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Subjekt und Objekt zugleich

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Academic year: 2022

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Gedanken zum ‚geteilten‘ Körper in der Peking Oper

DAN IELA PILLGRAB

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Nähert man sich Fragen zum menschlichen Körper in chinesischen Denktraditionen aus einer europäischen Perspektive, ist eine erste Herausforderung die eigene Grundannahme dessen, was den menschlichen Körper auszeichnet. Nicht nur Fra- gen, was oder wie der Körper ist, müssen gestellt werden, sondern auch die Frage, ob ‚der Körper‘ in einer ähnlichen, materialistischen Weise wie im griechisch- abendländisch geprägten Denken existiert. Die chinesische Philosophie kennt weder die aristotelische Substanztheorie, noch den cartesianischen Dualismus von ‚res cogitans‘ und ‚res externa‘ und folglich auch keine Subjekt-Objekt-Spaltung. Zwar werden auch in der chinesischen Philosophie Prinzipien zur Einteilung vollzogen, und diese sind stark von einem daoistischen Weltbild geprägt – so wird die Außen- seite des Körpers der Denkfigur Yang zugeteilt, wenn sie mit der Innenseite (Yin) in Beziehung treten soll. Allerdings geht dieses Denken von einer Einheit des Men- schen aus, weshalb nicht an Gegensätzlichkeiten gedacht wird, sondern vielmehr an einen fließenden Übergang von Yang und Yin ineinander und an ein gegenseitiges Wechselverhältnis zueinander. Dabei wirkt die Lebenskraft Qi als verbindendes Element.

Im Wesentlichen wird in chinesischen Denktraditionen der Beobachtung von Prozessen größere Aufmerksamkeit zugedacht als materiellen Entitäten. Bjung- Chul Han bezeichnet daher auch die uns Europäern fremde Kultur Chinas als eine der abendländischen Kultur des Wesens diametral entgegen gesetzte Kultur des

‚Ab-Wesens‘: „Der Begriff ‚Wesen‘, der Identität, Dauer und Innerlichkeit, Woh- nen, Verweilen und Besitzen in sich versammelt, beherrscht die abendländische Metaphysik.“1 Dem gegenüber investiert das daoistische Denken eine ganze Reihe

1 Han 2007: 8.

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von Negationen, so Han, um zur Sprache zu bringen, dass die Existenz im Grunde keine Exigenz, keine Insistenz, kein Wohnen ist: „Der Weise wandert im Nicht- Sein“; das Wesen wird mit diesem Nicht negiert, es entzieht sich als Ab-Wesen je- der substanziellen Festlegung.2 Genauso wenig wie Fragen nach dem Wesen oder nach dem Sein ist auch eine genaue Definition des Ich kein Gegenstand chinesi- scher Denktraditionen. Die großen konfuzianistischen und daoistischen Schriften verhandeln weniger ontologische Fragestellungen als vielmehr die Beziehungen zur Außenwelt des Menschen. Erst durch Verknüpfung mit einem Außen – der Gesell- schaft oder der Natur – tritt das Ich in Erscheinung.

Im Theater fanden diese philosophischen Setzungen ihren besonderen Aus- druck: schon in den alten Nuo-Riten wurden die Körper von Performern als Grenz- gänger aufgefasst, das heißt als vereinende Kraft von Yin und Yang, um Präsenz oder eben Qi zu erzeugen. Auch heute noch sind die Denkfiguren Yin und Yang Gestalt gebende Elemente für Schauspieltechniken der Peking Oper; die so genann- te Wolkenhände-Übung – eine Grundbewegung der Hände – etwa unterscheidet ei- ne Yin- von einer Yang-Form.

Dem körperlichen Ausdruck wird in der Peking Oper viel Beachtung geschenkt.

Peking Oper ist die gängige Übersetzung des chinesischen Begriffs ‚Jingju‘Ӣ࢝.

Wenn ‚Jing‘ mit Hauptstadt und ‚Ju‘ in den Wörterbüchern mit Theater übersetzt wird, meint ‚Jingju‘ eigentlich Theater der Hauptstadt. Es findet hierbei die Über- tragung des europäischen Theaterbegriffs in eine andere Kultur statt. Das Verständ- nis von Theater in China unterscheidet sich allerdings grundlegend von der grie- chisch-abendländischen Idee des Theaters.

