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Von der Hintergehbarkeit der Sprache: Kognitive Unterlagen der Sprache

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Kognitive Unterlagen der Sprache Anhang:

Zwei Vorträge von Roman Jakobson suhrkamp taschenbuch

wissenschaft

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Elmar Holenstein, geb. 1937 in St. Gallen, ist Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Von seinen Arbeiten liegen im Suhrkamp Verlag vor: Roman Jakobsons phänomenologischer Strukturalismus, 1975 ( = stw 116); Linguistik, Semiotik, Hermeneutik. Plädoyers für eine strukturale Phänomenologie, 1976. Herausgegeben und eingeleitet hat er:

Roman J akobson, Hölderlin. Klee. Brecht. Zur Wortkunst dreier Gedichte, 1976 ( = stw 162); Roman Jakobson, Poetik. Ausgewählte Aufsätze, 1921-1971 (zusammen mit Tarcisius Schelbert), 1979 (

=

stw 262).

»Die folgenden vier Aufsätze sind ein Versuch, das Verhältnis von Denken und Sprache von den Perspektiven und Problemen der struktura- len Linguistik und der kognitiven Psychologie her anzugehen. Für den ersten und den vierten Beitrag wurden dabei über weite Strecken, jedoch keineswegs ausschließlich, als negativer Leitfaden zwei zur Zeit in Deutschland einflußreiche Philosopheme gewählt, die These der Erlanger Schule von der Unhintergehbarkeit der Sprache und Ernst Tugendhats Kritik der Introspektion.

Als Anhang sind den vier Aufsätzen zwei Vortragstexte Roman Jakob- sons beigefügt. Ich kann mir keine bessere Einführung in den philosophi- schen Tenor dieser Aufsätze vorstellen als sein Vortrag über Einsteins Verhältnis zur Sprache. Der zweite Vortrag mit der anschließenden Diskussion war eine Hauptquelle für die These der Hintergehbarkeit der prädikativen Satzstruktur auf vorprädikative sprachliche Äußerungen.«

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Elmar Holenstein Von der Hintergehbarkeit

der Sprache

Kognitive Unterlagen der Sprache

Anhang:

Zwei Vorträge von Roman Jakobson

Suhrkamp

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suhrkamp taschenbuch wissenschaft 3 1 6 Erste Auflage 1980

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1980 Suhrkamp Taschenbuch Verlag Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des

öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile

Satz: Thiele & Schwarz, Kassel Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden

Printed in Germany Umschlag nach Enrwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staude

CIP-Kuraitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Holenstein, Elmar: [Sammlung]

Von der Hintergehbarkeit der Sprache:

kognitive Unterlagen d. Sprache / Elmar Holenstein.

Anh.: 2 Vorträge von Roman Jakobson. -

1. Aufl. -Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980.

(Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; J 16) ISBN J-5' 8--07916-4

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Inhalt

Vorwort 7

Von der Hintergehbarkeit der Sprache (und der Erlanger Schule) 10

I . Die Hintergehbarkeit des Sprachvermögens I 5

l. Die Hintergehbarkeit der Prädikation 26

3. Die Unterscheidung zwischen konstruktivistischer und phänomenologischer sowie zwischen pragmatischer und kognitiver Sprachtheorie 3 9

Kognitive Universalien - Determinanten des Verstehens 5 3

Prototypische Erfahrung 7 1

Introspektion 84

I . Präliminarien 8 5

l. Die Metaphern der Innenschau 109 3. Die Rede von der ,inneren Rede, I l l

4. Die Ausweisbarkeit von Introspektionen I 32 5. Die Brauchbarkeit von Introspektionen I 4 r 6. Offene Probleme r 50

Anhang: Zwei Vorträge von Roman Jakobson Einstein und die Wissenschaft der Sprache r 5 9 Der grammatische Aufbau der Kindersprache I 7 I

Anmerkungen r 87 Bibliographie r 97 Quellennachweis 106

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Vorwort

Es ist schwer vorstellbar, wie die philosophischen Implikationen · der kognitiven Wende, von der die Psychologie und die eng mit ihr verbundenen linguistischen Disziplinen der Ethno-, Neuro- und Psycholinguistik seit gut zwei Jahrzehnten geprägt sind, von der gegenwärtig dominierenden philosophischen Strömung, der sprachanalytischen Philosophie, in sachgerechter Weise aufgear- beitet werden könnten. Dazu ist die sprachanalytische Philoso- phie in den meisten ihrer Schulen noch immer zu sehr in behavioristischen Modellen und in restriktiven ontologischen Idealen befangen. Eine revidierte phänomenologische Philoso- phie erhebt den Anspruch, für die neuen Perspektiven und Probleme, die von den genannten Wissenschaften an die Philoso- phie herangetragen werden, und die sicherlich bald auch, die Weltanschauung prägend, ins allgemeine Bewußtsein treten wer- den, besser gerüstet zu sein.

