert sind, in dem es nicht auf Mehrheit, sondern auf allseitiges Einverständnis ankommt (…)“ (BENZ/SCHARPF/ZINTL 1991:

11 f.). Verhandlungen sind somit ein Modus von sozialer Interaktion zwischen – bei allen Unterschieden in ihrer institutionellen Stellung oder Ressourcenausstattung – gleichberechtigten Akteuren, die im Wege des direkten Austauschs von Forderungen, Angeboten und Argumenten eine gemeinsame Entscheidung anstreben (vgl. 2007: 106). Das Verhandlungskollektiv versucht im Konsens zu einer Lösung zu gelangen, die für alle beteiligten Akteure Gültigkeit hat (vgl. HOLZINGER 2004: 3 f.). In Verhandlungen geht es immer um Konfliktsituationen, die die Aufteilung von Nutzen oder Kosten zwischen den Akteuren betreffen oder die sich entsprechend interpretieren lassen (vgl. BENZ 2007a: 107). Ergänzend haben die Theorien des kommunikativen Handelns und der deliberativen Demokratie von Jürgen Habermas und John Rawls das Element der gegenseitigen Überzeugung durch Argumentieren in Interaktionskonstellationen mit unterschiedlichen Akteursinteressen betont und damit das Feld der empirischen Verhandlungsanalyse um ein weiteres/neuartiges ergänzt (Vgl. HOLZINGER 2004: 7 f.). Im politikwissenschaftlichen Diskurs wird die Auffassung vertreten, dass Arguing

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12 (Argumentieren) und Bargaining (Verhandeln) keine analytischen Gegensätze und empirisch disjunkte Klassen seien. Argumentieren und Verhandeln erfolgten demnach in empirischen Situationen kommunikativer Konfliktlösung selten allein.

Argumentieren verhalte sich instrumentell und nicht oppositionell zum Verhandeln.

Reale Konfliktlösungsprozesse ließen sich deshalb nicht eindeutig jeweils einem der beiden Modi zuordnen (Ebenda: 77). Die DIK wurde von der staatlichen Seite explizit als „Verhandlungs- und Kommunikationssystem“ in einem nichtöffentlichen und außerparlamentarischen Diskursrahmen konzipiert (BMI 2006). Die Akteure agierten strategisch. Deliberative Aspekte scheinen jedoch in der Praxis bedeutsam zu sein.

Der Generalsekretär des „Zentralrats der Muslime“ erklärte nach der ersten Phase der DIK, dass die staatlichen Vertreter in der DIK mit den islamischen Verbänden im Verlauf der Konferenz gar nicht verhandelt hätten (MAZYEK 2010). Laut eines muslimischen Verbändevertreters habe die staatliche Seite in der ersten Phase der DIK vorrangig versucht, die muslimischen Vertreter von ihren Standpunkten zu überzeugen und sie zu „überreden“ (NAK01). AMIR-MOAZAMI spricht in diesem Zusammenhang von „recht massiven Fehleinschätzungen der Verhandlungspartner hinsichtlich der Ziele, Hoffnungen und Forderungen des Gegenübers“ (2011: 125).

Vor Beginn der zweiten Phase bezeichnete das Bundesministerium die DIK als

„Forum für den Dialog zwischen Staat und Muslimen“ (BMI 2010: 1). Insofern soll auch Gegenstand der Untersuchung sein, was für ein Interaktionssystem die DIK in der Praxis tatsächlich ist, inwieweit sich Bargaining und Arguing als Kommunikationsmodi prozessual ergänzen, überlagern oder ausschließen und welchen Einfluss dies auf die Ergebnisfindung hat.

Die bisherigen drei Phasen der DIK können als jeweils abgeschlossene Einheiten betrachtet werden. Jede Phase hatte ihr eigenes Arbeitsprogramm und eigene Ergebnispräsentation. In der ersten Phase von 2006 bis 2009 hatte das Plenum der DIK 30 Teilnehmer, aufgeteilt in 15 staatliche Akteure des Bundes, der Länder und Kommunen, fünf Vertreter muslimischer Verbände sowie zehn muslimische Einzelpersonen.

In der zweiten Phase von 2010 bis 2013 (DIK II) nahm das Bundesinnenministerium Änderungen an der Struktur, der personellen Zusammensetzung und des inhaltlichen Profils vor. Das Plenum der DIK II bestand aus insgesamt 34 Personen, darunter 17

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13 staatliche Akteure, sechs Vertreter muslimischer Verbände sowie elf muslimische Einzelpersonen.

In der dritten Phase der DIK von 2014 bis 2017 (DIK III) erfolgte wiederum eine tiefgreifende Änderung der Struktur. Das „Plenum“ wurde in „Lenkungsausschuss“

umbenannt. Auf die Einrichtung mehrerer Arbeitsgruppen wurde verzichtet; es gab nur noch einen „Arbeitsausschuss“. Zudem erhöhte das Bundesinnenministerium die Präsenz der muslimischen Verbände auf zehn, während muslimische Einzelpersonen nicht mehr eingeladen wurden. Der „Lenkungsausschuss“ wurde auf 24 Personen verkleinert.

Die relativ hohe Anzahl von Teilnehmer*innen in allen drei Phasen der DIK ist grundsätzlich kritisch zu bewerten. Denn die Schwierigkeiten, im Rahmen freiwilliger multilateraler Verhandlungen ein gemeinsames Gesamtergebnis zu erzielen, steigen mit der Zahl der selbständig Beteiligten, ihrer interdependenten Handlungsoptionen und dementsprechend mit der Zahl der Transaktionen, die gleichzeitig zustande kommen müssen. Eine Einigung ist unter diesen Umständen umso schwerer, weil damit die Konfliktdimensionen zunehmen und die Kommunikation aufwendiger wird (vgl. BENZ 2007: 113). SCHARPF bezeichnet dies als das „Problem der großen Zahl“. Jenseits sehr enger Grenzen würden deshalb multilaterale Verhandlungen an prohibitiven Anforderungen an der Informationsverarbeitungs- und Konflikt- regelungskapazität scheitern (vgl. 1993: 65 ff.).