Ende des 19. Jahrhunderts erwacht in Europa ein starkes Interesse an anderen Kulturen. An neu entstandenen Kreuzungspunkten werden nicht nur Waren und Geld ausgetauscht, sondern auch philosophische Denkansätze und politische Ideo- logien, Kulturtechniken und ästhetische Verfahrensweisen. Techniken aus traditio- nellen performativen Künsten Chinas treten ein in europäische Schauspielpraktiken und Diskurse – und umgekehrt. Vor allem in den europäischen Avantgarden entde- cken Künstler ostasiatische Schauspielformen und beginnen, Elemente daraus in ih- re eigenen Arbeiten einfließen zu lassen. In dieser Zeit des Experimentierens wird Schauspielstil und Schauspieltechniken viel Beachtung geschenkt und der Material- Charakter des Körpers rückt ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Dabei wird dem Schauspieler, in der Funktion eines Konstrukteurs, Subjekt-Status zugedacht und dem Körper als dem Material des Schauspielers Objekt-Status.

In meinem Beitrag steht die Frage im Zentrum, wie ästhetische Verfahrenswei- sen aus der Peking Oper Einzug in europäische Theaterpraktiken gehalten haben und, daran anknüpfend, was diese gleichsam interkulturellen Zusammenstöße be- wirkten. Wenn im Folgenden nun von Subjekt und Objekt – Kategorien, die im tra- 2 Han 2007: 12f.

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ditionellen chinesischen Denken so nicht vorkommen – die Rede sein wird, so pas- siert dies aus einer europäisch-abendländisch geprägten Perspektive.

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Das Theater beginnt mit einem körperlichen Akt: Eine Schauspielerin betritt die Bühne. Ihr in Szene gesetzter Körper ist das erste, das vom Publikum wahrgenom- men wird. In unserem Fall handelt es sich um eine Peking Oper-Schauspielerin. Ihr Kostüm und ihre Maske, aber auch ihre Körperbewegungen verraten dem Publikum sofort die Rolle, die sie darstellt. Die erste Silbe des chinesischen Begriffs ‚biaoyan‘

⾲₇ (dt. performen) bedeutet wörtlich zeigen, ausstellen, die zweite Silbe meint entstehen, entwickeln. ‚Biao‘ bezieht sich vor allem auf das äußere Erscheinen ei- ner Figur, die Demonstration des inszenierten Körpers: Kostüm, Maske, Farben, Mimik und Gestik, also all das, was bereits beim ersten Auftritt auf der Bühne sichtbar wird.

Doch nicht nur Schauspieler verwenden zur Beschreibung ihres Tuns den Be- griff ‚biaoyan‘ – auch Geschichtenerzähler tun dies. Schauspielen und Geschichten- erzählen sind nach chinesischer Auffassung nicht streng voneinander getrennt.

Auch im traditionellen chinesischen Theater sind diese Kunstformen miteinander verflochten: die Figuren der Peking Oper erzählen, was sie tun, während sie dies tun. Schon im knapp 2000 Jahre alten Vorwort zum ersten schriftlich überlieferten Text über Tanz aus der Zeit der östlichen Han-Dynastie heißt es, Tanz sei Poesie in Bewegung,3 und auch Wang Guowei (1877-1927), einer der bedeutendsten Thea- terwissenschaftler Chinas, bezeichnete die klassische chinesische darstellende Kunst als „performance of a story through song and dance“4. Wang setzte im Jahr 1913 die beiden Zeichen ㆷ ‚xi‘ und ∏ ‚ju‘ erstmals zu dem Begriff ‚Xiqu‘ ㆷ∏

zusammen: ㆷ ‚xi‘ bedeutet so viel wie Spiel bzw. Wettstreit und ∏ ‚ju‘ meint die liedhaften Gedichte der Zeit der Song-Dynastie (960-1270) – in der Kombination der Zeichen ergibt sich der Begriff ‚Xiqu‘ (wörtlich ins Deutsche übertragen also so viel wie ‚Spiel mit liedhaften Gedichten‘). Mit dieser Beschreibung hat Wang erst- mals einen Begriff für die traditionelle chinesische Form jenes Dispositives, das in der deutschen Sprache als Theater bezeichnet wird, gesetzt.