Für das Ungenügen der sprachanalytischen Philosophie, wie sie zur Zeit betrieben wird, dürften auch zwei äußere Gründe mit- bestimmend sein, ihre disziplinäre und ihre für Außenstehende fast unglaubliche ethnozentrische Beschränktheit. Der Ethnozentris- mus, sicherlich ein übel, dem man unvermerkt und oft aus faktischen Gründen fast unvermeidlich anheimfällt, ist in der Philo- sophie ausgeprägter als in den Nachbardisziplinen der Linguistik und Psychologie. In der sprachanalytischen Philosophie macht er sich gleich auf zwei Ebenen bemerkbar, nicht allein auf der Ebene der konsultierten Literatur, die fast ausschließlich auf den nordat- lantischen Bereich beschränkt ist, sondern auch auf der Ebene der sprachlichen Äußerungen, die als Basis der philosophischen Analyse dienen. Sie entstammen durchweg den normalen gegen- wärtigen westeuropäischen Erwachsenensprachen. Man vermißt jegliche über das Anekdotische hinausgehende Kontrolle der Ergebnisse an nichtindoeuropäischen, sprachdiachronischen, kin- dersprachlichen und sprachpathologischen Daten.

Für die Begegnung mit der kognitiven Psychologie erweisen sich Modelle russischer Denker, die den Marxismus, dem sie ver- pflichtet waren, in kreativer Weise mit älterem russischen Ideen- gut zu verbinden wußten, als besonders hilfreich und der

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phänomenologischen Ausgangsbasis der vorliegenden Aufsätze gegenüber teilweise weiter fortgeschritten. Gemeint ist die bekannte Bewußtseinskonzeption von Vygotskij und seiner Schule und die etwas weniger bekannte von Bachtin und Volosi- nov. Das Buch von Volosinov alias Bachtin - die Autorschaft ist umstritten - Marxismus und Sprachphilosophie (1929), ein heute für viele wenig verlockender Titel, gehört zu den großen sprach- theoretischen Werken der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts.

Nach einer etwas essayistischen Einführung in die Sprachtheorie im allgemeinen und dem Entwurf einer Semiotik des Bewußtseins folgt als paradigmatisches Analysebeispiel nicht etwa eine Inter- pretation des prädikativen Satzes, der ein Angelhaken so vieler sprachphilosophischer Vereinfachungen ist, sondern mit sicherem Wissen um ihre bewußtseinstheoretische Relevanz und der Textlinguistik um vierzig Jahre voraus, eine Analyse - der indirekten Rede.

Die folgenden vier Aufsätze sind ein Versuch, das Verhältnis von Denken und Sprache von den Perspektiven und Problemen der strukturalen Linguistik und der kognitiven Psychologie her anzugehen. Für den ersten und den vierten Beitrag wurden dabei über weite Strecken, jedoch keineswegs ausschließlich, als negati- ver Leitfaden zwei zur Zeit in Deutschland einflußreiche Philoso- pheme gewählt, die These der Erlanger Schule von der Unhinter- gehbarkeit der Sprache und Ernst Tugendhats Kritik der Intro- spektion.

Als Anhang sind den vier Aufsätzen zwei Vortragstexte Roman Jakobsons beigefügt. Ich kann mir keine bessere Einführung in den p_hilosophischen Tenor dieser Aufsätze vorstellen als sein Vortrag über Einsteins Verhältnis zur Sprache. Der zweite Vortrag mit der anschließenden Diskussion war eine Hauptquelle für die These der Hintergehbarkeit der prädikativen Satzstruktur auf vorprädikative sprachliche Außerungen.

Roman Jakobson habe ich auch für manche zusätzliche Hin- weise sachlicher und literarischer Art zu den Themen dieses Buches zu danken, insbesondere zum Stellenwert der Prädikation im (genetischen und systematischen) Aufbau der Sprache und zur spezifischen Funktion und Struktur der inneren Rede.

Die Introspektion ist eines der verpöntesten Phänomene in der gegenwärtigen Philosophie. Umso ermutigender und hilfreicher war es, bei Kollegen in der Psychologie und in der Linguistik an 8

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der Ruhr-Universität, vorab bei Michael Bock, Eckart Scheerer (jetzt in Oldenburg) und Helmut Schnelle, auf eine ähnlich gerichtete Überzeugung der Dringlichkeit und Nützlichkeit ihrer Neueinschätzung zu stoßen.