3. Theorie

3.1 Neokorporatismus

Korporatismus ist eine Form der Beteiligung gesellschaftlicher Gruppen an den sie betreffenden politischen Entscheidungsprozessen. Dabei geht es um ein planvolles und abgestimmtes Ineinandergreifen dieser Gruppen zur Erreichung eines gemeinsamen Ziels. Ein korporatistisches Verhandlungssystem funktioniert, wenn alle Beteiligten freiwillig zu Zugeständnissen bereit sind und es zu einem tauschähnlichen Vorgang mit einem Ausgleich der Interessen kommt (vgl. WROBEL 2018). Eine zentrale Voraussetzung für den Erfolg der Initiierung von politischer

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14 Interessenvermittlung und der Konzertierung von Interessen sind die Anreize für die Akteure, sich auf ein solches Arrangement einzulassen, die der Staat bzw. die Regierung setzen kann (vgl. WEßELS 2002).

Der klassische Korporatismus aus dem frühen 20. Jahrhundert war gekennzeichnet durch eine begrenzte Anzahl von Verbänden mit Zwangsmitgliedschaft in Anlehnung an das mittelalterliche Zunftwesen. Die Verbände wurden vom Staat nach funktionalen Aspekten gegeneinander abgegrenzt und standen in keinem Wettbewerb miteinander (vgl. WROBEL 2018). Das Konzept des Neokorporatismus oder auch demokratisch-liberalen Korporatismus etablierte sich in den 1970er Jahren und setzte auf die freiwillige Einbindung frei gebildeter Interessenverbände in staatliche Entscheidungsprozesse (vgl. SCHMITTER 1979). Diese freiwillige korporatistische Koordination setzt konsolidierte Partner in Form von Verbänden voraus, die Anspruch auf Repräsentanz oder zumindest Meinungsführerschaft erheben können. Diese Interessenverbände müssen einerseits einen gemeinsamen Ideologiegehalt besitzen, andererseits aber auch über ideologische Elastizität und Verhandlungskompetenz verfügen. Es soll ein Mindestmaß an Vertrauen der Verhandlungspartner vorliegen (vgl. WROBEL 2018).

Der politische Tausch in korporatistischen Arrangements beruht auf der Logik, dass durch die Einbindung einer begrenzten, aber repräsentativen Zahl von Akteuren der Koordinierungsaufwand gering gehalten und Konflikte minimiert werden können.

Andererseits wird davon ausgegangen, dass Großorganisationen und Verbände ein Eigeninteresse haben, sich auf gesamtgesellschaftliche Ziele verpflichten zu lassen.

Bis in die 1980er Jahre hinein waren Kernbereiche dieser korporatistischen Austauschlogik vor allem die Politikfelder Wirtschaft und Arbeit, in denen zum Beispiel Löhne, Investitionen, Arbeitsplätze und fördernde politische Rahmenbedingungen zwischen Arbeitgeber- bzw. Wirtschaftsverbänden, Gewerkschaften und dem Staat ausgehandelt wurden (vgl. WEßELS 2002).

Zum Ende des letzten Jahrhunderts hatte sich Politik und politische Interessenvermittlung auch in anderen Politikfeldern (wie Gesundheit, Umwelt, gesellschaftliche Teilhabe und Integration) immer mehr aus parlamentarischen oder hierarchischen Institutionen in pluralistische oder korporatistische Verhandlungssysteme verlagert (vgl. BENZ/SCHARPF/ZINTL 1991: 207). Der Staat trat nicht mehr nur als hierarchische Ordnungsinstanz auf, sondern versuchte auch

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15 diesen Politikfeldern mit Verbändevertreter*innen zu verhandeln und verbindliche Regelungen zu erzielen. Der „kooperative Staat“ erhofft sich auf diese Weise eine friedliche Regelung von gesellschaftlichen Konflikten und Blockaden (vgl.

HOLZINGER 2004: 7). Der Vorteil der direkten Einbeziehung nicht-staatlicher Akteure in den Politikprozess liegt dabei in problemadäquaten Politikprogrammen und deren effektiven Umsetzung, weil die Zielgruppen sich ihre Ressourcen und Interessen einbringen können (vgl. BÖRZEL 2008: 118).

Allerdings unterliegen nicht-hierarchische Formen der des Regierens unter Einbeziehung nicht-staatlicher Akteure dem „Schatten der Hierarchie“. Damit ist gemeint, dass die staatliche Seite die Möglichkeit einer einseitigen verbindlichen Entscheidung hat. Die Einbettung von Verhandlungen in die hierarchische Autoritätsstruktur des Staates führt aber nur dann zu effektiven Ergebnissen, wenn der Regelungsadressat von einer Verschlechterung seiner Position ausgehen muss.

Die Lage des Nichteinigungspunktes wird weg vom Status quo verschoben. Wenn keine Verhandlungslösung gefunden wird, mit der die Regierung zufrieden ist, können die Verbände nicht damit rechnen, dass sie weitermachen könne wie bisher, sondern dass der einseitige Erlass von staatlichen Regulierungen erfolgt (vgl.

SCHARPF 2000: 329 ff.). Die Verschachtelung oder Einbettung impliziert eine Rangordnung, indem die eingebettete Regelungsstruktur die institutionellen Spielregeln festlegt bzw. ändert. Der institutionelle Schatten der Regelungsstruktur hat somit einen entscheidenden Einfluss auf die Handlungsorientierung und Kosten- Nutzen-Kalküle der Akteure. Der Schatten der Hierarchie kann ich zweifacher Weise auf die Dynamik und die Ergebnisse von Verhandlungen wirken, in denen Akteure unterschiedliche Interessen verfolgen. Einerseits erhöht sich die Einigungsbereitschaft der beteiligten Akteure, wenn im Falle einer Nichteinigung mit einer staatlichen Ersatzvornahme gerechnet werden kann. Andererseits müssen die Akteure darauf achten, dass sich die erzielte Einigung in den gesetzten Parametern bewegt. Machtvorsprung des Staates und die glaubhafte Möglichkeit einer hierarchischen Regelung sind Grundvoraussetzungen für den Erfolg von Verhandlungen im „Schatten der Hierarchie“. Außerdem müssen tatsächliche Interessendivergenzen vorliegen. Die Adressaten einer Regelung hätten keinen Anreiz , sich an der Regelungssetzung und deren Umsetzung zu beteiligen, wenn die hoheitliche staatliche Ersatzvornahme näher an dem von ihnen bevorzugten Ergebnis liegt als jede mögliche Verhandlungslösung, insbesondere wenn die

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16 Transaktionskosten hoch sind. Es kommt mithin einerseits auf die Kosten an, die eine hoheitliche staatliche Regelung für die Adressaten verursachen würden. Diese sind umso höher, je stärker die Präferenzen zwischen den beteiligten Akteuren divergieren. Allerdings darf der Grad der Interessenunterschiede auch nicht zu hoch sein, weil sonst eine Verhandlungslösung unwahrscheinlich wird bzw. zu hohe Transaktionskosten entstehen (vgl. BÖRZEL: 123 ff.).