Nun gibt es in der Peking Oper eine ganz spezielle Schauspieltechnik, bei der ihr epischer Charakter auf sehr eindrucksvolle Weise ausgestellt wird: mit verschie- denen Teilen des Körpers wird zur selben Zeit Unterschiedliches dargestellt. Das heißt: Performer sind zum einen Teil der Präsentation, zum anderen Teil der Mani-

3 Siehe Faye 1999: 23.

4 Yu 1996: 2.

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pulation.5 Sie schlüpfen in die Rolle hinein und aus der Rolle heraus, sind Erzähler, die mit Händen – scheinbar losgelöst vom Rest des Körpers – ein Objekt beschrei- ben, während sie zur selben Zeit Rollenfigur, also Subjekt, sind.

Die Schauspielerin, die soeben die Bühne betreten hat, spielt die Rolle der Yang Yuhuan in der berühmten Peking Oper Die betrunkene Konkubine (Guifei zujiu). In ihrem Eröffnungslied besingt sie eine Insel im Meer, Himmel und Erde und schließ- lich den Mond. Während sie erzählt, was sie beobachtet, beschreibt sie dies mit ih- rem Körper: sie tut einige Schritte nach vorn, dreht sich im Kreis, ihre Augen fol- gen dabei den Bewegungen der Hände. In der fünften Zeile schließlich, in der sie den Mond besingt, vollzieht sie die so genannte ‚baoyueshi‘ ᢺᴸᔿ -Pose.6 Dazu hebt sie ihre Arme in die Höhe, bildet damit einen Kreis und formt jeweils Daumen und Zeigefinger zu einer bestimmten Geste, um den Mond anzudeuten. Für einen kurzen Augenblick verharrt die Schauspielerin in dieser Pose; sie ist nun Subjekt und Objekt zugleich – verglichen mit dem Marionettentheater könnte man sagen, sie hat einzelne Teile ihres Körpers wie eine Marionettenmeisterin bewegt, ist aber gleichzeitig selbst Marionette.7 Die Grenzen zwischen derjenigen, die die Rolle spielt und derjenigen, die die Objekte kontrolliert werden verwischt, die Marionette wird als Teil der Marionettenmeisterin wahrgenommen. Die Schauspielerin ver- wendet ihren Körper gleichsam als Material und wird dadurch – den Mond zeigend – selbst zum Mond, wird Objekt; sie objektifiziert sich gewissermaßen. Marionet- tenmeisterin und Marionette sind ein einziger, darstellender Körper. Die Performe- rin bewegt sich dabei in einem Zwischenraum von Nähe und Distanz – sowohl zum Subjekt, als auch zum Objekt. Auf diese Weise ist es möglich, der Rolle nah und fern zugleich zu sein; Einfühlung und Distanz passieren zur selben Zeit.

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Während eines Peking Oper-Schauspiels kommt es immer wieder zu Doppelungen bzw. Wiederholungen durch die verschiedenen Kunstformen: was sprachlich mitge- teilt wird, wird in den Bewegungen des Körpers aufgenommen. Das chinesische Wort für Identität, ‚shenfen‘ ㌟ศ, bedeutet im wörtlichen Sinne ‚geteilter Körper‘.

Dieser Bedeutungsursprung spiegelt sich in Schauspieltechniken wider: In mehrere verschiedene Ausdrucksbereiche zergliedert, wird er für die Performance zu einem gleichsam ‚neuen‘ Körper zusammengestellt. Spaltung und Zusammenführung un- terschiedlicher Teile des bewegten Körpers sind ständig stattfindende Prozesse

5 Siehe Riley 1997: 137.

6 Baoyueshi bedeutet ‚den Mond Umarmen‘.

7 Siehe Riley 1997: 155.

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während einer Performance. Performer oszillieren zwischen Subjekt und Objekt, oder sind gar beides zur gleichen Zeit. Sie teilen ihren Körper in Erzähler, Subjekt und unbelebtes Objekt. Die Konkubine Yang Yuhuan etwa verwandelt sich wäh- rend sie erzählt in die Gänse, die sie beobachtet, ebenso in den Mond, den sie be- trachtet, aber auch in andere Figuren. Ihre Rolle setzt sich aus verschiedenen Ichs, welche die Schauspielerin mit je unterschiedlichen Teilen ihres Körpers darstellt, zusammen. Auch das Bühnenbild wird erst durch stilisierte Gesten hervorgebracht.