Dirk Koppelberg habe ich für den freundlichen Eifer zu danken, mit dem er die Erlanger Konzeption von der Unhintergehbarkeit der Sprache meinen Einwänden gegenüber nicht nur stark, sondern gelegentlich auch mir überhaupt erst verständlich zu machen suchte. Möglicherweise verbliebene Mißinterpretationen und für Insider der Schule bedenkliche Akzentuierungen sind allein mir anzulasten, speziell vielleicht meinem in der Philoso- phie zwar beliebten, jedoch sicherlich nicht unproblematischen Vorgehen, eine fremde Theorie als ,Gegentheorie, aufzubauen, um in Abhebung von ihr die eigene Konzeption kontrastiv zu profilieren, vielleicht aber auch bloß meinem Anliegen, der künstlichen »Orthosprache« dieser Schule die ihr zu fremde Perspektive der »Orthogenesis« der natürlichen Sprachen bzw.

die ihr kaum vertraute empirische Forschung in Linguistik und Psychologie zu eben diesem Thema entgegenzustellen.

Die vier Aufsätze, obwohl 1978 und 1979 geschrieben, gehen, zusammen mit zwei Aufsätzen, die in Linguistik, Semiotik, Hermeneutik (1976) publiziert worden sind, auf Studien zurück, die mir 1974 durch die Verleihung der »10. Bourse Burrus«

durch den Nationalen Forschungsrat des Schweizerischen Natio- nalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung ermöglicht worden sind. Ihm und der Stifterin der Bourse, der Firma Burrus in Boncourt, sei an dieser Stelle nochmals für die großzügige Förderung gedankt.

Bochum, am I. Oktober r979 Elmar Holenstein

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Von der Hintergehbarkeit der Sprache (und der Erlanger Schule)

Für die These von der Priorität der Sprache gegenüber dem Denken ist in der deutschen Philosophie das Schlagwort von der Nichthintergehbarkeit der Sprache geprägt worden. Danach gibt es kein kognitives Bewußtsein, das nicht sprachlich strukturiert ist.

Der auf Humboldt und Weisgerber zurückgreifenden Ansicht, daß die jeweilige Muttersprache als ein Apriori der Weltanschau- ung fungiert, hält die Erlanger Schule entgegen, daß nur das Sprachvermögen als solches, nicht die einzelne Umgangssprache unhintergehbar ist. Das Sprachvermögen wird dabei als intersub- jektiv verläßliches Unterscheidungsvermögen und als Fähigkeit zur Prädikation expliziert. Wider die Erlanger Konzeption wird auf perzeptiven Unterscheidungen insistiert, die sich im Verhalten des Wahrnehmenden am zuverlässigsten äußern und die nach- weislich sprachlichen Erfassungen der Erfahrungswelt zugrunde- liegen, sowie auf der Priorität von nichtprädikativen sprachlichen Außerungen (Vokativ, Imperativ, Modifikation,) gegenüber eigentlich prädikativen Außerungen.

Zum Verhältnis von Sprache und Erkenntnis wird in Auswer- tung von vergessengegangenen Ansätzen bei Locke und Leibniz eine Kompromiß-These vorgelegt. Relativ einfache Phänomene lassen sich sprachlos erfassen und gliedern, komplexere ,Gedan- kengänge, sind sprachlich (semiotisch) vermittelt und entspre- chend (von einem Grundstock universaler Gesetzmäßigkeiten abgesehen) auch je nach Sprachsystem anders determiniert.

Bezüglich der vorsprachlichen Unterscheidungen lassen sich eine pragmatische Position, nach der jede Unterscheidung kontextbe- dingt ist, und eine eigentlich kognitive Position, nach der aus strukturalen Gründen nicht alle Unterscheidungsmöglichkeiten gleichwertig sind, auseinanderhalten.

Orientieren sich konstruktivistisch-logische Theorien der Sprache primär am Kriterium der Ein/ achheit, so rekonstruktivistisch- phänomenologische Theorien am Kriterium der psychologischen Adäquatheit (gegenüber dem tatsächlichen Kode von Sprecher und Hörer).

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Seit gut zwei Jahrzehnten spricht man in der Philosophie von einer »linguistischen Wende«. Die Wende basiert auf der These, daß die Sprache nicht mehr nur als ein Gegenstand der Philoso- phie neben anderen, etwa der Natur, der Geschichte, der Kunst, der Mathematik, anzusehen ist, mit denen sich sogenannte Bindestrich-Philosophien, philosophische Disziplinen zweiten Ranges, befassen mögen, sondern als eine Bedingung von Erkenntnis überhaupt als erster Gegenstand einer prima philoso~

phia. Im deutschen Raum hat sich für diese transzendentale Rolle der Sprache ein angeblich auf Nietzsche zurückgehendes Wort durchgesetzt, für das man in anderen Sprachen Mühe hat, ein konzises Äquivalent zu finden. Es geht die Rede von der Nichthintergehbarkeit der Sprache.

Der Sprache widerfährt damit eine Ehre, welche die meisten anderen Themen, von denen sie jetzt abgehoben wird, bereits hinter sich haben oder in diversen Schulen seit langem genießen:

Leben, Geschichte, Kunst, Wissenschaft usw. Allein schon diese Feststellung stimmt skeptisch. In der Tat kontrastiert die Radika- lität, mit der Konsequenzen aus der These der Nichthintergeh- barkeit der Sprache gezogen werden, in bedenklicher Weise mit der mangelnden Radikalität bei ihrer Begründung.

