Dr. med. Dipl.-Soz. Gerhard Tra- bert aus Mainz nahm 1989 das Ge- sundheitsverhalten und die Gesund- heits- beziehungsweise Krankheits- situation von alleinstehenden, woh- nungslosen Menschen in ihrem so- zialen Lebenskontext genauer in Augenschein. Seine Untersuchung ergab, daß es um die medizinische Versorgung dieser sozialen Rand- gruppe in Deutschland nicht allzu gut bestellt ist. Trabert fand heraus, daß es oft Scham über die soziale Situa- tion ist, die Obdachlose davon abhält, zum Arzt zu gehen. Aber auch eine fehlende Krankenversicherung, man- gelndes Vertrauen in die Ärzte oder negative Erfahrungen hindern viele Obdachlose, notwendige medizini- sche Behandlungen in Anspruch zu nehmen.
Mainzer Modell als Vorbild
Die Ergebnisse seiner wissen- schaftlichen Arbeit motivierten Tra- bert, ein spezifisches ambulantes me- dizinisches Versorgungskonzept für alleinstehende wohnungslose Men- schen zu entwickeln: das sogenannte Mainzer Modell.
Um die Hemmschwelle vor dem Gang zum Arzt zu senken, richtete Trabert in einem Wohnheim für Woh- nungslose eine Sprechstunde ein.
Zwar sind dort den medizinischen Be- handlungsmöglichkeiten Grenzen ge- setzt, eine oftmals dringend notwen- dige Erstversorgung ist aber ohne weiteres möglich. In erster Linie be- handelt Trabert Herz- und Kreislauf- erkrankungen, Haut- und Infektions-
krankheiten sowie Erkrankungen der Atmungsorgane.
Das „Mainzer Modell“, das auf eine interdisziplinäre Zusammenar- beit von Heilberuflern und Sozialar- beitern setzt, hat inzwischen Nachah- mer in vielen Städten Deutschlands
gefunden. Allen Projekten gemein- sam sind sogenannte niedrigschwelli- ge Versorgungsangebote: gesonderte Sprechstunden in Heimen, Beratungs- stellen der Wohnungslosenhilfe oder Gesundheitsämter sowie mobile me- dizinische Hilfe vor Ort, zum Beispiel mit „Gesundheitsbussen“ in Kassel, Düsseldorf oder Hamburg. Einige der Modelle entstanden auf private Initia- tive von Ärzten; bei anderen wieder- um setzten sich Landesärztekammern für eine verbesserte Versorgung woh- nungsloser Menschen ein.
Die Ärztekammer Westfalen- Lippe beispielsweise richtete in Zu- sammenarbeit mit dem Marburger Bund (MB) in den vier Städten Dort- mund, Bielefeld, Münster und Bo- chum mobile medizinische Ambulan- zen ein.
Darüber hinaus wurde auf Anre- gung des MB-Landesverbandes Nord- rhein-Westfalen/Rheinland-Pfalz der Verein „Ärzte helfen Obdachlosen“* gegründet. Ziel des Vereins ist es, Spendenmittel für Projekte zu sam- meln, da nach Ansicht des MB nicht nur der Staat in die finanzielle Verant- wortung genommen werden kann.
Um die Erfahrungen mit den ein- zelnen Modellen zu bündeln, veran- staltete die Ärztekammer Berlin zu- sammen mit dem Verein Gesundheit Berlin und dem Studiengang Public Health der TU Berlin Anfang De- zember letzten Jahres eine bundes- weite Fachtagung zur „Gesundheits- situation wohnungsloser Menschen“.
Die Teilnehmer gründeten eine „Ar- beitsgemeinschaft zur Gesundheitssi- tuation wohnungsloser Menschen“, die die medizinische Versorgung Ob- dachloser in Deutschland flächen- deckend verbessern helfen soll. Als Orientierungshilfe für weitere Akti- vitäten auf diesem Gebiet soll ein auf der Tagung verabschiedeter Empfeh- lungskatalog dienen.
Regelversorgung Unter anderem wird darin gefor- dert, interdisziplinäre Behandlungs- konzepte, speziell zwischen Sozial- arbeitern und Ärzten, zu entwickeln.
Auch soll eine Reform der medizini- schen Ausbildung, etwa in Form von Praktika, in sozialen Brennpunkten angestrebt werden. Ein weiteres Ziel ist die Integration der ärztlichen Ob- dachlosen-Betreuung in die medizini- sche Regelversorgung unter Berück- sichtigung geeigneter Finanzierungs- möglichkeiten. Den Empfehlungen zufolge könnte dies beispielsweise über die Einbeziehung interessierter niedergelassener Ärzte oder Ermäch- tigungen von Krankenhausärzten ge- schehen. Petra Spielberg
A-1010
P O L I T I K AKTUELL
(22) Deutsches Ärzteblatt 93,Heft 16, 19. April 1996
Medizinische Betreuung Wohnungsloser
Ärzte starten
zahlreiche Initiativen
Im vergangenen Jahr berichtete das Deutsche Ärzteblatt über eine Mainzer Unter- suchung zur gesundheitlichen Situation wohnungsloser Menschen (Heft 11/1995).
Die zum Teil erschreckenden Ergebnisse veranlaßten niedergelassene Ärzte und Ver- bände, sich verstärkt für die medizinische Versorgung Obdachloser zu engagieren.
Inzwischen existieren in einigen deutschen Großstädten interdisziplinäre Angebote.
*Spendenkonto „Ärzte helfen Obdachlosen“, Deutsche Apotheker- und Ärztebank Köln, BLZ 370 606 15, Konto 000 4144678