Der japanische Noh- und Kabuki-Schauspieler Yoshi Oida beschreibt aus seiner Tradition heraus den menschlichen Körper als ein Objekt, das zu Zwecken der The- aterkunst geformt werden muss. Der Körper von Schauspielern, so Oida, sei „ein

‚Gegenstand‘, der volltönender und bedeutungsvoller gemacht werden kann“. Er sei kein alltäglicher Körper, der einkaufen geht oder den Abwasch macht, sondern vielmehr ein ‚darstellender Gegenstand‘: „Wenn du deinen Körper trainierst, ist es wichtig, immer daran zu denken, daß du den ‚Körper des Schauspielers‘ trainierst, der ‚größer‘ und tönender ist als der ‚alltägliche Körper‘.“8 Auch in der traditionel- len chinesischen Schauspielkunst wird der darstellende Körper als ein anderer, nicht gewöhnlicher, nicht alltäglicher Körper wahrgenommen – als ‚Grenzgänger‘, dem durch Bestimmung und hartes Training das Recht gegeben wurde, darzustellen.9

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Ende des 19. Jahrhunderts erwacht in Europa – in politischer wie in kultureller Hin- sicht – ein starkes Interesse an Asien.10 Europa musste in Asien eindringen, um mit sich selbst identisch sein zu können, so der japanische Sinologe Takeuchi Yoshimi in seinen Überlegungen zur Moderne:

Es handelt sich dabei um ein unabwendbares Schicksal, das mit seiner [Europas, Anm. D. P.]

Selbstbefreiung einherging. Durch die Konfrontation mit dem Fremden vergewisserte es sich umgekehrt seiner selbst. Schon seit dem Altertum gab es eine Sehnsucht Europas nach Asien

8 Oida/Marshall 2005: 69.

9 Siehe Riley 1997: 143.

10 Mit der Problematik dieses Eindringens Europas in andere Kulturen der Welt beschäfti- gen sich seit den 1970er Jahren die Postcolonial Studies, und auch Studien zu interkultu- rellem Theater thematisieren die Begegnungen zwischen den Kulturen unter politischen bzw. postkolonialen Gesichtspunkten. Eine ausführliche Reflexion und Diskussion dieser Problematik würde den Rahmen meines Beitrages sprengen.

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– Europa besteht eigentlich von Anfang an in einer Art Vermischung beider – doch eine Be- wegung in Form des Eindringens in Asien erfolgte erst seit dem Beginn der Moderne.11

Die Folge dieser Bewegungen sind ‚crossroads‘ – Kreuzungspunkte, an denen un- terschiedliche Kulturen nun aufeinander stoßen. Der Ende des 19. Jahrhunderts be- ginnende Kulturaustausch ist eine Folge des Verschwindens einer starken westli- chen Tradition, so Patrice Pavis in seiner Studie Theatre at the crossroads of cultu- re aus dem Jahr 1992.12 Die Begegnung mit anderen Kulturen zwingt dazu, die ei- genen kulturellen Parameter und ihre Anschauungen zu überdenken. Europäische Theaterleute entdeckten andere Schauspieltheorien und Schauspielpraktiken, und sie beginnen, diese neuen Entdeckungen zu nutzen, um eine Leerstelle des westli- chen Theaters zu füllen: den körperlichen Ausdruck. In seinen Überlegungen zu ei- nemPostdramatischen Theater formuliert Hans-Thies Lehmann:

Jahrhunderte lang hat im Theater Europas ein Paradigma geherrscht, das sich von außereuro- päischen Theatertraditionen deutlich abhebt. Während beispielsweise indisches Kathakali oder das japanische Noh-Theater gänzlich anders strukturiert sind und im wesentlichen aus Tanz, Chor und Musik, hochstilisierten zeremoniellen Abläufen, erzählenden und lyrischen Texten bestehen, hieß Theater in Europa Vergegenwärtigung von Reden und Taten auf der Bühne durch das nachahmende dramatische Spiel. [...] Das dramatische Theater steht unter der Vorherrschaft des Textes.13

Der Körper war im Theater des Abendlandes lange Zeit ein dem Text untergeordne- tes Element. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sind es die Avantgar- den, die den naturalistischen Darstellern innerer Emotionen Artisten, Akrobaten, Tänzer, Pantomimen und in biomechanischen Übungen trainierte Schauspieler ge- genüberstellen. Die bewegten Körper verdrängen das Wort, das über Jahrhunderte hindurch die Bühnen des Abendlandes dominiert hatte. „An die europäisch erzoge- nen Theaterleute“, so Lehmann, „tritt aufgrund dieser Verschiebung eine neue Auf- gabe heran. Sie müssen üben, was in anderen Theaterkulturen selbstverständlich war, den Körper neu zu erlernen, zumal die Gesetze seiner Intensität“.14 Die Kör- perbilder im Theater der 1920er und 1930er Jahre entstehen in Auseinandersetzung mit den neuen Medien und den Entwicklungen in Industrie und Technik – und in Auseinandersetzung mit außereuropäischen Schauspieltraditionen. Antonin Artaud z.B. notiert, nachdem er auf der Pariser Kolonialausstellung balinesische Tänze sieht: „Die Offenbarung des balinesischen Theaters ist dazu angetan gewesen, uns

11 Takeuchi 2005: 12.

12 Siehe Pavis 1992: 6.

13 Lehmann 2005: 20f.

14 Lehmann 2005: 367.

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eine körperliche und keine verbale Vorstellung vom Theater zu verschaffen“15 und Wsewolod Meyerhold – inspiriert durch die seit Beginn des 20. Jahrhunderts durch Europa tourenden japanischen Schauspielerinnen Sada Yakko und Hanako (ƿta Hisa) – verwendet bereits 1906 in seiner Inszenierung von Arthur Schnitzlers Der Schrei des Lebens Techniken des japanischen Theaters; so betrachtet er etwa „jede Bewegung als Tanz“ und nennt dies die „japanische Methode“16. Formulierungen wie ‚westliches‘ bzw. ‚abendländisches‘ Theater werden erst in Auseinanderset- zung mit – und in Abgrenzung von – dem Nicht-Westlichen notwendig; gerade die Beschäftigung mit dem Fremden ermöglicht nun einen neuen Blick auf das Ge- wohnte. Auf viele europäische Künstler und Philosophen des 20. Jahrhunderts übte die Andersartigkeit speziell Chinas eine große Faszination aus – den Grund dafür sieht der französische Philosoph und Sinologe François Jullien in der Tatsache, dass China für viele „den größten, explizierten kulturellen Abstand zur Verbreitung der westlichen Humanwissenschaften und den mit ihnen verbundenen Kategorien“17 bedeutete. Im traditionellen chinesischen Theater zeigt sich dieser von Jullien diag- nostizierte größte kulturelle Abstand besonders deutlich: Mehrere verschiedene künstlerische Elemente werden hinzugezogen, um ein dramatisches Moment zu veranschaulichen; Stimme und Körper sind gleichberechtigte Teile der Perfor- mance.

Auch wenn die Avantgarde in Europa – wie Hans-Thies Lehmann betont – „das Wesentliche des ‚dramatischen Theaters‘ allen revolutionären Neuerungen zum Trotz bewahrt hat“18, leistet die Loslösung von der Vorherrschaft des Textes einen wesentlichen Beitrag zu experimentellen Formen, die sich seit den 1960er Jahren im westlichen Theater entwickeln. Für diese Formen, die nunmehr nach der Gel- tung des Paradigmas Drama operieren, hat Lehmann den Begriff ‚postdramatisch‘

geprägt. Anstelle des dramatischen Textes rücken nun andere Bereiche künstleri- schen Ausdrucks ins Blickfeld – etwa der Tanz, den Lehmann als „exemplarisch für das postdramatische Dispositiv“19 bezeichnet, oder aber die Dingwelt: Während in der Tradition des dramatischen Theaters die Verstrickung des Körpers in die