Am weitesten geht Karl-Otto Apel in seiner nunmehr r 5 Jahre zurückliegenden Schrift Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico (1963). Die Sprache, die nicht hintergehbar und entsprechend für unsere Welterkenntnis konsti- tutiv sein soll, ist unsere jeweilige Muttersprache. Die Kategorien des Denkens verlieren damit ihre Universalität. Sie sind nicht »ein für allemal für alle Menschen fixiert«. Sie wechseln von einer

»geschichtlichen Sprachgemeinschaft« zur andern (r963: 26).

Um die erfreuliche Tatsache zu erklären, daß Japaner Newtons Physik und Descartes' Philosophie sehr wohl verstehen und produktiv damit arbeiten, behauptet Apel, daß sie eben zuvor die

»Muttersprache des abendländischen Geistes«, die als Metaspra- che der modernen Physik und Metaphysik fungiert, übernommen hätten. Eine solche Behauptung weist gleich mehrere Schlaglö- cher auf.

(r.) Es fehlt die Reflexion auf die Möglichkeit, eine andere Umgangssprache als die der Kultur, in die man hineingeboren worden ist, entweder unmittelbar zu erwerben, wenn man als Kind in eine andere Sprachgemeinschaft verpflanzt wird, oder

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mittelbar, anhand von Übersetzungen und Umschreibungen der fremden Sprache in der eigenen Sprache. Dem Spracherwerb voraus Legen offenbar neurologische und kognitive Strukturen, die, zumindest in einem gewissen Stadium der Entwicklung, von einer Beschaffenheit sind, die es erlauben, jedwede natürliche Sprache sich voll anzueignen. Bezüglich der wechselseitigen übersetzbarkeit der Sprachen ist zu fragen, inwieweit sie durch eventuelle Universalien dieser Sprachen, wenn nicht ermöglicht, so zumindest erleichtert wird.

(2.) Unreflektiert bleibt auch die Frage, inwieweit es nicht gleichfalls universale Aspekte der Umgangssprache sind, der diese ihren Erfolg als letzte Metasprache der formalisierten Wissen- schaftssprachen verdankt. Bemerkenswert ist jedenfalls eine sich anbahnende Verschiebung in bezug auf das HegeLanische Postu- lat eines Parallelismus zwischen dem »System der Philosophie«

und der »Geschichte der Philosophie«. Es scheint, daß sich der systematische Aufbau eines Wissensgebietes nicht so sehr in der Wissenschaftsgeschichte wiederspiegelt, sondern eher in vorwis- senschaftlichen Phasen der Kulturentwicklung einerseits und in der ontogenetischen Entwicklung der Intellige= des Kindes andererseits, für die ihrerseits universalistische Ansprüche gel- tend gemacht werden (vgl. Holenstein, r978).

(3.) Reflexionsbedürftig ist in diesem Zusammenhang des weite- ren die Vielfalt, um nicht zu sagen die Uneinheitlichkeit jeder natürlichen Sprache. Jeder sprachliche Kode zerfällt in eine Reihe von Subkodes, die je nach Adressat (,Soziolekt,) und Gegenstand der Rede (,Fachsprache,) zum Zuge kommen. Einzelne Fachspra- chen können einen starken fremdsprachigen Einschlag aufweisen.

Auch Apel ( r 96 3 : 4 r) rekurriert für seine These »des mutter- sprachlichen Sinnaprioris« von abendländischer Philosophie und Wissenschaft auf »die translatio der zuerst von den Griechen [ ... ] ausgeprägten Begriffe [ ... ] in den neuzeitlichen National- sprachen Europas«. Zum natürlichen Sprachvermögen des Men- schen gehört nicht nur das leichte ,Switchen, von einem sprachli- chen Subkode zum andern, sondern auch die selbstverständliche Ergänzungsmöglichkeit der Muttersprache im engeren Sinn durch Fremdsprachen, häufig durch eine lingua franca, die den Zugang zu einer größeren Welt erleichtert.

Bedenken, die sich mit der an dritter Stelle vorgetragenen Argumentation berühren, veranlaßten die Erlanger Schule die

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Nichthintergehbarkeitsbehauptung von einem umgangssprach- lich vorgegebenen Sprachkorpus auf das Sprachvermögen als solches zurückzuschieben: » U nhintergehbar ist Sprache nur als Sprachvermögen [ ... ]« (Mittelstraß, r 97 4: 200; vgl. Lorenz &

Mittelstraß, r 967: 204). Diese korrigierende These wird durch eine präzisierende These ergänzt, die typisch ist für die meisten an der Logik orientierten Sprachtheorien: »Als eine fundamentale sprachliche Handlung ist Prädikation unhintergehbar« (Mittel- straß, r 97 4: r 57).1 Weder die korrigierende noch die präzisie- rende These ist stichfest.

