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Zur Mikroanalyse universitärer Sozialisation im Medizinstudium: Eine Anwendung der Methode der objektiv-hermeneutischen T extinterpretation

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© F. Enke Verlag Stuttgart Zeitschrift für Soziologie, Jg. 12, Heft 1, Januar 1983, S. 2 4 - 4 8

Zur Mikroanalyse universitärer Sozialisation im Medizinstudium:

Eine Anwendung der Methode der objektiv-hermeneutischen T extinterpretation

Günter Burkart

Universität für Bildungswissenschaften Klagenfurt Institut für Bildungsökonomie und Bildungssoziologie Universitätsstraße 6 5 - 6 7 , A -9010 Klagenfurt, Österreich

Z u s a m m e n f a s s u n g : Im Zentrum des Aufsatzes steht die ausführliche Analyse einer Textsequenz aus einer chirurgischen Lehrveranstaltung nach der Interpretationsmethode der „objektiven Hermeneutik“ . Sie wird eingerahmt durch vorbereitende theoretische Überlegungen zur professionellen Sozialisation von Medizinstuden­

ten, Erörterungen zur Reichweite solcher Interpretationen sowie einiger Konsequenzen für universitäre Soziali­

sation. Ein Hauptergebnis ist, daß der universitäre Kompetenzerwerb eine Form der „impliziten Didaktik“ erfor­

dert, die durch Bürokratisierung der Universität ebenso erschwert wird wie durch gewisse Formen von Studien­

planung und Hochschuldidaktik.

I. Vorüberlegungen

Medizinstudium und professionelle Sozialisation Prozesse professioneller Sozialisation, also die allmähliche Identifikation mit dem Wertsystem einer Profession und der Erwerb einer professio­

nellen Identität (z.B. Becker/Carper 1972) wer­

den bevorzugt am Beispiel der Medizin unter­

sucht, nicht zuletzt wohl deshalb, weil die Ärzte zu den wenigen Berufsgruppen gehören, denen das Prädikat „Profession“ unbestritten zukommt (Freidson 1970/1979). Mit einer gewissen Selbst­

verständlichkeit wird daher, besonders in der amerikanischen Forschung, das Medizinstudium als Prozeß der professionellen Sozialisation von Ärzten charakterisiert. Diese Perspektive domi­

niert seit der Publikation der beiden Untersu­

chungen The Student-Physician (Merton et al.

1957) und Boys in White (Becker et al. 1961), denen zahlreiche weitere Studien gefolgt sind (vgl. die Übersichten bei Bloom 1965 und Stevens 1978).

Die Studien in der interaktionistischen Tradition haben der studentischen Subkultur der Medical Schools besondere Aufmerksamkeit gewidmet und betonten die Handlungsprobleme der Stu­

denten bei ihrer Auseinandersetzung einerseits mit „schulischen“ , andererseits mit „professio­

nellen“ Anforderungen: Die Boys in White ent­

wickeln eine Perspektive des zukünftigen Arztes, die allmählich jene Perspektive überlagert (aber nicht aufhebt), die zu Beginn des Studiums do­

minierend war: das zu lernen, was die School von ihren Schülern erwartet. Die funktionalisti- schen Forscher richteten ihr Hauptaugenmerk

auf die sukzessive Identifikation mit der zukünf­

tigen Berufsrolle. Sie haben Erfolgsmessung be­

trieben: Wieweit ist das Ziel professioneller So­

zialisation, nämlich die vollständige Identifika­

tion mit der ärztlichen Berufsrolle, auf den ver­

schiedenen Ausbildungsstufen bereits realisiert und welche Prozesse sind funktional im Hinblick auf diese Zielsetzung (Cornish 1972)? Auf diese Weise sind viele Einzelergebnisse zur professio­

nellen Sozialisation von Medizinstudenten und jungen Ärzten zusammengetragen worden, ohne daß in neueren Studien noch wesentliche neue Einsichten hinzugekommen wären. Charakteri­

stisch für diese jüngeren Untersuchungen ist vor allem, daß zentrale Begriffe wie Sozialisation und professionelle Identität relativ unreflektiert verwendet werden und lediglich der deskriptiven Zuordnung empirischer Ergebnisse dienen (Bu- cher/Stelling 1977; Coombs 1978; Fredericks/

Mundy 1976). So sind, trotz intensiver For­

schungstätigkeit in diesem Bereich, inzwischen vereinzelt auch im deutschsprachigen Raum (Depner 1974; Infratest 1973), wichtige Fragen offen geblieben, weil die theoretischen Grund­

lagen nicht hinreichend geklärt waren.

Dieses theoretische Defizit betrifft insbesondere:

1. Die Struktur der professionellen Handlungs­

kompetenz des Arztes;

2. das Verhältnis von professioneller und univer­

sitärer Sozialisation und damit die Relation der professionellen Kompetenz zu einer um­

fassenden Handlungskompetenz, die das Pro­

dukt universitärer Sozialisation ist;

3. den Prozeß des Erwerbs dieser Handlungs­

kompetenz in universitärer Sozialisation.

(2)

Günter Burkart: Zur Mikroanalyse universitärer Sozialisation im Medizinstudium 25

Auf die beiden erstgenannten Punkte werde ich im folgenden nur kurz eingehen, um mich dann auf das Problem des Kompetenzerwerbs zu kon­

zentrieren. Die Darstellung einer ausführlichen exemplarischen Analyse einer Interaktionsse­

quenz aus dem Medizinstudium nach dem Inter­

pretationsverfahren der objektiven Hermeneutik (Oevermann) im II. Abschnitt dient vor allem der Klärung dieses Prozesses.

Professionelle Handlungskompetenz und univer­

sitäre Sozialisation

Ein Großteil der Studien zur professionellen So­

zialisation hat Fragen des Erwerbs einer Hand­

lungskompetenz kaum Beachtung geschenkt, weil Sozialisation meist nur als Einstellungsverände­

rung begriffen wird und Kompetenzerwerb ande­

rerseits auf das Problem des Erwerbs von tech­

nischen und praktischen Fertigkeiten, auf Quali­

fizierung, eingegrenzt wird. Professionelle Sozia­

lisation erscheint daher meist nur als Erwerb ei­

nes professionsadäquaten Bewußtseins, nicht aber als Erwerb einer Kompetenz zur adäqua­

ten Ausübung professionalisierten Handelns. Auf der anderen Seite haben die Studien zur allge­

meinen Professionstheorie vor allem die politi­

schen, sozialstrukturellen und historischen Pro­

bleme untersucht, die der Prozeß der Professio- nalisierung von Berufen mit sich bringt und das Problem professionalisierten Handelns ver­

nachlässigt (z.B. Goode 1972, Wilensky 1972).

Deshalb ist die Untersuchung der Struktur ei­

ner professionellen Handlungskompetenz bisher nicht allzu weit gediehen1.

Die Sachlage stellt sich einfacher dar, wenn man sich auf den paradigmatischen Fall professiona­

1 Häufig wird professionelle Sozialisation von Ärzten und Medizinstudenten auf die psychische Bewälti­

gung von Stress-Situationen reduziert (F ox 1957;

Knight 1973; Coombs 1978).