15 Artaud 1996: 73. An dieser Stelle ist allerdings darauf hinzuweisen, dass es sich bei die- sen Tänzen keineswegs um authentisches balinesisches Theater handelte, sondern, wie Michael Prager es formuliert, um dessen koloniale Repräsentation. Artauds Beobachtun- gen waren selbst in einem kolonial geprägten Kontext positioniert, in dem auf inszenierte Weise – gleichsam wie durch einen Guckkasten – auf fremde Kulturen gespäht werden konnte, und in dem der Akt der Beherrschung selbst einen Teil der Inszenierung darstellte (siehe Prager 2000: 198).

16 Bochow 2005: 32 o. Wolkow 1929: 248.

17 Jullien 2002: 102.

18 Lehmann 2005: 22f.

19 Lehmann 2005: 373.

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Dingwelt unterdrückt blieb, belebt das postdramatische Theater die Wechselwir- kung von menschlichem Körper und Objektwelt neu und spielt gleichsam mit der Verwandtschaft von Puppe, Marionette und Leib.20 Doch was interessiert und faszi- niert uns am Objekt? Lehmann erklärt dies wie folgt:

Daß es Subjekt wird und dadurch das Gefühl erregt, wir selbst wären umgekehrt nicht einfach lebendige Subjekte, sondern zu einem Teil selbst Objekt. Es fasziniert, wenn die Grenze ver- schwimmt, das Subjekt zum Ding tendiert, das Ding zum lebendigen Wesen, wenn die Si- cherheit verloren geht [...] zwischen Subjekt und Objekt sicher trennen zu können. [...] Ein Theater folglich, das dem dramatischen Modell absagt, vermag den Dingen ihren Wert und den menschlichen Akteuren die fremd gewordene Erfahrung der Dingwelt wiederzugeben.21

Auch diese Ästhetik des Verschwimmens der Grenze zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Schauspieler und Körper-Material, ist bereits Teil der Experimente der russischen Theateravantgarde der 1920er Jahre. Es erinnert fast ein wenig an die oben zitierten Worte Yoshi Oidas, wenn Wsewolod Meyerhold in seinem berühm- ten Vortrag Der Schauspieler der Zukunft und die Biomechanik, den er am 12. Juni 1922 in Moskau hält, den Körper als formbares und kontrollierbares Material ver- standen wissen will:

Die Kunst des Schauspielers besteht in der Organisation seines Materials, d.h. in der Fähig- keit, die Ausdrucksmittel seines Körpers richtig auszunützen. In der Person des Schauspielers kongruieren der Organisator und das, was organisiert werden soll (d.h. der Künstler und sein Material). In der Formel ausgedrückt sieht das so aus: N = A1 + A2, wobei N der Schauspieler ist, A1 der Konstrukteur, der eine bestimmte Absicht hat und Anweisungen zur Realisierung dieser Absicht gibt, A2 ist der Körper des Schauspielers, der die Aufgaben des Konstrukteurs (des ersten A) ausführt und realisiert.22

Meyerhold teilt hier den Schauspieler ein in Künstler-Konstrukteur und Material- Körper, wobei ersterem Subjekt-Status und letzterem Objekt-Status zukommt. Die- se Art der Reflexion über den Materialcharakter des menschlichen Körpers stand, so betont Erika Fischer-Lichte, bei der Entwicklung einer neuen Schauspielkunst im Vordergrund: bei Meyerhold etwa wird „[d]em Subjekt […] vollkommene Verfü- gungsgewalt über das Körper-Objekt zugesprochen“23.