Die folgenden Ausführungen richten sich primär gegen den heute weitverbreiteten Sprachdeterminismus, der in deutschen Landen mit den Namen Humboldt und Weisgerber, im angelsächsischen Bereich mit den Namen Sapir und Whorf verbunden ist, nach dem im Verhältnis von Sprache und Denken die Priorität der Sprache zukommt. Die Weltan- schauung, nicht nur die geistige, auch die sinnliche, die Welterfahrung, ist danach von der Sprache abhängig. Die griffigen Formulierungen der Erlanger Schule, was die meist in Vagheiten steckengelassene These von der Nichthintergehbarkeit der Sprache betrifft, sind jedoch eine Einla- dung, sie als Leitfaden der Kritik zu nehmen, zumal sich im Fortgang der Argumentation eine harte Kritik an dem Bild einer »wildgewachsenen«

natürlichen Sprache aufdrängt, das die Erlanger mit den meisten von der Logik herkommenden Sprachtheoretikern teilen. Dies - und weil ein Titel nicht nur informieren, sondern auch etwas provozieren soll - ist der Grund, weshalb die überschrift dieses Aufsatzes mit dem Klammerzusatz

»und der Erlanger Schule« versehen worden ist.

Allerdings ist gleich anzufügen, daß der Erlanger Standpunkt zum Determinationsverhältnis von Sprache und Denken aus ihren Texten gar nicht so klar hervorgeht, wie man das gerade bei ihren sonst so sorgfältigen Argumentationen erwarten würde. Es finden sich Stellen, nach denen Gegenstandserkenntnis und Sprachverständnis Hand in Hand gehen: »Ich lerne sie (Gegenstände, z. B. Musikinstrumente wie Fagott und Klarinette] kennen, indem ich sie unterscheiden lerne, und zwar zugleich die Wörter und die Instrumente selbst« (Kamlah & Lorenzen, r967: 30).

Andere Stellen scheinen nahezulegen, daß nach ihrer Auffassung nur intersubjektiv verläßliche Unterscheidungen notwendigerweise sprachli- cher Natur sind. In diesem Fall würde nicht das Vorhandensein, sondern nur die intersubjektive Verläßlichkeit von vorsprachlichen Unterschei- dungen in Abrede gestellt. Das folgende Zitat läßt beide Interpretationen zu, je nachdem, ob man den Satz zwischen den Gedankenstrichen auf den näheren oder weiteren Kontext bezieht. Wie immer es sei, beide Varianten scheinen mir falsch zu sein: »Die für die Umgangssprache offenkundige,

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für deren gebrauchssprachliche Erweiterungen stets erst nachzuweisende Verläßlichkeit von Unterscheidungen rührt nicht daher, daß wir schon etwas über die Welt wissen, bevor wir etwas über unsere Sprache wissen - wer so redet, hat noch einmal die Nymphen und Metaphysiker auf seiner Seite-, sondern daher, daß sie als die Folge einer gemeinsamen Kontrolle gemeinsamen Sprachgebrauchs begriffen werden kann« (Mittelstraß, 1974: 202).

Ein dritter Typ von Aussagen befaßt sich ebenfalls expressis verbis nur mit der Qualität, diesmal der Begründetheit, nicht mit der Existenz von vorsprachlichen Unterscheidungen: »D. h. die Behauptung, daß die Welt auch unabhängig von unseren sprachlichen Unterscheidungen, also >an sich,, durch die ,Wiederkehr des Gleichen< bestimmt sei, läßt sich nicht begründen. Der Versuch ihrer Begründung würde sofort wieder von sprachlichen Unterscheidungen Gebrauch machen und sich insofern in einem Zirkel bewegen ... « (a.a.O. 156). Hier wird übersehen, daß eine wahrnehmungsmäßige Unterscheidung nicht nur durch ein entsprechen- des verbales Verhalten, sondern auch - und genetisch meist zuvor -durch ein entsprechendes motorisches Verhalten intersubjektiv überprüft wird.

Ein vierter Typ von Behauptungen insinuiert, daß vorsprachliche Unterscheidungen unbewußt bleiben und erst mit der sprachlichen Thematisierung bewußt werden: »Die allen Lebewesen eigene Fähigkeit, ,unbewußt< im Verschiedenen das Gleiche wiederzuerkennen[!], wird im Menschen gesteigert zur Fähigkeit, im Gebrauch von Prädikaten verschie- dene Gegenstände als dasselbe zusammenzufassen und als solches wie- derum von anderem zu unterscheiden« (Karnlah & Lorenzen, 1967: 51 f.). Handlungen und durch Handlungen dargestellte Unterscheidungen

»lassen sich lernen, ohne sich gleich sprachlich bewußt zu machen«

(Lorenz, 1970: 174).