Die mangelnde theoretische Klärung der Handlungsr Struktur ist der Grund für die Vielzahl unterschied­

lichster Kriterienkataloge zur Bestimmung der Pro­

fessionalität von Berufsgruppen. Hesse (1972: 44 ff.) hat aus der angloamerikanischen Literatur eine Liste von 18 Kriterien zusammengestellt. In jüngster Zeit sind erste Versuche unternommen worden, das Pro­

blem der Professionalität von der Struktur profes­

sionalisierten Handelns her zu klären (Oevermann 1978; Seyfarth 1981a).

lisierten Handelns, eben das ärztliche Handeln, beschränkt. Die wesentlichen Beiträge zur Expli­

kation der Struktur ärztlichen Handelns sind durch Parsons* frühe Arbeiten (Parsons 1951) angeregt. Der Arzt ist medizinisch-wissenschaft­

licher Experte, der in eine spezifische Beziehung mit Patienten eintritt, deren Ziel die Wiederher­

stellung des normativen Zustandes Gesundheit ist und die deshalb auch temporär zu sein hat.

Die Verwendung wissenschaftlicher Ressourcen ist ausschließlich an diesem praktischen Ziel orientiert und nur dadurch legitimiert, daß an­

dere Ressourcen sich als weniger erfolgreich für diese Zielsetzung erweisen. Damit unterscheidet sich der Arzt sowohl vom Wissenschaftler, der nach Parsons an kognitiver Rationalität orien­

tiert ist (Parsons/Platt 1973), als auch vom wirt­

schaftlich rational Handelnden, dessen Ziel die eigene Nutzenmaximierung ist.

Zentrales Element der Struktur ärztlichen Han­

delns ist bei Parsons der Clinical Focus, die Orientierung an praktischen Problemen der Klien­

ten, die im weitesten Sinn therapeutisch lösbar sind. Die wissenschaftliche Fundierung ist zwar eine Grundbedingung professionellen Handelns unter den Bedingungen neuzeitlicher Rationali­

tät, es bleibt aber entweder auf den immanenten Problembereich wissenschaftlicher Rationalität beschränkt oder unterliegt der Gefahr sozialtech­

nischer Deformation, wenn es nicht an die Ver­

tretung von Klienteninteressen, die an allgemeine Werte angebunden sind (Gesundheit, Gerechtig­

keit, Bildung usw.), geknüpft bleibt. Deshalb ist der „therapeutische“ Klientenbezug das entschei­

dende Merkmal der Struktur professionellen ärzt­

lichen Handelns. Es geht dabei immer um Pro­

bleme stellvertretender Sinninterpretation bei Wertproblemen (Oevermann 1978).

Unter sozialisationstheoretischer Perspektive führt das Problem der professionellen Hand­

lungskompetenz zu der oben angeschnittenen zweiten Frage, ob es ausreicht, das Medizin­

studium nur unter dem Aspekt der professio­

nellen ärztlichen Kompetenz zu untersuchen.

Die Selbstverständlichkeit der Verwendung des Terminus professionelle Sozialisation, ohne da­

bei das Verhältnis von Medizinstudium und

Universität überhaupt zu thematisieren, scheint

dadurch legitimiert, daß ärztliches Handeln

das professionalisierte Handeln par excellence

darstellt. Dagegen läßt sich einwenden, daß

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26 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 12, Heft 1, Januar 1983, S. 2 4 - 4 8

das Medizinstudium in erster Linie ein Studium an einer wissenschaftlichen Hochschule ist, deshalb nicht auf professionelle Sozialisation oder gar auf Berufsausbildung reduziert wer­

den darf, sondern aus der Perspektive universi­

tärer Sozialisation interpretiert werden muß.

Dafür lassen sich mehrere Argumente anführen.

Abgesehen davon, daß die Charakterisierung des Medizinstudiums als professionelle Soziali­

sation an den amerikanischen Verhältnissen ab­

gelesen ist, wo Professional Schools relativ au­

tonome Institutionen innerhalb eines differen­

zierten Hochschulsystems sind (Parsons/Platt 1973; Ben-David 1977), läßt sich zunächst sa­

gen, daß professionelle Sozialisation im engeren Sinn selbst in solchen stark berufsorientierten Studiengängen wie Medizin oder Rechtswissen­

schaften erst nach Abschluß des Studiums, in der Berufseingangsphase, einsetzt (Bloom/Wil- son 1972: 330 ff.; Depner 1974: 76; Mumford 1970; Bucher/Stelling 1977; Andress et al.

1979). Wichtiger aber ist ein grundsätzliches Argument. Die Reduktion des Medizinstudiums auf professionelle Sozialisation hat zwei mög­

liche theoretische Konsequenzen: man muß dann entweder das Medizinstudium als Sonder­

fall behandeln und vom Universitätsstudium überhaupt trennen oder aber, wenn man die Einheit des Studiums und damit der Universität theoretisch noch nicht aufgeben will, das Stu­

dium generell als professionelle Sozialisation interpretieren. Diese Entscheidung würde eine Fülle neuer Probleme aufwerfen, die hier nicht behandelt werden können2.

Man kann diese Schwierigkeiten aber umgehen, wenn man den Versuch macht, das Medizin­

studium nicht als Sonderfall zu betrachten, sondern die Dimension der professionellen So­

zialisation der allgemeineren Perspektive univer­

sitärer Sozialisation unterzuordnen. Die ent­

scheidende Konsequenz dabei ist, daß es dann nicht mehr nur um die Analyse der professio­

nellen ärztlichen Kompetenz im engeren Sinn geht, sondern daß diese als Bestandteil einer

2 Etwa die Frage, ob ein Studium dann in erster Li­

nie als Vorbereitung der Studenten zur Aufnahme in die universitäre Profession aufgefaßt werden müßte. - Für Seyfarth (1981b ) ist das Ziel univer­

sitärer Sozialisation eine generalisierte Kompetenz zu professionalisiertem Handeln.

umfassenderen intellektuellen Kompetenz be­

griffen werden kann3.

Elemente der Struktur universitärer Sozialisation Der oben genannte dritte Kritikpunkt an der bisherigen Forschung zur professionellen So­

zialisation in der Medizin bezieht sich auf die Struktur des Kompetenzerwerbsprozesses.

„Sozialisation“ heißt, auch in den interaktio- nistisch motivierten Studien, meist nichts an­

deres als „Veränderungen von Einstellungen im Zeitverlauf“ . Der Sozialisationsprozeß selber steht nicht zur Debatte. Was also fehlt, ist die Rekonstruktion der Struktur der Interaktions­

prozesse, in denen sich der Kompetenzerwerb vollzieht (Oevermann 1979; Oevermann et al.

1979).

Für die Konstruktion eines Strukturmodells uni­

versitärer Sozialisation, das die Struktur der sozialisatorischen Interaktion an der Universität erfassen soll, erscheint es sinnvoll, zunächst an­

dere Sozialisationsmodelle im Hinblick auf Strukturaffinität zu überprüfen. Am wenigsten ergiebig scheint dabei das Modell schulischer Sozialisation, weil es den Professor auf den Hochschul/eArer reduziert und dadurch ein we­

sentliches Element universitärer Sozialisation unterschlägt4 . Fragwürdig ist auch die Analogi- sierung von familialer und universitärer Soziali­

sation, wie sie von Parsons und Platt (1973:

175 ff.; 1976) vorgenommen wird. Zwar gibt es in beiden Kontexten ein KompetenzgefäUe zwischen Sozialisator und Sozialisand. Aber die Voraussetzungen zur Teilnahme an sozialisatori-

3 Zur Perspektive universitärer Sozialisation als Er­

werb einer intellektuellen Handlungskompetenz ausführlicher Burkart 1982.

4 Mit Professor ist hier nicht eine Position innerhalb der universitären Statushierarchie gemeint, sondern die Funktion der sozialisierenden Person, zu der an der Universität immer Forschung und Lehre gehö­

ren. Durch den Professor ist der Student latent im­

mer an der Forschung beteiligt, genauer: er wird in die Lage versetzt, die Struktur wissenschaftlichen Handelns, die per definitionem Forschung ein­

schließt, zu erfassen.

