DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
DIE UBERSICHT
Sozialmedizinische Begutachtung
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Überlegungen zu einem
Qualitätssicherungsprogramm
Rüdiger Großpietzsch und Marianne Ihmann
I
n einem anderen Zusammen- hang findet sich die Feststel- lung Silomons, 1987 (22), ärztliche Aussagen über die Notwendigkeit von Leistun- gen aus der Sozialversicherung seien gutachterliche Äußerungen, und die angelegten Maßstäbe müßten sach- lich begründet und „gerecht" sein, um nach Möglichkeit von allen Be- teiligten akzeptiert zu werden. Dies unterstreicht die Forderung von Hill- manns, 1984 (11), die Verpflichtung zur Teilnahme an Qualitätssiche- rungsprogrammen müsse immer mehr in den Vordergrund allen ärzt- lichen Tuns treten. Osterwald, 1987 (16), postuliert, daß die Qualitätssi- cherung auch künftig zu den wichtig- sten Aufgaben im Gesundheitswesen gehöre.Oldiges, 1987 (15), vertritt für die Sozialversicherungsträger den Standpunkt, daß die gesetzliche Krankenversicherung eine Pflicht- versicherung sei, der Pflichtversi- cherte könne in der Regel nicht zwi- schen verschiedenen Krankenversi- cherungsträgern wählen. Dann müß- ten die Systembedingungen aber so angelegt sein, daß Qualitätsstan- dards eingehalten würden. Anderen- falls verliere das System seine Ak- zeptanz und seine politische Glaub- würdigkeit.
Nun gilt sicherlich für die sozial- medizinische Begutachtungskunde modifiziert das, was Szadowski und Lehnert, 1981 (26), für die Qualitäts- sicherung in der Arbeitsmedizin fest- stellten, nämlich daß sie dort wesent- lich schwieriger zu etablieren sei als in der kurativen Medizin. Im Bereich der sozialmedizinischen gutachter-
Qualitätssicherungsprogramme konnten in der kurativen Medizin bereits in verschiedenen Berei- chen modellhaft angewandt wer- den. Entsprechend wird versucht, standardisierte Kriterien zu Quali- tätssicherungsanalysen nun auch für die sozialmedizinische Gut- achtertätigkeit zu entwerfen. Hier sind jedoch verläßliche Standards zur vergleichenden Untersuchung sehr viel schwieriger zu entwik- kein als bei bereits methodisch standardisierten diagnostischen und therapeutischen Verfahren.
Die Erfahrungen aus den jahrelan- gen intensiven Bemühungen in al- len Vertrauensärztlichen Diensten sollen hier dargelegt und disku- tiert werden.
lichen Tätigkeit scheinen der Erstel- lung von Qualitätssicherungspro- grammen mehrere bedeutende Schwierigkeiten entgegenzustehen:
1. Die Konfliktsituation des ärztlichen Sachverständigen im Spannungsfeld zwischen der Medi- zin, dem Recht, dem Gutachtenauf- traggeber, dem Probanden und des- sen behandelnden Arzt (17, 9).
2. Probleme in der direkten Ko- operation zwischen behandelndem
Arzt und Gutachter (auch unter rechtlichen Aspekten) (25).
3. Die Unvermeidbarkeit von Einflüssen der Gutachterpersönlich- keit auf das Gutachten.
4. Die Problematik der Quali- tätssicherung von Untersuchungsver- fahren, bei denen das Ergebnis der Untersuchung von der (motivierten) Mitarbeit des Patienten abhängt, also eine „patientenseitige" Pro- blemstellung (zum Beispiel bei der Lungenfunktionsprüfung, Abschät- zung psychomentaler Störungen, Schmerzsyndromen u. ä.) (26, 1, 10, 7).
5. Die heute geforderte Einzel- begutachtung mit Berücksichtigung der Individualität des jeweiligen Pa- tienten scheint einer „standardisier- ten" Gutachtertätigkeit entgegenzu- stehen und damit der Möglichkeit ei- ner vergleichenden Qualitätskontrol- le (6, 22).
Anschütz, 1985 (1), merkt in die- sem Zusammenhang an, daß bis heu- te in der Medizin eine Theorie des Befindens fehle, das Befinden könne aber gerade in Grenzfällen der Beur- teilung objektiver Befunde eine ent- scheidende Rolle spielen bei der Frage, ob es sich um eine patholo- gisch bedeutungslose Variante han- dele oder um einen echten Befund von Krankheitswert (mit entspre- chenden sozialversicherungsrecht- lichen Konsequenzen).