In neueren Texten (Gerhardus et al., I 979: 4) schließlich werden die beiden terminologisch getrennt: » . . . wenn wir anfangen, das, was handlungsmäßig nur auseinandergehalten wurde, auch wortsprachlich zu unterscheiden.«

Mehrmals wird man von tautologischen Beteuerungen verblüfft:» Jedoch erst ihre sprachliche Artikulation erlaubt es, sie [Handlungen] allein durch Wörter, ,rein< sprachliche Handlungen also, zu vertreten« (Lorenz, 1970:

17 4). » Der triviale, fast ein wenig paradox klingende Satz [ nicht mehr?], daß sich ohne (sprachliche) Unterscheidungen über die Weltnichtsprechen läßt, bewahrheitet sich aufs neue« (Mittelstraß, 197 4: 1 57).

Selbst wenn vorsprachliche Unterscheidungen nicht explizit geleugnet werden, so vermißt man in den Erlanger Schriften doch eine Reflexion auf das Ausmaß und die Tragweite von solchen Unterscheidungen, auf ihte mögliche Leitfunktion bei der Einführung und. Auswahl von sprachlichen Unterscheidungen und auf ihre Begründungsfunktion bei deren Rechtfer- tigung.

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Es ist in wissenschaftlichen Diskussionen auch nicht selten so, daß bestimmte Grundannahmen nie ausdrücklich geleugnet werden, und daß doch so vorgegangen, argumentiert und experimentiert wird, als ob sie nicht gemacht würden.

r. Die Hintergehbarkeit des Sprachvermögens Das Sprachvermögen explizieren die Erlanger als ein Unter- scheidungsvermögen. Schon in dieser Explikation kommt der erstrangige Stellenwert, welcher der Sprache zugeschrieben wird, zum Ausdruck. In der neuzeitlichen Philosophie, ausgeprägt bei Locke, war es anders. Die Sprache galt nicht primär als Unter- scheidungs-, sondern als Kombinations- und Fixationsmittel.

Vorgegeben war für Locke als Sensualist und Atomist ein Universum von disparaten Sinnesdaten, denen einfache Ideen zugeordnet wurden. Die Aufgabe und das Verdienst der Sprache bestand darin, irgendwelche nützlichen Kombinationen von solchen einfachen Ideen zu komplexen Ideen zu fixieren und perpetuieren. Ohne ein Wort wie ,Triumph, wären wir kaum in der Lage, die diversen Merkmale dieser Feierlichkeit zusammen- zuhalten.

Um die Erlanger Lösung als dritten Weg und Ausweg aus zwei einander entgegengesetzten unhaltbaren Positionen anpreisen zu können, greift Mittelstraß zu einer beträchtlichen Uminterpreta- tion philosophiegeschichtlich festgelegter Begriffe. Als gegneri- sche Position stehen sich Realismus und Nominalismus gegen- über. Nach der realistischen Position - so Mittelstraß - ist die Welt allen sprachlichen Unterscheidungen voraus ,an sich, voll- ständig gegliedert, nach der »traditionell als nominalistisch bezeichneten Position« ganz und gar ungegliedert.2 Die Nomina- listen waren jedoch bis in die allerjüngste Zeit zu mentalistisch und zu empirisch eingestellt, kurz: zu sehr dem gesunden Menschenverstand ergeben, um an die ihnen von Mittelstraß unterschobene Annahme eines vor der Sprache ungegliederten Universums zu denken. Die Idee der Wirklichkeit als ein ungegliedertes, beliebig segmentierbares Kontinuum ist als geläu- figes Denkschema allerneust~n Datums und im übrigen mehr in geisteswissenschaftlichen und populärphilosophischen Kreisen zu finden als in eigentlich fachphilosophischen.3

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Die historische Sachlage ist vielmehr folgende. Für beide, Realismus und Nominalismus, ist das Universum vor allem sprachlichen Zugriff gegliedert oder gliederbar. Für den Nomina- lismus sind alle Segmente des Universums gleichwertig und folglich auch beliebig kombinierbar. Was und wie kombiniert wird, hängt allein von den jeweiligen Interessen und Nützlich- keitserwägungen ab. Für den Realismus sind nicht alle Segmente gleichwertig und gleicherweise kombinierbar. Die innere Beschaffenheit der Segmente ( die physikalische bei materialen, die logisch-semantische bei idealen) ist maßgebend dafür, was, wie und in welcher Reihenfolge kombiniert wird. Nicht äußere Nützlichkeitserwägungen, sondern Eigenschaften, die den einzel- nen Elementen und den elementaren Beziehungsformen zwischen ihnen inhärieren, sind maßgebend für die tatsächlich realisierten Kombinationen. Es gibt zwischen den einzelnen Phänomenen immanente Kompatibilitäten, Inkompatibilitäten, Affinitäten und Präferenzen.