Wenn das schulische Sozialisatonsmodell heute die universitären Verhältnisse zunehmend zutreffender zu erfassen scheint, so ist dies ein Krisenindikator („Verschulung“).

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Günter Burkart: Zur Mikroanalyse universitärer Sozialisation im Medizinstudium 27

sehen Interaktionen sind an der Universität an­

ders als in der Familie: es fehlt der zwingende Charakter primärer Sozialisation, wie ihn Haber­

mas in seiner Rekonstruktion der Meadschen Sozialisationstheorie kennzeichnet (Habermas

1981, Bd. 2). Darüber hinaus geht es an der Universität um die Vermittlung einer spezifi­

schen intellektuellen Kompetenz, nicht um grundlegende soziale Kompetenzen.

Aus dem Modell professioneller Sozialisation läßt sich für die Analyse universitärer Soziali­

sationsprozesse die Vorstellung übernehmen, daß der Erwerb professioneller Handlungskom­

petenz an die Teünahme an Handlungssituatio­

nen gebunden ist, in denen ein kompetentes Professionsmitglied (der „Meister“) seinem

„Lehrling“ kompetentes Handeln in seinem Vollzug demonstriert. Die Teilnahme an Situa­

tionen des kompetenten Vollzugs professionel­

ler Handlungen ist die Bedingung der Möglich­

keit, die Struktur der professionellen Handlungs­

kompetenz zu erfassen5.

Die Betonung der Struktur kompetenten Han­

delns verweist schließlich darauf, daß es sinn­

voll erscheint, ein zentrales Element aus der an Strukturalismus und kognitiver Entwicklungs­

psychologie orientierten allgemeinen Kompe­

tenzerwerbstheorie in die Konstruktion eines Strukturmodells universitärer Sozialisation mit aufzunehmen: die Konzeption von Lernpro­

zessen als „intuitives“ Erfassen einer dem kon­

kreten Handeln zugrundeliegenden Regelstruk­

tur (Oevermann 1979). Man vermeidet damit nicht nur die naive Vorstellung, daß Studen­

ten im Sinne von Verhaltenstraining und Anpas­

sung sozialisiert werden, sondern kann auch den generativen und innovativen Charakter der uni­

versitär vermittelten Kompetenz berücksichti­

gen, der dafür sorgt, daß Hochschulabsolventen in der Regel „flexibel“ und generalisiert qualifi­

ziert sind.

Wenn man nun im Zusammenhang mit dieser strukturtheoretisch orientierten Konzeption aus dem Modell professioneller Sozialisation

5 Der institutionelle Rahmen dieses Vermittlungsmo­

dus ist die Lehre (Lüscher 1968). Die professionelle Sozialisation unterscheidet sich von der Handwerks­

lehre durch die Merkmale Wissenschaftlichkeit um;

sinninterpretierender („therapeutischer“) Klienten­

bezug.

die Vorstellung übernimmt, daß sich Lernpro­

zesse durch die Teilnahme am Vollzug kompe­

tenten Handelns vollziehen, dann läßt sich das zentrale Strukturelement sozialisatorischer Inter­

aktion im universitären Kontext etwa wie folgt formulieren: Die Bedingung der Möglichkeit des Erwerbs einer Handlungskompetenz ist de­

ren Verankerung in der Struktur der sozialisa- torischen Interaktion. Nach Oevermann et al.

(1979: 380 ff.) wird in Sozialisationsprozessen mehr an Bedeutungsgehalten generiert, als die beteiligten Subjekte intendieren und bewußtseins­

mäßig erfassen können. Die objektive Sinnstruk­

tur ist dem subjektiven Sinn immer ein Stück weit voraus. Man kann deshalb sagen, daß die Struktur universitärer Sozialisation für die Stu­

denten die objektive Möglichkeit konstituiert, ein dem konkreten Handeln zugrundeliegendes generatives Regelsystem „intuitiv“ erfassen und handlungsrelevant verstehen zu können, ohne daß der Sinn dieser Struktur im subjektiven Be­

wußtsein repräsentiert sein muß. Die Veranke­

rung der Kompetenzstruktur in der sozialisatori- schen Interaktion ist auf zweifache Weise vor­

stellbar. Zunächst durch die Realisierung kom­

petenten Handelns, durch den Vollzug profes­

sionalisierten Handelns. Dies ist dann der Fall, wenn die sozialisatorische Interaktion zwischen Medizinprofessor und Student empirisch mit der therapeutischen Interaktion zwischen Arzt und Patient zusammenfällt, also zum Beispiel dann, wenn die Lehre direkt am Krankenbett stattfindet. Die zweite Möglichkeit ist die fiktive Realisierung von Handlungskompetenzmodellen in sozialisatorischer Interaktion. Durch die kon­

trafaktische Idealisierung, daß Arzt und Student so handeln, als ob sie einen konkreten medizini­

schen Fall, also einen Patienten mit einem be­

stimmten Krankheitsbüd, zu behandeln hätten, ohne daß ein wirklicher Patient beteiligt ist, er­

halten die Studenten die Möglichkeit, die Struk­

tur der ärztlichen Handlungskompetenz zu er­

fassen. Die Interaktion zwischen Arzt und Stu­

denten stellt dann eine fiktive Teilnahme der Studenten an der therapeutischen Interaktion dar.

Zur Methode

Die folgende empirische Analyse beschränkt sich im wesentlichen auf das Problem des Erwerbs der ärztlichen Handlungskompetenz durch so­

zialisatorische Interaktion. Es versteht sich bei­

(5)

28 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 12, Heft 1, Januar 1983, S. 2 4 - 4 8

nahe von selbst, daß für die Rekonstruktion der Struktur sozialisatorischer Interaktionen als ei­

ner objektiven Realität (im Sinne Meads und Dürkheims) die Erhebung von Bewußtseinsdaten und deren quantifizierende Auswertung nicht in Frage kommen. Befragungen geben lediglich dif­

ferenzierende subjektive Einschätzungen wieder, die vielfach verzerrt sein können. Für die Re­

konstruktion objektiver Bedeutungsstrukturen benötigt man daher eine Methode, die in der Lage ist, den subjektiven Sinn zu transzendieren, und die nicht, wie dies standardisierte Befragun­

gen im allgemeinen tun, die symbolische Struk­

tur sozialer Interaktionen bereits bei der Erhe­

bung zerstört, sondern Daten produziert, deren Interpretation die Rekonstruktion dieser Sinn­

struktur ermöglicht.

Genau diese Zielsetzung verfolgt die von einer Gruppe um Oevermann entwickelte und derzeit zwar stark diskutierte, aber bisher noch wenig angewandte Methode der objektiv-hermeneuti- sehen Textinterpretation. Da diese Methode be­

reits hinreichend dokumentiert und vereinzelt auch schon rezensiert ist (Oevermann et al.

1979; Küchler 1980) genügen einige allgemeine Bemerkungen.

Die Datenbasis der objektiv-hermeneutischen Analysen sind Protokolle kommunikativer Handlungen, Texte6. Aufgabe der Interpreten ist es, die objektive Sinnstruktur des Textes zu erschließen. Die Interpretationstätigkeit selber stellt nichts anderes dar als die möglichst unge­

trübte und systematisierte Anwendung alltags­

weltlicher kommunikativer Urteilskraft; die Un- getrübtheit der Anwendung „normaler“ Inter­

pretationskapazität ist das Validitätskriterium der Methode. Deshalb gilt ein Großteil der me­

thodischen Regeln des Verfahrens der Sicherung dieser „Perfektionierung“ alltäglicher Deutungs­

leistungen (Oevermann et al. 1979: 388 ff.).