Entsprechend hat Silomon 1978, 1979 (23, 24) festgestellt, daß die To- leranzgrenze für verschiedene ge- sundheitliche Störfaktoren am Ar- beitsplatz individuell sehr verschie- den sei — und damit die Belastbarkeit des zu Begutachtenden.
Dt. Ärztebl. 86, Heft 13, 30. März 1989 (41) A-869
Tabelle 1: Dimensionen der Gesamtanamnese (nach Fassl, 1986)
A) Veränderungen und Störun- gen im somatischen, psychi- schen und sozialen Bereich (symptomatologische-noso- logische Komponenten)
B) Körperregionen und
Schichten der Persönlichkeit (somatisch-psychische Komponente)
C) Lebensbereiche und Lebenskreise der Person (Umwelt und Gesellschaft)
1. des Empfindens und Fühlens (Sensus)
2. der Form und Gestalt (Mor- phe)
3. der Aufgabe, Betätigung oder Leistung (Funktion) 4. „Krankheiten" (Nosos) (ge-
schlossene diagnostische Be- griffe aus der eigenen und fa- miliären Anamnese)
Körperregionen
5. Kopf (Gesicht, Haare, Mund, Zähne, Hals)
6. Sinnesorgane, Außenbereiche des Erlebens
7. Brust (einschließlich Mammae) 8. Bauch (einschließlich Bruch-
pforten, Bauchdecken) 9. Harn- und Geschlechtsorgane
(Genitale, Menstruation, Schwangerschaften]
10. Rücken (Nacken, Kreuz, Gesäß, After)
11. Arme und Beine
12. Körper allgemein, Körperober- fläche
Schichten der Person 13. Lebensgrund
14. Personeller Überbau (bewußtes Denken, Wollen, Fühlen)
15. Autonom gestaltete Lebenswei- se (res non naturales; aer, cibus et potus, samnus et vigilia, motus et quies, excreta et secreta, af- fectus animi)
16. Engere Umwelt (sozialer Nahbereich) 17. Weitere Umwelt (Heimat) 18. Regelmäßige Belastungen
(Arbeits- und Leistungswelt) 19. Außerordentliche Ereignisse
(Schicksalsschläge, Glücks- fälle)
20. Welt der Werte, Ideen, Kultur, Metaphysik 21. Sonstige Lebensbereiche
(Sport, Freizeit, Urlaub, Spiel)
Eigene Überlegungen
Man wird Silomon, 1987 (21), folgen können, wenn er sagt, daß bei jeder Begutachtung — aus welchem Anlaß auch immer — die Besonder- heiten des Einzelfalles ein starkes Gewicht haben, die gegen allgemein- gültige Regeln jeweils abgegrenzt werden müssen. Nimmt man die
„Imponderabilien" der jeweiligen Gutachterpersönlichkeit hinzu, so wird plausibel, daß eine Standar- disierung des Begutachtungsvorgan- ges schwer vorstellbar ist, wohl aber eine Standardisierung der abzufas- senden gutachterlichen Äußerung, also des zu fertigenden schriftlichen Gutachtens — und somit auch dessen Qualitätssicherung.
Nach unserer Vorstellung wäre eine solche Standardisierung zur
Qualitätssicherung auf verschiede- nen Ebenen vorstellbar:
1. Ebene:
Standard einer ausreichenden Vollständigkeit der anamnestischen und diagnostischen Daten. Dazu macht Fassl, 1986 (6), den Vorschlag einer „Einzelinformations-Analyse"
nach den etwas modifizierten Kant- schen Urteilskategorien der „reinen Verstandesbegriffe a priori" die er, Fassl, „logische Facetten" einer In- formation nennt. Es sind Fragen der
• Qualität (Vorhandensein oder Fehlen von Merkmalen, Fak- ten, Personen, Symptomen)
Leitfragen: Was? Wer? Was nicht?
Wer nicht?
Q Quantität (Ausprägung) Leitfragen: Wie? Wieviel? Wie oft?
Wie stark?
Relation (Zusammenhänge, Beziehungen im Raum, in der Zeit, zu anderen Merkmalen, Merkmals- trägern)
Leitfragen: Wo? Woher? Wohin?
Wann? Wie lange? Seit wann? Wo- zu? Mit wem oder was zusammen?
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Modalität (Zuverlässigkeit und Wichtigkeit)Leitfragen: Wie gesichert? Wie zu- verlässig? Wichtig?
Der Gesamtentwurf von Fassl zu den Dimensionen einer Gesamt- anamnese ist in der Tabelle zusam- mengestellt.