Nach Mittelstraß (I974: I 56 f., 166 f.) führt jede Aussage über eine vorsprachliche Gliederung der Welt, die als eine verläßliche Unterlage für eine sprachlich formulierte Gliederung dienen könnte, zu Tautologien. Dieser Tautologie-Vorwurf ist zu billig.

Natürlich kann man nicht vorsprachliche Unterscheidungen besprechen und in einer sprachlich formulierten Theorie begrün- den, ohne diese vorsprachlichen Unterscheidungen sprachlich zu fassen. Die Frage ist jedoch: Lassen sich vorsprachliche Gliede- rungen der Welt intersubjektiv nur sprachlich oder auch und primär außersprachlich feststellen? Kann man sich über Unter- schiede, die man sieht, nur sprachlich oder auch außersprachlich - nämlich durch ein unterschiedliches Verhalten - verständigen?

Daß ein Versuchstier einen Gongschlag von einem Trompeten- stoß unterscheidet, entnehmen wir nicht einer tiersprachlichen Mitteilung, sondern aus der unterschiedlichen Reaktion. Hätten die Sprachdeterministen recht, hätten Pavlovs Hunde und Skin- ners Ratten uns Menschen etwas voraus, ein nichtsprachliches Unterscheidungsvermögen. Der Unterschied zwischen Mensch und Tier bestünde nicht darin, wie gemeinhin angenommen wird, daß gewisse Tierarten über ein sinnliches Unterscheidungsvermö- gen in Bereichen verfügen, etwa im infraroten Bereich des Farbsprektrums, die sich unseren menschlichen Sinnen entziehen, sondern vielmehr darin, daß Mensch und Tier über zwei katego-

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rial verschiedene Unterscheidungsvermögen verfügten. Wissen in seiner elementaren Form besteht in einem mentalen (nicht rein physikalischen) Unterscheiden oder Gleichsetzen und Kombinie- ren von Phänomenen: »Knowledge then seems to me to be nothing but the perception of the connexion of and agreement, or disagreement and repugnancy of any of our ideas ... For when we know that white is not black, what do we else but perceive, that these two ideas do not agree?« (Locke, 1690: § 4.1.2.).

Mittelstraß spricht wiederholt von der Notwendigkeit, die Verläßlichkeit sprachlicher Unterscheidungen auszuweisen und sukzessive auszubauen. Die Verläßlichkeit ist »die Folge einer gemeinsamen Kontrolle gemeinsamen Sprachgebrauchs«. »Diese Kontrolle erfolgt über die Korrektur und präzisierende Weiter- führung bereits getroffener Unterscheidungen in (re-)konstrukti- ven sprachlichen Normierungen, [ ... ]« (1974: 202 f.). Die Erlanger setzen mit einer solchen Begründung der Sprache zu hoch an. Diese Art von Rechtfertigung - ,interkonzeptuelle, Konsistenz plus intersubjektiver Konsens in bezug auf diese Konsistenz - gilt primär für höherstufige, komplexe Sprachge- bilde. Am leichtesten läßt sich dies an Ziffernsystemen demon- strieren. Das indisch-arabische Ziffernsystem ist dem römischen überlegen, insofern es einheitlicher und durchsichtige·r aufgebaut ist. Es macht mehr Zusammenhänge zwischen den einzelnen Zahlen konsistenter sichtbar als das römische Ziffernsystem. Man vergleiche die Ziffern für ,vierundvierzig, und ,achtundachzig,:

44 - 8 8 vs. XLIV - LXXXVIII. Einer und Zehner werden im indisch-arabischen System gleich bezeichnet und in identisch bleibender Position angeführt, was nicht nur kognitiv, sondern auch operativ, bei der Ausführung mathematischer Operationen, Vorteile mit sich bringt. Nach extrem nominalistischer Ansicht hätten wir keinen Grund, die Ziffer l 20 für die Zahl, die wir in unserer Sprache als ,hundertzwanzig, bezeichnen zu gebrauchen und nicht für die Zahl ,siebenundsiebzig,. Ein Gegenstand hat mit einem zweiten nicht mehr und nicht weniger gemeinsam wie mit jedem andern. Die Zahl 1 20 wiese danach mit den Zahlen roo und 20 nicht mehr und nicht weniger Ahnlichkeit auf als mit den Zahlen 70 und 7.

Das Kriterium der innersprachlichen Konsistenz, das für den Aufbau einer normierten Sprache so wichtig ist, gilt nur für sog.

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und auseinanderhalten können. Relativ einfache Phänomene vermögen wir dagegen intuitiv, und wenn es sinnliche Phäno- mene sind, perzeptiv zu unterscheiden. Mit einem altehrwürdigen Beispiel: Ein bis fünf/sechs Striche vermögen wir mit bloßem Auge auseinanderzuhalten, 1 5 und 1 6 Striche dagegen nur semiotisch, mit Hilfe eines sprachlichen oder außersprachlichen Zeichensystems.