Dazu gehört unter anderem das Prinzip der Se­

quenzanalyse, was dafür sorgt, daß zunächst die Vielzahl von Bedeutungsmöglichkeiten, die dem Interaktionssystem am Beginn der Sequenz of­

fenstehen, erfaßt werden. Dies läßt sich dadurch erreichen, daß soziale Kontexte erfunden werden,

6 Oevermann et al. 1979: 381. Text bedeutet hier ein pragmatisch auf die Form einer transkribierten Ton­

bandaufnahme reduziertes Interaktionsprotokoll, bei dem nonverbale kommunikative Handlungen nicht in vollem Umfang berücksichtigt werden.

in denen die zu interpretierende Äußerung als pragmatisch sinnvoll, sozial vernünftig, der Situa­

tion angemessen gelten kann. Durch die Kon­

frontation dieser möglichen Kontextuierungen mit dem realen Kontext, aus dem die Sequenz stammt, lassen sich dann Bedeutungsmöglichkei­

ten ausschließen.

Für die konkrete Interpretationsarbeit hat die Oevermann-Gruppe einen Leitfaden entwickelt.

Dabei werden kurze sinnhafte Einheiten eines Textes gemäß dem Prinzip der Sequenzanalyse auf mehreren Ebenen systematisch interpretiert7 * . (0) Zunächst wird der aktuelle Zustand des In­

teraktionssystems vor der zu interpretierenden Sinneinheit expliziert. Die Konfrontation mögli­

cher Selektionsschritte des Systems, denen Handlungsmöglichkeiten der Interaktionsteil­

nehmer entsprechen, mit der tatsächlich vorlie­

genden sprachlichen Äußerung, ergibt erste Hin­

weise für die Rekonstruktion der Sinnstruktur.

(1) Auf dieser Ebene wird die Sinneinheit lin­

guistisch charakterisiert und paraphrasiert. Fer­

ner können Vermutungen über mögliche Spre­

cherintentionen angestellt werden.

(2) Hier werden objektive Bedeutungsmöglich­

keiten gesammelt, die zunächst ausschließlich vom Text gedeckt sein sollen. Es werden also weder andere Textstellen aus der Sequenz be­

rücksichtigt noch das Wissen des Interpreten über den sozialen Kontext der Äußerungseinheit.

Zur Rekonstruktion der objektiven Sinnstruk­

tur des Textes stehen dem Interpreten im we­

sentlichen zwei Arten von Techniken zur Ver­

fügung. Erstens linguistische Indikatoren für Bedeutungsmöglichkeiten, zweitens die fiktive Kontextuierung der Äußerung, also etwa die

Frage: „In welchem sozialen Kontext, in wel­

chen typischen Handlungssystemen klingt diese Äußerung für einen normalen, kompetenten Sprecher der deutschen Sprache sinnvoll, kon­

ventionell, erwartbar?“ Man erfindet Kontexte und Geschichten, zu denen die vorliegende Äußerung passen würde.

7 Das folgende Schema von Analyse-Ebenen weicht in mehreren Punkten von dem ab, das bei Oever­

mann et al. 1979: 394 ff. angegeben ist. Diese Änderungen ergaben sich pragmatisch im Verlauf der Interpretationsarbeit. Das Schema dient vor al­

lem der Sorgfalt der Analyse.

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Günter Burkart: Zur Mikroanalyse universitärer Sozialisation im Medizinstudium 29

(3) Auf dieser Ebene wird das Wissen des In­

terpreten über den sprachlichen und sozialen Kontext der Äußerung einbezogen. Dadurch müssen in der Regel einige der bisher möglichen Interpretationen fallengelassen werden, für an­

dere verstärkt sich die pragmatische Evidenz.

Die Fragestellung lautet jetzt: ist die zu inter­

pretierende Äußerung im vorliegenden Kontext sinnvoll, typisch, angemessen? Oder welche Äußerung hätten wir im vorliegenden Kontext eher erwarten können?

(4) Nun kann unter Einbeziehung der bisher interpretierten Sinneinheiten und des gesam­

ten Kontextwissens des Interpreten eine vor­

läufige resümierende Charakterisierung der Fall­

struktur erfolgen. Im Verlauf der sequentiellen Analyse versucht man schließlich, nun auch mit expliziter Berücksichtigung theoretischer An­

nahmen der Sozialwissenschaften, erste Verall­

gemeinerungen zu formulieren, die über die vor­

liegende Interaktionssequenz hinausweisen und zur Rekonstruktion der Sinnstruktur des Inter­

aktionssystems führen können. Es geht dabei um die Identifizierung des Handlungssystems:

Mit welchem Fall haben wir es hier zu tun (Oever- mann 1981)?

II. Die Interpretation einer Textsequenz aus dem Medizinstudium

Die konsequente und ausführliche Interpretation einer kurzen Sequenz wirft ein gravierendes Dar­

stellungsproblem auf: Die „vollständige“ Inter­

pretation des hier interpretierten Textausschnit­

tes nahm ca. 30 engbeschriebene Manuskript­

seiten in Anspruch. Die folgende Darstellung ist der Versuch eines Kompromisse: Sie ist keine bloße Zusammenfassung der Ergebnisse, verzich­

tet aber auf weitläufige Interpretationsschritte, die sich später als relativ folgenlos erwiesen ha­

ben8.

8 So war es beispielsweise für die Interpretation der vorliegenden Textsequenz notwendig, eine Reihe möglicher Redeanfänge zu rekonstruieren, um mög­

liche Bedeutungen der ersten Sinneinheit erschließen zu können, da der Anfang aus technischen Gründen nicht erfaßt worden war. Die Darstellung dieser möglichen Redeanfänge wäre aber für das Verständ­

nis der Interpretation nicht sonderlich ergiebig ge­

wesen.

Der Text, welcher der folgenden Interpretation zugrun­

deliegt, stammt aus einer Vorlesung im Rahmen des chirurgischen Praktikums im 3. klinischen Semester (7.

Studiensemester)9. Zum Zeitpunkt des Beginns der in­

terpretierten Sequenz, etwa zwei Minuten nach Vorle­

sungsbeginn, ist der kleine Hörsaal noch nicht gefüllt;

immer wieder geht die Tür auf, kommen einzelne Stu­

denten oder ganze Gruppen herein, bis schließlich etwa fünfzig Teilnehmer anwesend sind. Der Dozent steht frei im Raum vor den Studenten, trägt einen weißen Kittel, hält ein Buch in der Hand. Andere Requisiten hat er nicht bei sich. Er produziert in freier Rede mo­

nologisch den vorliegenden Text.

Die erste Sinneinheit lautet:

101 „ . . . dann steht hier drin: sekundäre Komplikationen bei -

(0) Ein Beispiel für einen von mehreren möglichen An­

fängen: Der Dozent könnte sich vor der Äußerung (101) zunächst mit dem Buch, das er in der Hand hält, dann mit etwas anderem thematisch befaßt haben; nun käme er wieder auf das Buch zurück, wirft einen Blick auf den Text und fährt fort: „ . . . dann steht hier drin

(1) Wie auch immer die Rede angefangen hat, der Do­

zent setzt sie jetzt fort mit einer Ankündigung, bei der er sich auf etwas bezieht, worauf er sichtbar und ein­

deutig („hier drin“) verweist. Er kündigt eine Textstelle aus diesem Bezugsobjekt an. Mit einer deutlichen in­

tonatorischen Pause bricht er die Zitation („sekundäre Komplikationen bei“) der Textstelle ab, ohne den Satz grammatisch korrekt abzuschließen.