Im Sinne des Korporatismus ist „Konfliktregelung durch Aushandeln“ oftmals gekennzeichnet durch staatlich initiierte und angeleitete Steuerung und Moderation von Verteilungskonflikten zwischen Interessengruppen (CZADA 2004: 95 ff.). Im Rahmen der DIK ist die Rolle des Staates differenziert zu betrachten. Er ist Initiator, Organisator und Agenda-Setter, gleichzeitig aber auch Konfliktpartei mit klar definierten Interessen. Es besteht somit eine Machtasymmetrie im Interaktionsprozess. Allerdings verfügen die muslimischen Vertreter in dem freiwilligen System über eine Exit-Option, welches ihnen ein gewisses Einflusspotenzial verschafft. Nach der ersten Phase der DIK nutzte ein islamischer Verband die Exit-Option und entzog sich als Regelungsadressat der Aushandlung.

Die staatliche Seite verfügt aber auch über eine Exit-Option. Er kann die institutionalisierten Gespräche abbrechen oder dauerhaft beenden, wenn er die Verbände als (noch) nicht oder generell nicht als geeignete Vertragspartner ansieht.

Dies kann der Fall sein, wenn der Staat die Verbände für nicht repräsentativ, nicht professionell oder sogar für radikal oder extremistisch hält. Sie verfügten dann nicht über die ideologische Elastizität und Verhandlungskompetenz verfügen, die ein korporatistischer Verhandlungspartner vorweisen muss. Auch ein Mindestmaß an Vertrauen würde fehlen.

Einseitiges staatliches Handeln ist bei derartigen Problemlagen mit asymmetrischer Akteurskonstellation jedoch nicht immer effektiv. Es stellt sich nämlich die Frage, was hoheitliches einseitiges staatliches Handeln gegenüber den islamischen Verbänden überhaupt sein kann. Die Situation ist grundsätzlich von Interdependenz geprägt, weil der Staat in diesem Bereich der Religions- und Integrationspolitik auf die Mitwirkung der muslimischen Akteure angewiesen ist. Der als problematisch angesehenen Gefahr einer „soziale[n] und emotionale[n] Segmentation“ (BMI 2006:

2) mit der Abschottung islamischer Bevölkerungsgruppen steht der Staat relativ machtlos gegenüber. Die muslimischen Gläubigen würden sich vom Staat keine Vorschriften zu ihrer Religionsausübung machen lassen. Einseitiges Handeln der

(18)

17 Mehrheitsgesellschaft führt eher dazu, dass sich Desintegration, Rückzug, Distanz und Radikalisierungsprozesse verstärken (vgl. LEIBOLD/KÜHNEL/HEITMEYER 2006: 3 ff.). Abgeschottete islamische „Parallelgesellschaften“ bergen die Gefahr des Extremismus, der Kriminalität, der Beschränkung der Rechte von Frauen und Homosexuellen sowie der Abkopplung von Bildung und Wohlstand mit der möglichen Folge zunehmender Konflikte zwischen Mehrheitsgesellschaft(en) und Minderheitsgruppen (vgl. HALM/SAUER 2006: 18 ff.; SCHULTZ 2008). Die islamischen Vertreter verfügen diesbezüglich durchaus über immaterielles Tauschpotenzial im Aushandlungsprozess mit dem Staat. Austauschressourcen sind Informationen, Transparenz, Anerkennung der hiesigen Gesellschaftsordnung und gesellschaftlicher Frieden (z. B. Maßnahmen gegen Extremismus und Kriminalität).

Der Staat verfügt in dem Kontext der DIK insbesondere über finanzielle Mittel, Anerkennung, Einbindung in Gesellschaftsstrukturen und gesellschaftlichen Frieden (z. B. Maßnahmen gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit) als Tauschressourcen.

Allerdings kann die staatliche Seite den Interaktionsprozess dahin gehend steuern, dass es zu keiner verbindlichen Regelung mit den islamischen Verbänden kommt.

Die Verweigerung eines Vertrages oder einer andersartigen verbindlichen Vereinbarung ist ein hierarchisches Machtinstrument der staatlichen Akteure, dem die islamischen Verbände zunächst nichts entgegensetzen können.

Verhandlungstheoretisch problematisch erscheint zudem, dass die islamischen Verbände bisher im Sinne von „Religious Governance“ über keinen Status Quo verfügen. Sie haben somit auch wenig zu verlieren. Es ist somit fraglich, ob sich der

„Schatten der Hierarchie“ hier effektiv entfalten kann. Für die staatliche Seite ist es schwierig, im religionspolitischen Bereich einseitige Regelungen zu beschließen.

Zum einen ist zweifelhaft, ob der Staat dadurch sich eine bessere Position verschafft.

Und zum anderen besteht in diesem sensiblen Bereich die Gefahr, dass sein Verhalten als diskriminierend gegenüber dem Islam ausgelegt wird. Der „Schatten der Hierarchie“ könnte somit gegenüber den islamischen Verbänden begrenzt sein.

Keine Regelung könnte für den Staat demnach attraktiver sein, als einen in seiner Wahrnehmung „schlechten“ Vertrag abzuschließen.

Zwischen den staatlichen Akteuren und islamischen Verbändevertreter*innen bestehen Wert- und Interessenkonflikte. Wertkonflikte sind Auseinandersetzungen, bei denen es um Uneinigkeiten bezüglich normativer Vorschriften geht.