20 Siehe Lehmann 2005: 385f.

21 Lehmann 2005: 385.

22 Meyerhold 1974: 73f.

23 Fischer-Lichte 2004: 137.

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Eine „systematische Entpersönlichung“24 der Schauspielenden bzw. deren Ob- jekt-Werdung will Antonin Artaud bei seiner Begegnung mit dem balinesischen Theater bemerken: „Kurzum, die Balinesen verwirklichen mit äußerster Stringenz die Vorstellung vom reinen Theater, in dem alles, Konzeption wie Realisation, nur nach Maßgabe seiner Objektivierung auf der Bühne Wert und Dasein erlangt.“25 Artaud beobachtet bei ihrem Spiel unter anderem „Finger, die sich von der Hand loszulösen scheinen“, und bezeichnet dies als „ein fortwährendes Sich-Spiegeln, bei dem es uns so vorkommt, als ob die menschlichen Gliedmaßen einander zum Echo, zur Musik würden“.26

Die Verstrickung des Körpers in die Dingwelt hält in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Einzug in europäische Theatertheorien und Theaterpraktiken; nicht nur Marionetten, Puppen und Automaten betreten die Bühnen, sondern auch Schau- spieler, die ihren eigenen Körper als Objekt begreifen, ihn als solches zerlegen, um ihn dann – gleichsam montageartig – wieder zusammenzufügen.

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DIE BAOYUESHI

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Der singapurianische Regisseur Ong Keng Sen hat in seiner Inszenierung von Brechts Parabelstück Der Gute Mensch von Sezuan im Linzer Landestheater im Jahr 2009 die Verstrickung des Körpers in die Dingwelt auf ganz besondere Weise mit ästhetischen Verfahrensweisen der Peking Oper verflochten. Ong Keng Sen, Gründer von TheatreWorks und ArtsNetworkAsia, ist in seinen Produktionen stets darum bemüht, traditionelle und moderne ästhetische Verfahrensweisen aus unter- schiedlichen Theatertraditionen miteinander zu verknüpfen. Oft arbeitet er in Euro- pa, um den kulturellen Austausch und die Zusammenarbeit zwischen Europa und Asien zu fördern, aber auch um den Möglichkeitsraum künstlerischer Ausdrucks- mittel zu vergrößern.

Es ist meiner Ansicht nach nicht unproblematisch, der Arbeit von Ong Keng Sen den Stempel des Postdramatischen aufzudrücken, da er – aus einer asiatischen Kultur her kommend – Theater ohnedies nicht vom Drama her denkt. Inspiriert von Brechts Begegnung mit dem chinesischen Schauspieler Mei Lanfang 1935 in Mos- kau, die Brecht dazu angeregt hatte, über Verfremdungseffekte in der chinesischen Schauspielkunst nachzudenken, verbindet Ong Keng Sen in seiner Linzer Inszenie- rung Brechts Theorie und Stücktext sowohl mit Elementen moderner Video- bzw.

Computertechnologie, als auch mit traditionellen ästhetischen Verfahrensweisen

24 Artaud 1996: 62.

25 Artaud 1996: 56.

26 Artaud 1996: 60.

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aus seinem Kulturraum. Diese unterschiedlichen Elemente lässt er zu etwas Neuem explodieren, was dem postdramatischen Dispositiv nahe kommt. Er eröffnet mit diesem Konzept für Schauspieler und Zuschauer einen Raum, der es möglich macht, sich selbst fremd zu werden.

Bei der Begegnung mit Techniken aus einer anderen Schauspieltradition macht sich bei den Linzer Schauspielern ein Gefühl von Unsicherheit bemerkbar – vor al- lem durch Ong Keng Sens spielerischen Umgang mit Identität und mit verschwin- denden Grenzen von Subjekt und Objekt. Wie es in der Peking Oper üblich ist, for- dert er die Schauspieler dazu auf, den gesprochenen Text durch Gesten und Bewe- gungen des Körpers zu verdoppeln, Teile ihres Körpers zum Gegenstand, zum Ob- jekt zu machen, sich zu objektifizieren. Und wie die Konkubine Yang Yuhuan in der Peking Oper Die betrunkene Konkubine, so zeigte auch die Protagonistin in Brechts Der Gute Mensch von Sezuan, die Prostituierte Shen Te, in Ong Keng Sens Linzer Inszenierung die ‚baoyueshi‘-Pose.