(2) „Hier drin“ ist zunächst einmal der Hinweis, daß jeder Hörer wissen kann, worauf sich der Sprecher be­

9 Er wurde 1978 in Frankfurt/Main aufgezeichnet.

Dieser Text schien auf den ersten Blick nicht sehr

„ergiebig“ zu sein; dennoch wurde er ausgewählt, um den Verdacht zu entkräften, daß ein Text be­

sondere Auffälligkeiten zeigen müsse, um eine frucht­

bare Interpretation zu ermöglichen. Die Interpreta­

tion ist, mit einigen Änderungen und Kürzungen, meiner Dissertation entnommen (Burkart 1980:

179 ff.). Für wertvolle Hinweise dazu danke ich Constans Seyfarth, der auch eine erste Fassung die­

ses Aufsatzes gelesen hat, und Ulrich Oevermann.

Zur Technik der Transkription:

Die einzelnen Sinneinheiten sind mit „1 0 1 “ ff.

durchnumeriert.

. . . = Einzelne Worte auf dem Ton­

band unverständlich bzw.

Anfang der Äußerung unvoll­

ständig aufgezeichnet.

- = Kurze Sprechpause

Infektion(en) = Worte oder Wortteile in Klam­

mern waren schwer verständ­

lich, Richtigkeit der Transkrip­

tion ungesichert.

unsagbares Leid Deutliche intonatorische Be­

tonung durch den Sprecher

(7)

30 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 12, Heft 1, Januar 1983, S. 2 4 - 4 8 zieht, zumindest im physikalischen Sinn; ein Sprecher

wird nur „hier drin“ ohne weitere Erläuterungen sagen, wenn er sicher sein kann, daß jeder Hörer sieht oder weiß, worauf sich diese deiktischen Morpheme beziehen.

Diese pragmatische Verständnissicherung kann er auf verschiedene Weise erreichen (Blick, Fingerzeig, Hoch­

heben des Bezugsobjekts etc.). Es kann auch sein, daß in vorausgegangenen Redesequenzen dieses Bezugsob­

jekt bereits eindeutig benannt wurde, so daß er sich jetzt auf seine eigene Rede bezieht (anaphorische Dei- xis).

Weiterhin kann man schließen, auch ohne daß man et­

was über die Requisiten und die räumliche Anordnung weiß, daß „hier drin“ sich auf irgendeinen Text bezie­

hen muß, den der Redner entweder in der Hand hält oder sichtbar vor sich haben muß. Die Hörer müssen den Text entweder auch sehen können oder der Spre­

cher muß bereits gesagt haben, daß er einen Text bei sich hat, auf den er sich beziehen will. Es ist auch anzunehmen, daß die Hörer - die Studenten - bereits die Identität des Textes kennen, es sei denn, der Pro­

fessor verfolgte die didaktische Strategie, zunächst ein­

mal ein Zitat vorzustellen, die Quelle aber geheimzu­

halten, um den Studenten Gelegenheit zu geben, ihren Spürsinn zu beweisen. Es ist weiterhin anzunehmen, daß es sich bei dem Text nicht um ein Vorlesungs­

manuskript des Professors handelt, es sei denn, er woll­

te sich in ironischer Absicht selbst zitieren (auch in diesem Fall könnte er die Identität des Textes bisher geheimgehalten haben).

„Hier drin“ sagt ein Professor in einer Vorlesung nor­

malerweise nicht, wenn er sich auf eine literarische Autorität bezieht. Es klänge merkwürdig, wenn ein So­

ziologe das „Kapital“ von Marx in der Hand hielte und sagte: „Dann steht hier drin . . . “ - es sei denn, er hielte nicht allzu viel von Marx.

Es hat weiter auch nicht den Anschein, daß der Pro­

fessor eine Fallgeschichte vorträgt. Diese würde ein Kliniker in der Regel nicht aus einem von ihm nicht selbst verfaßten T ext vorlesen, sondern eher aus der Erinnerung vortragen. Oder er hätte eine Karteikarte oder ein Krankenblatt und würde sagen: „Dann steht hier drauf. . . Es handelt sich also wahrscheinlich um einen Text, den der Dozent nicht selbst verfaßt hat und der am Beginn der klinischen Vorlesung des chirurgischen Praktikums als Bezugspunkt dieser Vorlesung dient. Der Dozent zitiert diesen Text, wo­

bei auffällt, daß die Zitation unvollständig bleibt.

(3) Am Anfang einer klinischen Vorlesung bezieht sich der Dozent also auf einen bestimmten Text, wahrscheinlich ein Buch, dessen Autor er nicht selbst ist, dem eine bestimmte Bedeutung innerhalb der sozialisatorischen Interaktion zukommt. Zunächst bleibt offen, ob dieses Buch eine starke Vorgabe für den Verlauf der Vorlesung darstellt, der Professor es also als Strukturierungsmedium für seinen Vortrag benutzt oder ob er es eher in kritischer Absicht zi­

tiert.

(0) Vor dem Hintergrund der sprachlichen Regel, daß dieser abgebrochene Satz (1 0 1 ) keine akzeptable sprachliche Äußerung ist, stellt sich die Frage nach

der Motivierung dieser Unterbrechung. Diese Motivie­

rung muß auch für die Hörer verstehbar sein, d.h.

die Unterbrechung muß legitimiert sein. Das muß nicht heißen, daß der Dozent seine Unterbrechung explizit begründen muß; diese Begründung kann auch implizit bleiben oder durch außersprachliche Ereig­

nisse gegeben sein. Man muß also fragen: Warum wird das Zitieren (bzw. Paraphrasieren) überhaupt abge­

brochen? Warum gerade an dieser Stelle? Im Anschluß daran stellt sich die Frage: Welche Möglichkeiten hat der Dozent, seine Rede nach Beendigung der Unter­

brechungspause fortzusetzen?

Zur ersten Frage: Es könnte sein, daß der Dozent le­

diglich seine Rede neu organisieren will, daß er, wäh­

rend er spricht, seine Satzplanung ändert. Dies wäre der einfachste, nicht besonders interpretationsbedürf­

tige Fall. (Diese Möglichkeit wird durch die Äußerung (102) eindeutig eliminiert.) Weiterhin kann es einen äußeren oder inneren Anlaß zum Abbrechen des ange­

fangenen Satzes geben, Ereignisse, die sich als Stör­

faktor für die Fortsetzung der Rede aus wirken. Äußere Störereignisse dieser Art sind beliebig viele denkbar;

aus der Darstellung des äußeren K ontextes wissen wir, daß während der ersten Minuten des Vortrags ständig die Tür auf und zu geht, weil viele Studenten zu spät kommen. Irgendwann könnte der Punkt erreicht sein, wo sich der Dozent dadurch zu stark gestört fühlt und deshalb den Vortrag abbricht, um zu warten, bis sich der Saal gefüllt und die Studenten sich beruhigt haben.

Es könnte auch sein, daß der Dozent jetzt bemerkt, daß viele Studenten den Anfang seiner Rede nicht hö­

ren konnten und er jetzt deshalb abbricht. Innere Er­

eignisse sind ebenfalls auf vielfältigste Art denkbar, brauchen uns hier aber nicht weiter zu interessieren (dem Dozenten könnte soeben ein Einfall gekommen sein, der seine ganze Satzplanung über den Haufen wirft).