2. Ebene:
Standard der Objektivierbarkeit und Reproduzierbarkeit erhobener anamnestischer und diagnostischer Befunde. Dazu kann man vielleicht den Vorschlag von Großpietzsch, 1986 (9), verwenden, die einen sche- A-870 (42) Dt. Ärztebl. 86, Heft 13, 30. März 1989
matisierten sozialmedizinischen Ex- plorationsplan zur Diskussion stel- len:
• Überprüfung der bisher vor- liegenden organfachärztlichen Un- tersuchungsergebnisse mit eventuel- ler Vervollständigung oder aber Feststellung eines bereits erfolgten Ausschlusses einer primären Organ- erkrankung.
O Eventuelle Veranlassung sich noch ergebender Spezialunter- suchungen.
• Beginn der sozialmedizini- schen Exploration zunächst durch
„Anhörung der subjektiven Krank- heitstheorie des Patienten".
• Gemeinsame Analyse des mitgeteilten subjektiven „Krank- heitszusammenhanges" mit schritt- weiser medizinischer Wertung und eventueller Richtigstellung in Rich- tung möglichst ojektiver Interpreta- tion des mitgeteilten anamnestischen Sachverhaltes.
O Anwendung einer klaren
„Informationsmedizin" (Schritt vom subjektiven zum objektiven Krank- heitsverständnis mit möglichst einfa- chen und klaren Formulierungen).
• Gemeinsame Festlegung der zu treffenden Strategie zur Präven- tion, Rehabilitation und unter Um- ständen damit zur gleichzeitigen Behandlung (Vereinbarungen und Maßnahmen wie Arbeitsplatzwech- sel, berufsfördernde Maßnahmen, Umorganisierung auch familiärer oder umgebungsbedingter Verhält- nisse).
3. Ebene:
Standard der Schlüssigkeit und des logischen Bezuges der gutachter- lichen Folgerungen aus der Anamne- se sowie Schlüssigkeit von Diagnose, Prognose und vorgeschlagenem wei- teren Procedere aus den erhobenen und dokumentierten anamnesti- schen und diagnostischen Daten.
Zusammengefaßter Vorschlag einer Systematik zur Qualitätsanaly- se eines sozialmedizinischen Gutach- tens (für den Versicherungsträger):
I. Prüfung der anamnestischen Daten auf ausreichende Vollständig- keit nach Fassl (6) (Tabelle 1).
II. Prüfung der aus der Ana- mnese abgeleiteten diagnostischen Maßnahmen auf hinreichende Voll- ständigkeit mit Hinsicht auf die Si-
cherung der festgelegten Diagnose, aber auch auf überflüssige und nicht weiterführende diagnostische An- ordnungen.
III. Prüfung der Diagnose auf hinreichenden sozialmedizinischen Aussagewert und sprachliche Präzi- sion mit besonderer Berücksichti- gung der Verständlichkeit für die auftraggebenden Verwaltungsorga- ne der Sozialversicherungsträger.
(Nach unserem Dafürhalten sollte die Diagnoseformulierung in der so- zialmedizinischen Begutachtungs- kunde zu mehr beschreibenden Dia- gnosen führen.)
IV. Prüfung des letzten stellung- nehmenden Teiles des Gutachtens (Teil 4 VÄD-Gutachten) auf Voll- ständigkeit der versicherungsmedizi- nisch relevanten Aussagen. Nach Auffassung von Berg (2) muß dieser Anteil des VAD-Gutachtens einen Schwerpunkt darstellen und mög- lichst allen Anforderungen entspre- chen, die der Sozialversicherungsträ- ger zur Verwaltungsentscheidung an ein sozialmedizinisches Gutachten stellen kann. Nach seinem Vorschlag könnte man einen obligatorischen Fragenkatalog innerhalb des Teiles 4 der VAD-Gutachten erwägen, der zunächst ausreichend beantwortet sein müßte, bevor der Gutachter an- schließend in freier Form seine wei- tergehende Stellungnahme in unan- getasteter gutachterlicher Freiheit machen könnte.
Ein Fünfpunktekatalog soll hier zur Diskussion gestellt werden:
1. Einstufungen der gesundheit- lichen Regelwidrigkeit (hinsichtlich ihres Krankheitswertes) anhand der erhobenen Befunde (gering — mittel
— hochgradig).
2. Empfehlung weiterführender diagnostischer oder therapeutischer Maßnahmen, falls für erforderlich gehalten.
3. Weiterführende Empfehlun- gen wie innerbetriebliche Arbeits- platzumsetzungen oder berufsför- dernde beziehungsweise -findende Maßnahmen (mit Motivationsein- schätzung).