Interessenkonflikte haben hingegen einen klar umrissenen Konfliktgegenstand, auf

(19)

18 den von verschiedenen Seiten Ansprüche erhoben werden, die miteinander unvereinbar sind (vgl. BINDER 2005: 17 ff.). Wertkonflikte sind somit schwerer zu lösen als Interessenkonflikte, da letztere nur durch einen Wertewandel beigelegt werden können. Dies lässt sich in der Regel nur langsam und kaum gezielt verändern (vgl. HOLZINGER 2004: 22; BINDER 2005: 18). Die religionsspezifischen Aspekte der Konfliktkonstellation machen den Prozess kompliziert, da hier grundsätzliche Einstellungen, Werte und Normen betroffen sind. Die Konfliktlinien verlaufen nicht unbedingt nur zwischen säkularem Staat und islamischer Religion.

Auch staatliche Teilnehmer*innen sind religiös gebunden; christliche Wertvorstellungen treffen hier auf islamische Werteprinzipien (vgl.

LEIBOLD/KÜHNEL/HEITMEYER 2006: 3). Basis eines dauerhaft angelegten Interaktionsprozesses sollte deshalb ein Minimalkonsens über Werte und Normen sein. Dieser liegt bei Akteuren der DIK durchaus vor. Denn offen extremistische islamische Vertreter, die die wesentlichen Prinzipien der freiheitlich demokratischen Grundordnung grundsätzlich ablehnen und/oder gewalttätige Aktivitäten entfalten, sind nicht Bestandteil der Konferenz. So wurde ein islamischer Verband nach der ersten Phase der DIK aufgrund mutmaßlicher extremistischer Aktivitäten ausgeschlossen.

Dabei ist das institutionalisierte korporatistische Aushandeln von Staat und islamischen Religionsverbänden ein schwieriges Feld mit bislang wenig Einvernehmen. Im Gegensatz dazu praktizieren der Staat und die etablierten christlichen Kirchen sowie jüdischen Verbänden seit langem eine vertraglich geregelte und routinierte Zusammenarbeit, vor allem im Bildungswesen und bei der Finanzierung und Bereitstellung sozialer Dienste. Dass Religionen rechtlich eingehegt und politisch reguliert werden müssen, gehört zu den Grundüberzeugungen des modernen Verfassungsstaats und von „Religious Governance“. Dabei ist Religionspolitik immer im Spannungsfeld zwischen Aufsicht und Privilegierung angesiedelt. Die Einbeziehung des Islam in die bestehenden religionspolitischen Verhältnisse und Regelwerke ist bislang nicht hinreichend gelungen (vgl. CZADA 2018: 37 ff.). SCHUPPERT geht jedoch davon aus, dass der Abschluss staatskirchenrechtlicher Verträge angesichts der staatlichen Regelungsschwäche im religiös-weltanschaulichen Bereich die einzig wirklich in Betracht kommende rechtliche Handlungsform sei. Das „Abtasten“ der staatlichen Seite mit den islamischen Verbänden habe bislang noch zu keiner profunden

(20)

19 Regelung geführt. Dieser vorsichtige Umgang sei aufgrund der speziellen Verfasstheit des Islam verständlich, führe jedoch zu einer „Regelungsfurcht“

(SCHUPPERT 2012: 56 ff.).

Es stellt somit die Frage, ob und unter welchen Bedingungen die islamischen Verbände in das korporatistische System der Bundesrepublik Deutschland integriert werden können oder „Religious Governance“ beim Islam an seine Grenzen stoßen könnte.

3.2 Akteurzentrierter Institutionalismus

Politik in modernen politischen Systemen hat die Aufgabe, Programme auszuwählen und zu legitimieren, die mittels der Ressourcen des Gemeinwesens Ziele verfolgen und Probleme bearbeiten sollen, die weder durch individuelles Handeln noch durch Markttransaktionen oder freiwillige Kooperation bewältigt werden kann. Der Ansatz des „akteurzentrierten Institutionalismus“ geht von der Annahme aus, dass soziale Phänomene als das Produkt von Interaktionen zwischen intentional handelnden Akteuren erklärt werden müssen. Diese Interaktionen werden jedoch durch den institutionellen Kontext, in dem sie stattfinden, strukturiert und dadurch ihre Ergebnisse beeinflusst. Der Zweckrationalität der Akteure wird mithin die gleiche Bedeutung beigemessen wie die ermöglichenden, beschränkenden und prägenden Effekte institutioneller Strukturen und institutionalisierter Normen (vgl. SCHARPF 2000: 17 ff.).

Im Sinne des Neo-Institutionalismus, in dem der Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus theoretisch eingebettet ist, wird vorausgesetzt, dass „eine im Sinne ihrer Ziele erfolgreiche Einwirkung der Politik auf gesellschaftliche Strukturen und Prozesse zwar schwierig, aber nicht grundsätzlich ausgeschlossen und unter bestimmten Bedingungen durchaus möglich ist“. Unter Bedingungen werden hier institutionelle und akteurbezogene Faktoren verstanden, von denen der Erfolg oder Misserfolg ernsthafter Steuerungsversuche beeinflusst werde (MAYNTZ/SCHARPF 2005).

Als Institutionen werden Regelsysteme verstanden, die einer Gruppe von Akteuren offenstehende Handlungsverläufe strukturieren. Sie sind die wichtigsten

(21)

20 Einflussgrößen auf Akteure und Interaktionen, weil die Akteure selbst auf sozial konstruierte Regeln angewiesen sind, um sich in ansonsten chaotischen sozialen Umgebungen zurechtzufinden (vgl. SCHARPF 2000: 77 f.). Akteurkonstellationen beschreiben das Verhältnis, in dem die an der politischen Interaktion beteiligten Akteure hinsichtlich ihrer Strategieoptionen und ihrer Ergebnispräferenzen zueinander stehen (vgl. Ebenda: 42). Die Akteurkonstellation beschreibt also das Konfliktniveau der an der politischen Interaktion beteiligten Akteure. Sie stellt ein statisches Bild dar und nicht die eigentlichen Interaktionen, aus denen die politischen Ergebnisse resultieren. Diesbezüglich werden vier Interaktionsformen unterschieden: einseitiges Handeln, Verhandlung, Mehrheitsentscheidung und hierarchische Steuerung. Diese Interaktionsformen werden beeinflusst von institutionellen Regeln, die ihren Einsatz steuern. Um diese institutionellen Kontexte zu beschreiben, werden die Begriffe „anarchische Felder und minimale Institutionen“, „Netzwerke, Regime und Zwangsverhandlungssysteme“, „Verbände und repräsentative Versammlungen“ und „hierarchische Organisationen und Staat“

benutzt. Diese institutionellen Rahmenbedingungen geben Auskunft über die Einfluss- und Blockademöglichkeiten der an der Interaktion beteiligten Akteure (vgl.