Warum bricht er gerade an dieser Stelle ab? Möglicher­

weise kommt gerade jetzt eine besonders große oder besonders viel Unruhe stiftende Gruppe von Nachzüg­

lern herein, oder es kommt gerade jemand herein, den der Dozent gut kennt, was seine Motivation, seine Rede neu zu organisieren, erhöhen könnte. Es könnte auch sein, daß das, was er als Nächstes sagen wollte, ihm so wichtig erscheint, daß er cs unbedingt allen zu­

gänglich machen will und ihm deshalb gerade jetzt auf­

fällt, daß ständig noch Studenten hereingekommen sind, während er bereits angefangen hatte. Es könnte umgekehrt auch sein, daß ihm die geplante Äußerung nach (101) so unwichtig erscheint, daß er jetzt plötz­

lich darauf verzichten möchte. Die Unterbrechung hätte dann nichts mit den später Hereinkommenden zu tun, sondern bezöge sich allein auf den Inhalt der Rede. Es wäre ihm dann nur auf die Nennung des Begriffs „sekundäre Komplikation“ angekommen, und entweder hätte er das „bei“ noch versehentlich mit vorgelesen oder es sollte eine Leerstelle bezeich­

nen, deren Ausfüllung jetzt aber nicht interessiert.

Oder er handelte in didaktischer Absicht, um von den Studenten eine Ausfüllung dieser Leerstelle nach

„sekundäre Komplikationen bei“ hervorzulocken.

Welche Möglichkeiten der Fortsetzung der Rede nach der Unterbrechungspause sind denkbar? Wenn

(8)

Günter Burkart: Zur Mikroanalyse universitärer Sozialisation im Medizinstudium 31 eine äußere Störung (oder ein psychisches Ereignis)

Anlaß der Unterbrechung war, könnte es sein, daß der Dozent einfach den unterbrochenen Satz vervoll­

ständigt. Es ist möglich, daß er in irgendeiner Weise Bezug auf dieses Störereignis nimmt; z.B.: „He, Sie da hinten, das ist fiir Sie sicher auch interessant, nicht?“

Wenn das Störereignis das Hereinkommen von Nach­

züglern ist, dann hat er u.a. folgenden Alternativen:

Er kann einfach warten, bis relative Ruhe eingekehrt ist, und dann seinen angefangenen Satz komplettie­

ren. Dies kann er mit völlig neutraler Mimik tun, er kann aber auch durch Gestik und Mimik zum Aus­

druck bringen, daß er diese Störung mißbilligt.

Weiterhin könnte er einer solchen möglichen Mißbil­

ligung verbal Ausdruck verleihen und sagen: „Ich bitte doch darum, daß Sie sich um etwas mehr Pünktlichkeit bemühen sollten.“ Oder schwächer:

„Ich glaube, ich muß noch einmal von vorne begin­

nen, denn es sind jetzt eine ganze Reihe von Kom­

militonen zu spät gekommen.“ Damit hätte er gleichzeitig auch seine Absicht bekundet, für die Nachzügler noch einmal von vorne zu beginnen oder zumindest das Wichtigste zu wiederholen. Es ist aber auch vorstellbar, daß er das Zu-spät-Kom- men thematisiert ohne noch einmal von vorne zu beginnen. Weiterhin könnte er die Notwendigkeit einer Wiederholung für die Nachzügler bekunden und gleichzeitig sich bei den pünktlich Gekom­

menen dafür entschuldigen usw. Schließlich könnte er einfach sagen, daß er für die später Gekommenen noch einmal etwas wiederholen will. Für diese letzte Möglichkeit „entscheidet er sich“ :

102 für die, die später gekommen sind:

(1) Der Professor füllt also die Unterbrechungsstelle mit der Erläuterung aus, daß er für die, die später gekommen sind, etwas sagen möchte. Er kündigt ftir die später Gekommenen einen Nachtrag, einen Sonderservice an. Er will ihnen etwas mitteilen, was die anderen schon wissen.

(2) Diese Äußerung ist an eine Subgruppe im Publi­

kum adressiert. Sie hat mehrere Implikationen:

a) Sie enthält eine implizite Begründung für den Ab­

bruch des zuvor angefangenen Zitats.

b) Es ist die Ankündigung einer Wiederholung (denn es ist unwahrscheinlich, daß er sich explizit an die Nach­

zügler wendet, um dann etwas zu sagen, was die ande­

ren auch noch nicht wissen).

c) Damit ist für die anderen auch der implizite Hin­

weis enthalten: „Ihr braucht jetzt nicht aufzupassen.“ 10 10 Wie viele der vorangegangenen und auch der folgen­

den Formulierungen darf auch diese nicht intentio- nalistisch mißverstanden werden; es sind hier immer

„objektive Motivierungen“ gemeint, d.h. Sinnstruk­

turen des Textes, nicht subjektiv gemeinter Sinn des Sprechers.

d) Es ist eine metakommunikative Äußerung: Der Dozent kommentiert jetzt seine Redeorganisation, er sagt, daß er jetzt eine eingeschobene Bemerkung ma­

chen wird, die den normalen Fortgang seines Vortra­

ges unterbricht.

e) Möglich ist auch die Implikation: „Für die, die später gekommen sind, muß ich nochmals wiederho­

len . . . , sonst verstehen Sie das Folgende nicht zu­

reichend.“

Diese Äußerung wird typischerweise in leicht modifi­

zierter Form in Funk und Fernsehen bei Direktüber­

tragungen von Ereignissen verwendet, wo niemand zur Teilnahme von Anfang an verpflichtet ist und wo nicht unterstellt werden kann, daß diejenigen, „die sich später zugeschaltet haben“ , den Ablauf der wei­

teren Ereignisse adäquat verstehen können, ohne be­

stimmte Informationen erhalten zu haben (z.B. In­

formationen über den Spielstand bei Fußballspielen oder über den Stand der Bundestagsdebatte: haben Schmidt und Kohl schon zur Sache gesprochen?).

Diese kontextuelle Affinität zu Fernsehübertragun- gen - allgemeiner: zu Ereignissen, wo keine Teil­

nahme von Beginn an vorgeschrieben ist, wo aber zum Verständnis des Ablaufs Informationen über Ereignisse, die zu Beginn stattgefunden haben, not­

wendig sind - deutet darauf hin, daß es keinen Grund gibt, die später Gekommenen zu tadeln und zu sanktionieren, sondern die notwendigen Informa­

tionen für die später Gekommenen nachzutragen, mit dem impliziten Hinweis für die pünktlich Er­

schienenen, daß das, was jetzt gesagt wird, nicht für sie gilt („Entschuldigen Sie, meine Damen und Her­

ren“ , sagt in solchen Fällen der Sportreporter, „daß ich den Spielstand so oft wiederhole, aber wir wissen, daß sich jetzt ständig neue Zuschauer einschalten, weil sie gerade von der Arbeit kom m en.“) Man kann umgekehrt auch Kontexte konstruieren, wo diese Äußerung in dieser Form geradezu undenk­

bar wäre. Dies ist ein Hinweis darauf, daß dort eine Verpflichtung zur Teilnahme von Anfang an be­

steht und eine der Sanktionsformen für Zuspätkom­

men ist, daß der Ablauf der fortlaufenden Ereignisse nicht mehr fiir Nachzügler unterbrochen wird. Wer zu spät in die Kirche kommt, muß sich selbst orien­

tieren, welche Sequenz der Liturgie gerade abläuft.

Es wäre grotesk, wenn der Pfarrer seine Predigt mit der Bemerkung unterbrechen würde: „Für die, die später gekommen sind, wiederholen wir jetzt noch einmal das Vaterunser“ .