Mit derartigen Regieanweisungen versteht es Ong Keng Sen ein Ungleichge- wicht zu erzeugen, indem er gewissermaßen die Ordnung der Dinge des abendlän- dischen Denkens bricht. Viele Schauspieler argumentierten, dass es ihrer Meinung nach ausreicht, den Text zu sprechen; wozu sollten sie ihre Worte durch Mimik und Gestik zusätzlich beschreiben? Würde dies nicht ein doppeltes Zeigen – durch Text und Körper – bedeuten? Doch genau in diesem doppelten Zeigen liegt Ong Keng Sen zufolge die Quelle für das, was er ‚Schatten‘ oder ‚Geister‘ der Wahrnehmung nennt: durch mehrere unterschiedliche Blicke auf die Handlung – gezeigt mittels Text und Körper – entsteht ein Gefühl von Unbehagen und Befremden.27

Die dem chinesischen Begriff ‚shenfen‘ – Identität – eingeschriebene Bedeu- tung ‚geteilter Körper‘ findet in Ong Keng Sens Inszenierung eine besondere Um- setzung: Brechts Parabelstück Der gute Mensch von Sezuan wird mittels Text, Ges- ten und Bewegungen auf die Bühne gebracht. Ong Keng Sen greift auf eine uralte Technik des chinesischen Theaters zurück und lässt die Akteure ihre Körper als gleichsam geteilte Körper verwenden: Sie bewegen sich im Zwischenraum von Subjekt- und Objekt-Status, von wo aus sie mal das eine, mal das andere, mal bei- des gleichzeitig darstellen. Es ist dies zugleich auch ein Spiel mit der Unsicherheit der Zusehenden, nicht mehr klar zwischen Subjekt und Objekt unterscheiden zu können.

27 Gespräch zwischen D. P. und Ong Keng Sen, Linz, 25. September 2009.

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ITERATUR

Artaud, Antonin: „Orientalisches und Abendländisches Theater,“ in: ders.: Das Theater und sein Double. München: Matthes & Seitz 1996, 73-78.

Bochow, Jörg: Das Theater Meyerholds und die Biomechanik. Berlin: Alexander 2005.

Brecht, Bertolt: „Bemerkungen über die chinesische Schauspielkunst“, in: Hecht, Werner et al. (Hg.): Bertolt Brecht Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 22.2. Berlin/Weimar: Aufbau, Frankfurt am Main:

Suhrkamp 1988-2000, 151-155.

Faye, Chunfang Fei: Chinese Theories of Theater and Performance from Confucius to the Present. Michigan: The University of Michigan Press 1999.

Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004.

Han, Byung-Chul: Abwesen. Berlin: Merve 2007.

Jullien, François: Der Umweg über China: Ein Ortswechsel des Denkens. Berlin:

Merve 2002.

Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 2005.

Meyerhold, Wsewolod: „Der Schauspieler der Zukunft und die Biomechanik“, in:

ders.: Theaterarbeit 1917-1930. Hg. von Rosemarie Tietze. München: Hanser 1974, 72-76.

Oida, Yoshi/Marshall, Lorna: Der unsichtbare Schauspieler. Berlin: Alexander Verlag 32005.

Pavis, Patrice: Theatre at the Crossroads of Culture. London/New York: Routledge 1992.

Prager, Michael: „‚Lebendige Hieroglyphen.‘ Bali, Artaud und das Theater der Grausamkeit,“ in: Köpping, Klaus-Peter/Rao, Ursula (Hg.): Im Rausch des Ri- tuals: Gestaltung und Transformation der Wirklichkeit in körperlicher Perfor- manz. Hamburg: LIT 2000.

Riley, Jo: Chinese Theater and the Actor in Performance. Cambridge: Cambridge University Press 1997.

Takeuchi, Yoshimi: „Was bedeutet die Moderne? Der Fall Japan und der Fall China (1948)“, in: ders.: Japan in Asien. Geschichtsdenken und Kulturkritik nach 1945. Hg. von Wolfgang Seifert und Christian Uhl. München: Iudicum 2005, 9- 54.

Wolkow, N. D.: Meyerhold, Bd. 1. Moskau/Leningrad 1929.

Yu, Weijie: Mei Lanfang’s innovation in Beijing opera: a historical documentation of his artistic career & his representative stage productions. Dissertation, Bay- reuth 1996.

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