Ebenda: 90 f.). Neben der Akteurkonstellation ist auch die relationale Dimension der Handlungsorientierungen von Akteuren sehr bedeutsam. Bei diesen Interaktionsorientierungen handelt es sich um subjektive Umdeutungen der Auszahlungen von Ego und Alter, die von der Art der Beziehung abhängig sind, in der beide zueinander stehen. Interaktionsorientierungen können kooperativ, kompetitiv, feindselig, egoistisch oder altruistisch sein (vgl. Ebenda: 148 ff.).

Im Rahmen von Verhandlungen innerhalb von Multiakteurkonstellationen mit mehr als zwei individuellen, kollektiven oder korporativen Akteuren sind Interaktionsstrukturen und -prozesse erforderlich, die den Abschluss kollektiv verbindlicher Entscheidungen ermöglichen. Wenn verbindliche Vereinbarungen möglich sind, sollten rationale Akteure eine sichere und faire kooperative Lösung der allgemeinen Nichtkooperation vorziehen (vgl. Ebenda: 135 f.). Bei freiwilligen Verhandlungssystemen können die Akteure, die mit einer angestrebten Verhandlungslösung nicht einverstanden sind, aus dem Prozess ausscheiden und ihre „Exit-Option“ wahrnehmen. Verhandlungen sind in der Regel nur erfolgreich, wenn es für alle Parteien durch die Kooperation in der Verhandlung etwas zu gewinnen gibt. Falls keine Einstimmigkeit zu erzielen ist, werden im Politics-Prozess

(22)

21 oftmals Abstimmungspakete geschnürt (so genannte „Koppelgeschäfte“ oder

„Paketlösungen“), die mehrere Projekte miteinander verbinden, um so die Zustimmung zu allen zu erhalten (vgl. HOLZINGER 2004: 3 ff.). Verhandlungen sollten mit Repräsentanten von Verbänden durchgeführt werden, die in der Lage sind, aggregierte Präferenzen oder Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten (vgl.

SCHARPF 2000: 241 ff.). Die Akteure sind bei Verhandlungen insofern gleichberechtigt, als alle die gleichen Kommunikations- und Entscheidungsrechte besitzen, bei allen Unterschieden in ihrer institutionellen Stellung oder Ressourcenausstattung. Um zum Erfolg zu gelangen, müssen die Akteure im Verhandlungsprozess kompetitive Interaktionsorientierungen aufgeben und die Meinungen und Interessen der anderen Verhandlungsteilnehmer berücksichtigen.

Tauschgeschäfte erfordern die Aufnahme zusätzlicher Themen auf die Agenda, Kompromisse verlangen ein Aufgeben ursprünglicher Positionen und Verständigung eine Änderung der Präferenzen (vgl. BENZ 2007: 106 ff.). Die Beteiligung von

„Außenseitern“ erhöht die Transaktionskosten von Verhandlungen und erschwert eine Einigung (vgl. SCHARPF 1993: 78). Insbesondere wenn zusätzliche Akteure nicht als Konfliktparteien in Erscheinung treten, hat ihre Anwesenheit negative Auswirkungen auf den Kommunikations- und Verhandlungsprozess (vgl. BINDER 2005: 34). Die Transaktionskosten lassen sich verringern, wenn Gremien über einen Agenda-Setter verfügen, der die Vorschläge definiert, über die entschieden werden sollen (vgl. SCHARPF 2000: 245 ff.).

Die Schwierigkeiten, im Rahmen freiwilliger multilateraler Verhandlungen ein gemeinsames Gesamtergebnis zu erzielen, steigen mit der Zahl der selbständig Beteiligten, ihrer interdependenten Handlungsoptionen und dementsprechend mit der Zahl der Transaktionen, die gleichzeitig zustande kommen müssen. Eine Einigung ist unter diesen Umständen umso schwerer, weil damit die Konfliktdimensionen zunehmen und die Kommunikation aufwendiger wird (vgl. BENZ 2007: 113).

SCHARPF bezeichnet dies als das „Problem der großen Zahl“. Jenseits sehr enger Grenzen würden deshalb multilaterale Verhandlungen an prohibitiven Anforderungen an die Informationsverarbeitungs- und Konfliktregelungskapazität scheitern (vgl. SCHARPF 1993: 65 ff.).

Wegen der hohen Anforderungen, die multilaterale Verhandlungen stellen, werden Entscheidungen, die viele Akteure betreffen, oftmals in einer Sequenz von bilateralen Verhandlungen getroffen (vgl. BENZ 2007: 113). Dies ist das Prinzip der „negativen

(23)

22 Koordination“, bei der Störungen zwischen den Konfliktparteien vermieden werden sollen. Bei einer steigenden Zahl von Beteiligten führt negative Koordination allerdings zu einer Kumulation von Veto-Positionen (vgl. SCHARPF 1993: 69).

Von Bedeutung hinsichtlich der Erfolgsaussichten von Verhandlungen ist auch, um welche Arten von Konflikten/Art von Konflikt es sich handelt. Interessenkonflikte sind leichter zu lösen als Wertkonflikte, da letztere nur durch einen Wertewandel beigelegt werden können. Dies lässt sich in der Regel nur langsam und kaum gezielt verändern (vgl. HOLZINGER 2004: 22; BINDER 2005: 18). Wertkonflikte sind Auseinandersetzungen, bei denen es um Uneinigkeiten bezüglich normativer Vorschriften geht. Interessenkonflikte haben hingegen einen klar umrissenen Konfliktgegenstand, auf den von verschiedenen Seiten Ansprüche erhoben werden, die miteinander unvereinbar sind. (vgl. BINDER 2005: 17 ff.). Entscheidend bei Verhandlungen ist die Fähigkeit, sich vorurteilsfrei mit dem Standpunkt anders denkender Gesprächspartner auseinanderzusetzen: „Die Denkweise anderer Delegierter sollte niemals gewertet werden. Insbesondere in einem kulturell äußerst vielfältigen Umfeld gilt der Grundsatz, dass es ´Fakten´ und ´Wahrheiten´ nicht gibt […] „Insbesondere der Versuch, Parteien zu überzeugen, ihre prinzipiellen oder ideologischen Standpunkte zu ändern, ist hoffnungslos“ (RACINE/AUER 2001).