Ein anderer Kontext dieser Art ist die Schule, wo allerdings die Sanktionsformen für Zuspätkommen eher noch schärfer sein können. Nimmt man den Kontext der klassischen Vorlesung an der Universi­

tät dann stellt man fest, daß dort normalerweise keine Unterbrechung fiir die Nachzügler erfolgt, daß es dort eher so ist wie in der Kirche: Ebenso wie der Pfarrer ohne Rücksicht auf später Kommende die Liturgie abspult, fährt der Professor in der klas­

sischen Vorlesung unbeirrt in seinem Vortrag fort, wenn neue Zuhörer später hereinkommen.

(9)

32 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 12, Heft 1, Januar 1983, S. 2 4 -4 £ Es kann zunächst noch nicht ausgeschlossen werden,

daß die Äußerung tadelnden Charakter hat, solange man nicht weiß, was er für die Spätergekommenen sagen wird.

(3) Es handelt sich hier um ein klinisches Pflichtprak­

tikum. Dabei existieren Anwesenheitspflicht und auch eine gewisse Verpflichtung zur Pünktlichkeit. Man könnte daher erwarten, daß der Dozent das Zuspät­

kommen einiger Studenten sanktioniert. Dies tut er aber nicht. Er definiert das Ereignis nicht einmal als Zuspätkommen, sondern spricht von „später“ Ge­

kommenen. Das kann bedeuten, daß er entweder diese Verpflichtung der Studenten nicht ernst nimmt, oder daß er die Verletzung dieser Verhaltensregel nicht für sanktionswürdig hält. Das Späterkommen wird hier also weder übergangen - wie in der klassischen uni­

versitären Vorlesung ~ noch kritisch thematisiert - wie in der Schule - , sondern der Vortrag wird ohne Umschweife, sogar mitten im Satz, unterbrochen.

Die Sache hat Vorrang: möglichst viele sollen diese Information erhalten. Alle anderen Aspekte, etwa Ta­

del des Zuspätkommens oder Begründung der Wieder­

holung, Entschuldigung für diejenigen, die pünktlich gekommen sind und den Sachverhalt schon kennen, sind überflüssig.

Im Gegensatz zur Schule, wo die Erziehungsverpflich­

tung des Lehrers noch ernst genommen wird und er deshalb die Schüler sanktioniert, wenn sie zu spät kommen, sie also noch wie Kinder behandelt, werden die Studenten hier wie Erwachsene behandelt, die selbst entscheiden können, in welchem Ausmaß Ver­

haltensregeln beachtet werden müssen. Es zeigt sich hier, daß trotz starker „Verschulungs“ tendenzen der Universität, gerade im Medizinstudium, dennoch Prin­

zipien der alten Universität, hier das Prinzip, Studen­

ten als autonome Individuen, als Erwachsene, die selbst bestimmen können, zu betrachten, in der Mik­

rostruktur der universitären Interaktion zwischen Professor und Studenten sich durchsetzen können.

Es bietet sich an, dies im Zusammenhang mit der Zeitökonom ie des Klinikbetriebes, einschließlich des klinischen Studiums, zu verstehen: Alles steht hier unter Zeitdruck. Die lehrenden Ärzte sind vor und nach der Vorlesung meist mit ihren Patienten, mit Forschungs- oder Verwaltungsaufgaben beschäftigt.

Das Studium selbst ist ohne größere zeitliche Spiel­

räume organisiert, damit stehen auch die Studenten unter ständigem Zeitdruck. Man unterstellt den Spä­

terkommenden im konkreten Fall nicht, daß sie ge- trödelt hätten oder absichtlich später kommen woll­

ten, sondern ungeprüft gilt, daß sie wahrscheinlich gerade in einem voraufgegangenen Kurs ein paar Minuten länger bleiben mußten oder daß sie in aller Eile schnell noch einige Häppchen zu sich genommen haben, um nicht während der folgenden drei Stunden vor Hunger umzufallen.

(4) Statt pädagogisierend das Späterkommen einiger Studenten aufzugreifen, gibt der Dozent der Sache Vorrang und unterbricht sich selber im Vortrag, um eine wichtige Information ohne Umschweife nachzu­

tragen. Man kann dies vorsichtig als einen ersten Hinweis auf die Struktur sozialisatorischer Interak­

tion im Medizinstudium verstehen: Es geht nicht um

sanktionierende Pädagogik, aber auch nicht um unver­

bindliche universitäre Bildung, sondern um (professio­

nelle) Verantwortlichkeit für die Sache.

(0) In (102) hat der Dozent für die, die später gekom­

men sind, etwas angekündigt. Nun könnte er diese Änderung seiner Redeorganisation begründen, für die bereits Anwesenden legitimieren. Er könnte fragen, ob noch mehr Studenten erwartet werden. Zweifellos der unproblematischste Fall wäre aber, wenn er jetzt einfach seinen angekündigten Nachtrag direkt bringt.

Er könnte auch jetzt noch das Zuspätkommen tadeln.

103 Ich hab mir da auch diesen Fraktur- und Luxationen-Gegenstandskatalog mir zugelegt und durchgelesen

(1) Der Dozent teilt den Studenten mit, worauf er sich bezieht. Er nennt den Namen, die Bezeichnung des Buches, das er mit sich führt und aus dem er eben vorzulesen (oder zu paraphrasieren) begonnen hatte.

Weiterhin teilt er den Studenten auch mit, daß er sich diesen Katalog zugelegt hat, daß er ihn sich

„auch“ zugelegt hat und schließlich, daß er sich diesen Katalog durchgelesen hat. Er teilt den Studenten nicht nur mit, auf welchen Text er sich bezieht, sondern gleichzeitig gibt er auch Hinweise auf die Art, wie er sich das Buch besorgt hat, und die Art, wie er sich über dessen Inhalt informiert hat. Schließlich deutet er noch an, daß es noch andere geben muß, die diesen Text ebenfalls („auch“ ) besitzen oder zumindest schon mal in Händen hatten.

(2) Der zweimalige Gebrauch des Personalpronomens

„mir“ scheint für unseren Zusammenhang keine beson­

dere Bedeutung zu besitzen, vermutlich hat er durch den langen Einschub zwischen „mir“ und „zugelegt“

einfach vergessen, daß er bereits „mir“ gesagt hatte.

Aufschlußreich ist die Ausdrucksweise „zugelegt und durchgelesen“ , die in der Regel eher von einem Stu­

denten als von einem Professor verwendet würde, die man normalerweise auch eher in einem alltäglichen Kontext erwarten würde, wo es um weniger ernst­

hafte Dinge als Wissenschaft und Medizin geht. Der Dozent spricht nicht von einer Anschaffung oder ei­

nem Kauf, und er sagt auch nicht „studiert“ oder

„durchgearbeitet“ , sondern eben „zugelegt und durch­

gelesen“ . Beide Formulierungen schließen schon mit großer Wahrscheinlichkeit aus, daß es sich bei dem in Rede stehenden Text um ein Lehrbuch oder ein wis­

senschaftliches Standardwerk handelt.

Wer sich etwas „zugelegt“ hat, hat sich zunächst etwas gekauft oder besorgt, was nicht sofort konsumierbar ist, sondern aufbewahrt werden kann. Man kann da­

mit auch ein saloppes Verhältnis zu dem erworbenen Gegenstand ausdriicken; oder man ironisiert diese An­

schaffung, bringt eine gewisse Distanz zu dieser Hand­

lung zum Ausdruck, z.B. bei einem Kauf, den der Hörer mißbilligen könnte (etwa wenn ein „linker“

Neureicher seinen Freunden mit teilt, daß er sich eine Aktie zugelcgt hat). Auch der chauvinistische Mann könnte sagen: „Ich hab mir *ne neue Freundin zugelegt.“

Auffallend ist, daß „sich zulegen“ eine ähnliche Hand­

lung ausdrückt wie „sich anschaffen“ , daß es für erste-

(10)

Günter Burkart: Zur Mikroanalyse universitärer Sozialisation im Medizinstudium 33 res aber kein Substantiv gibt. Vermutlich hängt das

damit zusammen, daß eine Anschaffung doch einen größeren oder dauerhafteren Wert besitzt als etwas, was man sich zugelegt hat.