4. Gutachterliche Festlegung ei- ner gegebenen (oder nicht gegebe- nen) medizinischen Begründung ei- ner Arbeitsunfähigkeit und deren Dauer.
5. Stellungnahme zur medizini- schen Begründung einer Anwendung von § 183,7 RVO (wenn begrün- det).
Diskussion
Dubach (4) berichtet zur Effek- tivität getroffener diagnostischer Maßnahmen über festgestellte gra- vierende Mängel bei der Anamnese.
Er hält deshalb ständige Qualitäts- analysen und -kontrollen für notwen- dig in diesem diagnostischen Be- reich. Trautlein (27) untersuchte 200 Fälle von Kunstfehlerklage. Er resü- miert, daß etwa 60 Prozent der Fälle auf Fehldiagnosen beruhten, bedingt durch ungenaue Anamnese und kör- perliche Untersuchung, Unterlas- sung weiterführender Diagnostik oder falscher Interpretation von Röntgenbildern. Einen Teil der ver- meidbaren Fehldiagnosen führt er auf Unerfahrenheit der beteiligten Ärzte zurück bei unzureichender Überwachung durch erfahrene Ärz- te, überraschenderweise besonders in Schwerpunktkrankenhäusern.
Schettler (18) hält das Handeln des heutigen Arztes für bestimmt von einem technologischen und ei- nem ethischen Imperativ. Nach sei- nem Dafürhalten muß alle Ethik des Arztes rein individuell sein, muß in einem Konsensus über den Einzelfall bestehen und ist auf Arzt und Pa- tienten persönlich zugeschnitten.
Neuhaus (14) postuliert, daß der Hintergrund, vor dem ein Entschei- dungsprozeß ablaufe, vom Ausmaß und der Dringlichkeit des diagnosti- schen Problems abhänge, vom Um- fang der aktuellen medizinischen In- formation und von der notorischen, menschlichen Unfähigkeit, zahlrei- che unterschiedliche Wahrschein- lichkeiten gleichzeitig zu bewerten.
Statt dessen reduziere der Arzt die Vielfalt der Komplexität der vorlie- genden klinischen Befunde in einfa- cher strukturierte Modelle, indem er einen Schlüsselbefund auswähle und für diesen eine Liste von Ursachen generiere.
Kubli (13) postuliert seit mehre- ren Jahren: Der Öffentlichkeit wer- de es „in zunehmendem Maße unbe- greifbarer, daß ein so risikoreiches Dt. Ärztebl. 86, Heft 13, 30. März 1989 (45) A-873
y il
Refluxösophagitis:
Primär pulmonale Symptome
Geschäft wie das unsere ohne ausrei- chende Qualitätskontrolle ist".
Nimmt man das Eingangszitat von Silomon (22) hinzu, so kann man sich wohl der Einsicht nicht ver- schließen, daß nach den Bemühun- gen um Qualitätssicherungspro- gramme in der kurativen Medizin solche im Bereich der Begutach- tungskunde für die Sozialversiche- rungsträger folgen sollten. Eine Standardisierung sozialmedizini- scher Gutachten würde eine Quali- tätssicherung im Sinne der von Silo- mon geforderten, sachlich hinrei- chend begründeten angelegten Maß- stäbe gewährleisten, darüber hinaus jedoch einen Grad von Objektivität bedingen können, der eben von allen Beteiligten als „gerecht" empfunden würde.
Auch könnte, ähnlich wie in der kurativen Medizin, die Verpflich- tung an ein „Standardgutachten" ei- ne zusätzliche Absicherung des Gut- achters bedeuten, auf der Grundlage einer „allgemeingültigen Methodik".
Nach Abschluß der Manuskript- legung fand sich in der neuesten Lite- ratur eine Beobachtung von Scho- knecht (20): Er führt aus, daß, wäh- rend in der Literatur Angaben über die Validität diagnostischer Verfah- ren — etwa durch Nennung der Pro- zentsätze falschnegativer oder falsch- positiver Befunde — zu finden seien, derartige Zahlen für anamnestische Befragungen fast vollständig fehlen würden. Ein Grund hierfür liege in der Tatsache, daß Befragungsergebnisse nur selten detailliert nachprüfbar sei- en. Auch bei epidemiologischen Querschnittstudien bestehe kaum die Möglichkeit einer Überprüfung. Da- gegen eröffneten Longitudinalstu- dien einen Zugang zu statistischen Aussagen über den Wahrheitsgehalt von Befragungen.