3.3 Theorie des kommunikativen Handelns

Neben der Verhandlungsforschung sind in der vorliegenden Untersuchung zum Verständnis der Interaktionsprozesse auch Aspekte der deliberativen Forschung relevant. Bei allen politischen Kommunikations- und Verhandlungsprozessen stellt sich die Frage: Bargaining und/oder Arguing? Beides sind Formen der Konfliktbewältigung durch Kommunikation.

Insbesondere ist eine ganzheitliche Betrachtung der DIK sinnvoll, weil zu Beginn, während des Politics-Prozesses und auch jetzt nach über 10 Jahren noch weitgehende Uneinigkeit und Unklarheit besteht, um was für ein Format es sich bei der DIK überhaupt handelt.

(24)

23 Die Theorien des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas und der deliberativen Demokratie das Element der gegenseitigen Überzeugung durch Argumentieren in Interaktionskonstellationen mit unterschiedlichen Akteurinteressen betont und ein „neues Feld der empirischen Verhandlungsanalyse eröffnet“

(HOLZINGER 2004: 7 f.).

Für HABERMAS ist das Argumentieren der wesentliche Kern der Deliberation:

„Argumentieren nennen wir den Typus von Rede, indem die Teilnehmer strittige Geltungsansprüche thematisieren und versuchen, diese mit Argumenten einzulösen oder zu kritisieren. Ein Argument enthält Gründe, die in einer systematischen Weise mit dem Geltungsanspruch einer problematischen Äußerung verknüpft sind. Die Stärke eines Arguments bemisst sich (…) an der Triftigkeit der Gründe“ (1987: 38).

Argumentieren appelliere immer an die Vernunft, nicht an die Bereitschaft zu einem Kompromiss (vgl. HOLZINGER 2006: 97).

Die Akteure sollen sich bei der Deliberation in einer „idealen Sprechsituation“

befinden, frei von jeglicher Herrschaft und asymmetrischer Machtkonstellationen.

Dem liegt die Idee eines inklusiven und offenen Austauschs von Argumenten unter freien und gleichen Bürgern mit offenen Präferenzen zu Grunde (vgl. RICHTER 2014: 274). Deliberation strebe hierbei die Rationalisierung der Willensbildung in administrativ oder exekutivisch dominierten Arenen partizipatorischer Willensbildung an (vgl. LANDWEHR/SCHMALZ-BRUNS 2014: 10).

Im politikwissenschaftlichen Diskurs wird jedoch schon länger die Auffassung vertreten, dass Arguing (Argumentieren) und Bargaining (Verhandeln) keine analytischen Gegensätze und „empirisch disjunkte Klassen“ sind. Argumentieren und Verhandeln erfolgen demnach in „empirischen Situationen kommunikativer Konfliktlösung so gut wie nie allein“. Argumentieren verhalte sich instrumentell und nicht oppositionell zum Verhandeln. Reale Konfliktlösungsprozesse ließen sich deshalb nicht eindeutig jeweils einem der beiden Modi zuordnen (HOLZINGER 2004:

77). In der Realität werde immer argumentiert und stets verhandelt. Die Trennlinie zwischen strategischem Verhandeln und verständigungsorientiertem Argumentieren verschwimme. (vgl. HODINA 2006: 62 f.)

(25)

24 BÄCHTIGER/WYSS, Vertreter der empirischen Deliberationsforschung, greifen dies auf und weisen ebenfalls eine strikte Dichotomisierung zurück: „[Der] Einbezug von bargaining-Logiken in Deliberation machen die strikte Trennung zwischen strategischem und kommunikativem Handeln endgültig hinfällig (…) das Vorkommen von bargaining-Techniken [kann] kein Grund [sein], Verhandlungsprozesse als normativ minderwertig zu taxieren“ (2013: 160 f.). Es gelte zu akzeptieren, dass es keine perfekten Settings gebe, wo Deliberation eine reine und ausschließliche Handlungslogik bilde. Insbesondere in der Politik und in politischen Gremien sei es unrealistisch, nach Akteuren mit rein verständigungsorientierter Handlungsorientierung Ausschau zu halten. Vielmehr wollten politische Akteure Ziele erreichen und dabei auch strategisch handeln. Deliberation könne hier als subsidiäre Handlungslogik verstanden werden, die wichtige kognitive, aber auch sozial- integrative Funktionen für Akteure erfüllen könne (Ebenda: 162).

Gerade Konflikte auf der Ebene von Werten könnten eher im Kommunikationsmodus des verständigungsorientierten Arguing gelöst werden. Die „Kraft des besseren Arguments“ bei der Deliberation sei eine Handlungslogik, die es erlaube, die zweckrationale Handlungslogik der Akteure aus ihrer Befangenheit zu lösen (HODINA 2006: 3). Ziel der politischen Interessenvermittlung ist die friedliche Regelung von Konflikten. Dies könne in der Regel nur erfolgreich sein, wenn Positiv- Summenspiele und beide Parteien durch die Kooperation einen Gewinn erzielen (Pareto-Verbesserung) (vgl. HOLZINGER 2004: 2).

Die DIK ist von der staatlichen Seite explizit als „Verhandlungs- und Kommunikationssystem“ in einem nichtöffentlichen und außerparlamentarischen Diskursrahmen konzipiert worden (BMI 2006). Die Akteure agieren strategisch.

Deliberative Aspekte scheinen jedoch in der Praxis bedeutsam zu sein. Der Generalsekretär des „Zentralrats der Muslime“ erklärte nach der ersten Phase der DIK, dass die staatlichen Vertreter in der DIK mit den islamischen Verbänden im Verlauf der Konferenz gar nicht verhandelt hätten (MAZYEK 2010). Laut TOPRAK habe die staatliche Seite in der ersten Phase der DIK vorrangig versucht, die muslimischen Vertreter von ihren Standpunkten zu überzeugen und sie zu

„überreden“ (2012). AMIR-MOAZAMI spricht in diesem Zusammenhang von „recht massiven Fehleinschätzungen der Verhandlungspartner hinsichtlich der Ziele, Hoffnungen und Forderungen des Gegenübers“ (2011: 125). Vor Beginn der zweiten

(26)

25 Phase bezeichnete das Bundesministerium die DIK (nur noch) als „Forum für den Dialog zwischen Staat und Muslimen“ (BMI 2010: 1).