Der Gebrauch des Verbs „durchlesen“ zeigt zunächst einmal an, daß der Dozent nicht der Autor dieses Tex­

tes sein kann. Wichtiger ist aber der Hinweis, daß sich dadurch ein wichtiges Charakteristikum des Textes, um den es sich handelt, erschließt: in der Regel han­

delt es sich bei Texten, die man „durchliest“ , um sol­

che Texte, deren Inhalt dem Leser entweder nicht sehr bedeutsam erscheint oder deren Inhalt dem Le­

ser bereits im wesentlichen bekannt ist. So wird z.B.

ein Chirurgie-Professor ein neu erschienenes Lehrbuch flüchtig durchlesen, nicht um den kognitiven Inhalt dieses Buches sich anzueignen - den kennt er bereits, wenn er auf dem laufenden ist sondern um sich über die Darstellungsform zu informieren oder um sich zu vergewissern, ob da nicht vielleicht doch neue In­

formationen enthalten sind. „Durchlesen“ sagt man z.B. auch im Zusammenhang mit technischen Ge­

brauchsanweisungen, mit Zeitungsartikeln oder mit Flugblättern. Einen sehr wichtigen Text, der Grundlage einer universitären Lehrveranstaltung sein soll, wird man jedoch kaum nur „durchlesen“ .

Noch zwei weitere sprachliche Besonderheiten sind interpretationsbedürftig. Da ist zunächst der deiktische Hinweis „Ich hab mir . . . diesen . . . Katalog zugelegt . . . Vier Bedeutungsmöglichkeiten sind zu erwähnen:

Im Zusammenhang mit einer sichtbaren Geste (Finger­

zeig) wäre die Bedeutung dieses deiktischen Elements klar und unzweideutig: „diesen“ Katalog, auf den ich hier mit dem Finger deute.

Die zweite Möglichkeit ist mit dem linguistischen Ter­

minus anaphorische Deixis bezeichnet; es handelte sich dann um einen Verweis auf den Redekontext:

„Diesen Katalog, von dem ich vorhin gesprochen habe.“

Drittens könnte gemeint sein, daß eine gemeinsame Vorinformiertheit unterstellt werden kann: „Diesen Katalog, Sie wissen ja . . . “ .

Die vierte Möglichkeit ist eine gewisse, möglicherweise kritische Distanzierung, zumindest der Hinweis auf etwas, dessen Beurteilung noch aussteht, etwas, von dem man zwar schon gehört hat, aber noch nicht recht weiß, was man davon halten soll. Eine Interpretation, die diese Tendenz in aller Schärfe hervorheben soll, müßte dann lauten: „diesen“ indiziert eine abschätzige Beurteilung, eine verächtliche Geringschätzung des Be­

zugsobjektes (w ie z.B. im Falle der Äußerung eines Kleinbürgers: „Da hab ich doch gestern diesen Cohn- Bendit gesehen . . . “).

Die zweite sprachliche Auffälligkeit ist die Verwen­

dung des Paxtikels „da“. Während dieses Wort in der geschriebenen Sprache meist lokaldeiktische Bedeu­

tung hat (Synonyme: „hier“ oder „dort“), handelt es sich in der gesprochenen Sprache oft um ein schein­

bar bedeutungsloses Füllwort bzw. um ein technisches Mittel der Redeorganisation. In diesem Kontext kann das „da“ Verstärkerfunktion haben, und zwar in einem diffusen Sinn: es kann als Adverb aufgefaßt werden so­

wohl in Bezug au f das „auch“ , auf das „diesen“ , auf

das „mir“ oder auf das „zugelegt“ . Es kann auch in ei­

nem diffusen Sinn lokal- oder temporaldeiktisch ge­

meint sein, wie in den Formulierungen: „Da hab ich aber etwas gemacht“ oder „Dieses Ding da“ oder

„Und da hab ich erst gemerkt . . . “ .

Besonders bei der Formulierung „Dieses Ding da“

zeigen sich deutlich drei Aspekte:

Erstens muß das Bezugsobjekt sichtbar oder zumindest potentiell sichtbar sein; zweitens kann der Bekannt­

heitsaspekt betont werden: Sie wissen, wovon ich spreche. Und drittens kann, in Analogie zur schärfsten Interpretation des „diesen“ - und hier im direkten Zusammenhang mit „dieses“ (Ding da) - auch hier wieder die Bedeutungsmöglichkeit der abwertenden Distanzierung nicht ausgeschlossen werden. Deutlich ist aber auch die Analogie des hier zu interpretieren­

den „da“ mit dem „da“ in „Ich habe da kürzlich jemand getroffen . . . “ , wo es als vager Hinweis auf

etwas nicht näher Bestimmtes verstanden werden muß. Es lenkt die Aufmerksamkeit des Hörers auf den präpositionalen Gehalt der Äußerung, es kann die Neugier des Hörers ansprechen11.

(3) Die Gegenstandskataloge sind seit ihrer Einführung durch die letzte größere Reform der ärztlichen Aus­

bildung (1970) eines der bedeutsamsten Steuerungs­

instrumente für die studentische Studienorganisation und Prüfungsvorbereitung. In ihnen ist in detaillierter Form genau festgelegt, was die Studenten zu wissen haben, wenn sie die Hürden der Prüfungen nehmen wollen. „Der Student soll wissen . . . “ ist die stereo­

type Formulierung als Einleitung jedes Unterabschnit­

tes. Verantwortlich für die Zusammenstellung der Ge­

genstandskataloge (die in ihrer Gesamtheit ein hoch­

standardisiertes Curriculum bilden) ist ein zentrales Institut in Mainz, das auch die Durchführung und die Auswertung der Prüfungen bundeseinheitlich verwaltet.

Diesen Katalogen kommt also eine zentrale Bedeutung für die Prüfungsvorbereitung der Studenten zu. Obwohl diese Kataloge also weder für den Dozenten bestimmt sind noch geeignet sind, ihm neue Informationen zu vermitteln, nimmt er zu Beginn seiner Vorlesung Bezug darauf. Er erwähnt sogar, daß er sich diesen Katalog auch zugelegt habe, und er unterbricht sogar seine Rede, um gerade diese Mitteilung für die später Ge­

kommenen zu wiederholen.

An den Gegcnstandskatalogen als Steuerungsinstru­

ment für die Studienorganisation der Studenten kom ­ men die Dozenten nicht vorbei, auch wenn sie selbst nicht als Prüfer auftreten. Aber sie müssen darauf ach­

ten, daß die Diskrepanz zwischen dem Gegenstands­

katalog und ihrem eigenen „Katalog“ nicht zu groß wird. Sie müssen ihre eigene Lehrveranstaltung zwar nicht am Gegenstandskatalog ausrichten; aber sie müs­

sen ihn zumindest als einen Orientierungspunkt be­

achten. Insofern setzt dieser Dozent also bei seiner

11 Am Rande sei einmal angemerkt, daß man hier sieht, wie wenig die offizielle Grammatik in der Lage ist, gesprochene Sprache begrifflich zu erfassen und die Funktion von Wörtern für Satzbedeutungen zu er­

klären.

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