Die Zahlen in Klammem beziehen sich auf das bei den Verfassern anzufordernde Literaturverzeichnis im Sonderdruck.
Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Rüdiger Großpietzsch Leitender Landesmedizinaldirektor Dr. med. Marianne Ihmann
Vertrauensärztliche Dienststelle der LVA Hannover
Ubbo-Emmius-Straße 2, 2960 Aurich
Chronische Heiserkeit, chroni- sche Halsschmerzen, Kloßgefühl im Hals oder Nackenschmerzen beim Schlucken waren Primärsymptome bei 25 (6,6 Prozent) von 379 Patien- ten, bei denen eine Spiegelung der Speiseröhre am Denver Veterans Administration Medical Center zum Ausschluß einer Refluxkrankheit durchgeführt wurde. Bei 18 (72 Pro- zent) dieser 25 Patienten waren dies die einzigen Refluxsymptome. Bei 9 (36 Prozent) dieser Patienten muß- ten operative Maßnahmen vorge- nommen werden, um diese Sympto- me unter Kontrolle zu bekommen, während dies nur bei 52 von 354 (15 Prozent) mit klassischen Reflux- symptomen der Fall war.
Nitrate gehören zu den ältesten und am häufigst verordneten Medi- kamenten. Auch die Nitrattoleranz — die zunehmende Abschwächung der Nitratwirkung bei gleichbleibender Dosierung einer kontinuierlichen Ni- tratzufuhr — ist seit Jahrzehnten be- kannt. Sie erklärt sich im klinischen Bereich durch Mechanismen der Pseudotoleranz wie der Verände- rung der Ausgangshämodynamik, der Volumen- und Salzretention so- wie der Stimulation von Gegenregu- lationsmechanismen, die zur ver- stärkten Vasokonstriktion führen, sowie durch Veränderungen der Pharmakokinetik und komplizierter intrazellulärer Vorgänge. Diese To- leranzentwicklung, die von Patient zu Patient unterschiedlich ausge- prägt sein kann, läßt sich durch eine intermittierende Applikation unter- brechen.
Diese Feststellungen haben praktische Konsequenzen für die kli- nische Nitrattherapie. In der Akut- phase der schweren Herzinsuffizienz ist initial mit einem sehr günstigen Nitrateffekt zu rechnen; innerhalb von 24 Stunden sollte die Nitratthe-
Nicht nur bei klassischen Re- fluxsymptomen, wie lageabhängiges Sodbrennen, postprandiale Schmer- zen im Epigastrium und Regurgita- tion sollte an eine Refluxösophagitis gedacht werden, sondern auch bei rezidivierenden Asthmaanfällen, chronischer Heiserkeit und Sensatio- nen im Kehlkopfbereich, die primär an Erkrankungen der Luftwege den- ken lassen.
Pearlman, N. W., G. V. Stiegmann, A. Te- ter: Primary upper aerodigestive tract ma- nifestations of gastroesophageal reflux.
Am. J. Gastroenterol. 83: 22-25, 1988.
Department of Surgery, University of Col- orado Health Sciences Center and Denver Veterans Administration Medical Center, Denver, Colorado.
rapie jedoch durch einen anderen Vasodilatator — z. B. einen ACE- Hemmer — ergänzt oder abgelöst werden. Auch bei der Langzeitthera- pie der Herzinsuffizienz ist die Kom- bination mit einem Vasodilatator oder die intermittierende Nitroappli- kation sinnvoll.
Bei Angina-Pectoris-Attacken sind die Nitrate die Therapie der er- sten Wahl. Wegen der stummen, subjektiv asymptomatischen Phasen der Myokardischämie wird die For- derung nach einer über 24 Stunden anhaltenden, antianginösen Medika- tion laut. Wegen der Toleranzent- wicklung bei den Nitraten sind dann Ca-Antagonisten und Betablocker vorzuziehen, zusätzlich sollten bei pectanginösen Attacken intermittie- rend Nitrate gegeben werden. Als therapeutische Alternative bietet sich — wegen der antiischämischen Wirkung und dem Fehlen einer Toleranzentwicklung — Molsidomin an. mle
Bertel, 0, Nitrattoleranz. Schweiz. med.
Wschr. 1988; 118: 1892-1898.
PD Dr. 0. Bertel, Med. Klinik, Stadtspital Triemli, CH-8063 Zürich.
Gegen Nitrattoleranz
intermittierend behandeln
A-874 (46) Dt. Ärztebl. 86, Heft 13, 30. März 1989