Insofern soll auch Gegenstand der Untersuchung sein, was für ein Interaktionssystem die DIK in der Praxis tatsächlich ist, inwieweit sich im Prozess Bargaining und Arguing als Kommunikationsmodi ergänzen, überlagern oder ausschließen und welchen Einfluss dies auf die Ergebnisfindung hat.

Im Rahmen dieser Untersuchung wird deshalb auch unter Berücksichtigung der Theorien des kommunikativen Handelns und der deliberativen Demokratie ein Modell entwickelt, durch das sich neben der DIK auch alle anderen politischen Kommunikations- und Verhandlungssysteme kategorisieren und definieren lassen (siehe hierzu 3.4). Dabei wird der Ansatz von BÄCHTIGER/WYSS aufgenommen, dass man hinsichtlich des Deliberationsbegriffs an der Vorstellung von regulativen Ideen festhalten könne, „diese aber um Schwellenwerte ergänzen muss, ab denen nicht mehr Deliberation vorliegt, sondern Bargaining oder Diskussion“ (2013: 160).

Eine absolut ideale Sprechsituation als pure Deliberationsarena sei eine theoretische Wunschvorstellung, aber empirisch nicht nachweisbar (vgl.

DEITELHOFF/MÜLLER 2005: 167 ff.).

Als Attribute von Deliberation gelten im wissenschaftlichen Diskurs - Inklusion und Partizipation aller potentiell Betroffenen, - Zwanglosigkeit und die Gleichheit der Beteiligung, - der Austausch von Argumenten,

- die Gemeinwohlorientierung/Unparteilichkeit der Argumente,

- wechselseitiger Respekt und die Bereitschaft, sich vom besseren Argumenten überzeugen zu lassen,

- konstruktives Verhalten mit dem Ziel eines echten Konsenses (vgl. FUCHS 2014: 187; BÄCHTIGER/PEDRINI/RYSER 2010: 1 f.).

3.4 Modell zur Kategorisierung von inklusiven nationalstaatlichen Formaten zur politischen Interessenvermittlung

Sozialwissenschaftliche Modelle sind rational-konzeptuelle Schemata und beziehen sich im Allgemeinen auf die Rekonstruktion von Akteuren, Handlungsabläufen,

(27)

26 sozialen Konstellationen oder von zu erwartenden Ergebnisse sozialer Prozesse. Die Aufgabe sozialwissenschaftlicher Modelle ist es insbesondere, der empirischen Forschung neue Hypothesen zur Verfügung zu stellen. Modelle sind hierbei wesentliche Mittel der Theoriebildung, sind selber aber keine Theorie. Sie sollen einen thematisch relevanten Ausschnitt der sozialen Wirklichkeit vereinfachend wiedergeben. Die anhand eines Modells vollzogenen Gedankenexperimente können zu Entdeckungen und Fragestellungen führen, die später zu Leitgesichtspunkten der empirischen Forschung werden können (vgl. WERLEN 2018).

Im wissenschaftlichen Diskurs wird der Standpunkt vertreten, dass insbesondere für die qualitativ orientierte Forschung eine Generalisierung von Aussagen besonders wichtig ist. Generalisierte Aussagen sind Elemente des Theoriebildungsprozesses, aus denen Prognosen und Anwendungen für die Zukunft abgeleitet werden können (vgl. MAYRING 2007). Dabei besteht bei qualitativ orientierten Studien die Gefahr, dass Forscher*innen ihre Ergebnisse vorschnell verallgemeinern (vgl.

FAHRENBERG 2003). Forscher*innen sollen deshalb ihren Ansatz zur Generalisierung ihrer Forschungsergebnisse klären und explizieren (vgl. METCALFE 2005).

In qualitativ orientierten Forschungsprojekten, insbesondere bei qualitativen Einzelfallstudien, kommen in der Regel intensivere und extensivere Erhebungs- und Auswertungsmethoden wie Interviews, Fragebögen, langfristig angelegte Feldforschung oder interpretative Dokumentenanalyse zum Einsatz. Aus diesen Einzelerkenntnissen können unter Umständen generelle Schlüsse gezogen werden.

Gängige Definitionen des Generalisierungsbegriffs enthalten Aspekte wie den Schluss von spezifischen Fakten auf generelle Aussagen bzw. wissenschaftliche Gesetze, die Ausweitung der Gültigkeit von Aussagen, den Transfer von Annahmen über Personen, Situationen und Kontexte sowie das Anheben des Abstraktionsniveaus in Aussagen (vgl. MAYRING 2007).

In der vorliegenden Arbeit wird nachfolgend ein Modell vorgestellt, welches die Kategorisierung von inklusiven Formaten der politischen Interessenvermittlung ermöglichen soll. Ausgangspunkt war die Beschäftigung mit der Frage, um was für ein Format es sich bei der DIK eigentlich handelt. Sowohl im politischen wie im wissenschaftlichen Diskurs herrschte und herrscht darüber Unklarheit bzw.

Uneinigkeit.

(28)

27 Ist die DIK ein

- „langfristig angelegter Verhandlungs- und Kommunikationsprozess zwischen Vertretern des deutschen Staates und Vertretern der muslimischen Bevölkerung Deutschlands“ (BMI 2006),

- „Regierungsdialog“ (NAK10),

- „Dialogforum zwischen Vertretern des deutschen Staates und Muslimen in Deutschland“ (BMI 2010),

- „hegemonialer Diskurs“ (YENEROGLU 2010),

- „langfristig angelegter Kommunikationsprozess“ (GOLTZ 2011),

- „Übergangsformat für die Kommunikation zwischen Staat und Muslimen in Deutschland“ (BUSCH/GOLTZ 2011),

- „konsensorientierter Dialog unter liberal-säkularen Bedingungen“ (AMIR- MOAZAMI 2011),

- „eine sachbereichsspezifische Form des Lobbyismus“ (SCHUPPERT 2012),

- eine „symbolische Inszenierung“ (HALM/MEYER 2011),

- ein „deliberatives Regierungsgremium“ (KLINGE 2012),

- „ a policy network structure“ (VARON 2013)?

In der politikwissenschaftlichen Betrachtung steht die politische Interessenvermittlung im Spannungsfeld zwischen den Polen Deliberation und Verhandlungssystem. Auch

(29)

28 die oben genannten Definitionsversuche in Bezug auf die DIK schwanken zwischen diesen Polen und beziehen sich auf Merkmale dieser beiden Formate.

Ist die DIK nun eine Deliberationsarena oder ein Verhandlungssystem? Oder etwas Anderes? Das nachfolgende Modell versucht sich an einer Kategorisierung von politische Kommunikations- und Verhandlungssysteme. In diesem Modell können sie auch als hybride Systeme begriffen werden, die sich innerhalb des Strahls zwischen den Polen verorten.

Modell zur Kategorisierung von inklusiven nationalstaatlichen Formaten der politischen Interessenvermittlung1

0 – 2,5 Deliberationsarena

2,6 – 7,5 Hybrides (defektes) System

2,6 – 5,0 Defekte Deliberationsarena 5,1 – 7,5 Defektes Verhandlungssystem

1Vollständige Grafik des Modells im Anhang

VERHANDLUNGSSYSTEM

10 0

0 10

DELIBERATIONSARENA

HYBRIDES SYSTEM

Defekte Delibe- Defektes Verhand- rationsarena lungssystem

VERHANDLUNGSSYSTE M

Formalität

Vertraulichkeit (dyadische Struktur) Verschlossener Zugang Neo-Korporatismus-Diskurs

Zweckrationalität Interessenkonflikte

Verhandlungsmodus (Bargaining) Einigung durch Kompromiss und

Koppelgeschäfte

(30)

29 7,6 – 10 Verhandlungssystem

Merkmale:

1. Institutionalisierungs-Grad (Informalität vs. Formalität) 2. Transparenz-Niveau (Öffentlichkeit vs. Vertraulichkeit)

3. TeilnehmerInnen-Struktur (Deliberation vs. Neo-Korporatismus) 4. Akteur-Durchlässigkeit (Offenheit vs. Verschlossenheit)

5. Interaktionsorientierung (Gemeinwohl vs. Zweckrationalität) 6. Konfliktart (Wertkonflikte vs. Interessenkonflikte)

7. Interaktionsmodus (Arguing vs. Bargaining)

8. Entscheidungsfindung (Überzeugungs-Konsens vs. Kompromiss-Einigung)

Jedes Merkmal wird mit einer Punktezahl zwischen 0 und 10 bewertet. Der Mittelwert der acht Merkmale ergibt die Gesamtbewertung und damit die Verortung zwischen den Polen. Die beiden Pole sind die 0 für die absolute Reinform der Deliberation und 10 für die absolute Reinform eines Verhandlungssystems.

Zwischen 0 und 2,5 wird hier das Vorliegen einer (stabil konstruierten) Deliberationsarena angenommen; zwischen 7,6 und 10 wird von einem (stabil konstruierten) Verhandlungssystem ausgegangen.

Bei der DIK handelt es sich nach hiesiger Bewertung in allen drei Phasen um ein defektes Verhandlungssystem:

DIK I: 6,5

DIK II: 5,9

DIK III: 6,5.

Dieses Modell ist anwendungsorientiert und könnte politikberatend eingesetzt werden, um im Vorfeld der Errichtung die Architektur des Systems passgenau zu gestalten. Soll das System eher eine Deliberationsarena oder ein Verhandlungssystem sein? Und wie ist es zu „bauen“, um die Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen Zusammenarbeitens zu erhöhen? Welche Konstruktionsmängel

(31)

30 sollten vermieden werden, damit es kein „hybrides System“ wird, mit der Wahrscheinlichkeit eines eher inneffektiven Verlaufs.

Effektivität wird hier als die Erreichung einer nachhaltigen friedlichen Konfliktlösung eines politischen Problems begriffen. Dazu bedarf es eines Politics-Prozesses und am Ende die Zustimmung beider Konfliktparteien. Es reicht also nicht, wenn eine Seite (staatlich oder nicht-staatlich) das Ergebnis als erfolgreich bezeichnet.

Im Modus der Verhandlung (Bargaining) sind die Teilnehmer*innen nicht frei, verfügen über ungleiche Machtressourcen und vertreten vor allem ihre eigenen Interessen (vgl. SCHRAMEK 2009: 1 f.). Das Gemeinwohl steht nicht im Mittelpunkt der Interaktionsweise der beteiligten Akteure, kann jedoch im Interaktionsprozess und im Ergebnis durch einen Konsens oder Kompromisse gefördert werden:

„Negotiations are based on divergent interests and serve to satisfy them (…) if the interests were compatible there would be nothing to argue about. The negotiation process is guided by the search to reach a consensus“(PFETSCH 2008: 54).

Der Ansatz der Deliberation beschreibt Argumentation hingegen nicht als überzeugungsresistente Interaktion interessengeleiteter Akteure, sondern als einen aus Gründen und Vernunft geleiteten Prozess, indem die Teilnehmer*innen ihre Interessen und Ziele zur Disposition stellen und nur den besseren Argumenten Folge leisten (vgl. HANRIEDER 2008: 162). Diese Kommunikation finde in „Arenen einer sich als kooperativ verstehenden Politik“ statt, mit breiterer Beteiligung von Entscheidungsbetroffenen und Entscheidungsinteressenten. Diese werden zum Beispiel als „Politikdialoge“, „Runde Tische“, „Mediationsverfahren“ oder „Konsensus- konferenzen“ bezeichnet (VAN DEN DAELE/NEIDHARDT 1996: 9 f.). Der Erfolg einer Deliberation hänge wesentlich davon ab, ob die Entscheidungsgegenstände als regulative Fragen, Interessenkonflikte oder ethisch-moralischen Fragen geframed werden (vgl. SCHAAL/RITZI 2009: 3).

Die DIK hatte in allen drei Phasen einerseits einen relativ hohen Institutionalisierungs-Grad, ein geringes Transsparenz-Niveau und eine zweckrationale Grundhaltung der beteiligten Akteure. Der Teilnehmerkreis ist zudem verschlossen. Die sind wesentliche Merkmale eines Verhandlungssystems.

Andererseits wurden teilweise Wertkonflikte bearbeitet, ein Konsens durch Überzeugung und Argumente angestrebt. Verhandlungen mit Angeboten und

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