11 111 1111 11111

111111111111111 l 111111111111111

Figur I

Die radikale These, daß die Sprache als alles durchdringender Determinator von Welterfahrung und Weltanschauung fungiert, ist in Anlehnung an simple Wahrnehmungsparadigmen, wie das eben angeführte, an Lockes analoge Zahlennamenanalyse (1690:

§ 2.16.3.-6.) und an eine wachsende Zahl von psycholinguisti- schen Beobachtungen und Tests zum Spracherwerb durch eine Kompromiß-These abzulösen: Die einfachsten sprachlichen Unterscheidungen werden von vorgängigen perzeptiven und kognitiven Unterscheidungen getragen, während komplexere kognitive Gebilde semiotisch-sprachlich konstituiert und ent- sprechend auch determiniert sind. Die ,Gegebenheitsweise, der Zahl ,neunundneunzig, ist eine andere im indisch-arabischen Ziffernsystem als im römischen. Sie ist nicht wie in diesem auf die Zahl ,hundert< (IC) bezogen, ein ,Bedeutungsunterschied,, den tüchtige Geschäftsleute, die einen Artikel für DM 99.-anbieten, zu nutzen wissen. Mit Leibniz' Kommentar (r 7 6 5 : § 2. 1 6. 5.) zu Locke ist jedoch daran festzuhalten, daß die semiotisch-sprachli- che Konstitution von ,komplexen Ideen, nur dann gangbar ist, wenn sie systematisch erfolgt, d. h. wenn die Konstitution des Zeichensystems selber in seinem Strukturprinzip kognitiv durch- sichtig ist. Wir kämen im Aufbau der natürlichen Zahlenreihe nicht weit, vertauschten wir, wie vorgeführt, Ziffern wie 77 und

1 20, oder führten, so Leibniz' Bedenken, willkürliche Zeichen ein, etwa ,Abrakadabra, für 77, ,Dschungili, für 78 usf.

Hätten die Sprachdeterministen recht, würden Kinder beim 18

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Spracherwerb von sprachlichen Ausdrücken ausgehen, die sie aus dem Munde Erwachsener hören, und ihr Blickfeld auf Gegen- stände und Ereignisse hin analysieren, die den Ausdrücken entsprechen könnten. Sie würden die Welt soweit gliedern, als es für ihr Sprachverständnis notwendig bzw. von diesem her möglich ist. Psycholinguistische Befunde legen nahe, daß in den frühesten Phasen des Spracherwerbs das Umgekehrte der Fall ist.

Das Kind wählt aus den vielen sprachlichen Äußerungen diejeni- gen aus, die sich auf Phänomene beziehen, von denen es durch sein Verhalten dokumentiert hat, daß sie ihm performativ, perzeptiv und kognitiv bereits wohl vertraut sind. Das Kind greift das Wort ,Mund, auf, nachdem sein eigener, der seiner Mutter und der Mund seiner Puppe als wohl determinierter Bezugspunkt in verschiedenen Handlungsvollzügen fungiert hat (vgl. Bruner,

I 97 5: r 68). Diese kognitive Basis gilt keineswegs nur für einzelne Wörter, Etiketten, sondern ebenso für grammatische Strukturen. Die Vertrautheit mit der Struktur einer Handlung leitet das Kind bei der Analyse von elementaren Sätzen und mißleitet es beim Verständnis von höherstufigen Sätzen, die von dieser Struktur abweichen, etwa wenn die Hauptfigur einer Situation nicht als Agent, sondern als Patient fungiert.

Der Erlanger Sprachphilosophie liegen zwei erkenntnistheoreti- sche Irrtümer zugrunde.

r. Der realistischen Gegenposition wird ein unreflektierter Zirkel in der Beweisführung vorgehalten, gleichzeitig jedoch ein Hysteron-Proteron-Fehler in der Darlegung der eigenen Position begangen. Jedes intersubjektive Verständnis von sprachlichen Unterscheidungen setzt erst einmal eine intersubjektiv einheitli- che Wahrnehmung von Sprachzeichen voraus, eine nichtsprachli- che, perzeptive Unterscheidung von sinnlichen Gestalten, die als Zeichen fungieren. Nähme man die Erlanger beim Wort, würden wir die Phoneme t und k in ,Telle~, und ,Keller,, die ein Kind nachweislich in einem Frühstadium des Spracherwerbs noch nicht zu unterscheiden vermag (vgl. Holenstein, I 976a: I 9 r ), erst unterscheiden, nachdem uns ihr Unterschied (meta-)sprach- lich beigebracht worden wäre. Die Folge wäre unsinnig, ein unendlicher Regreß, bzw. die Unmöglichkeit, eine sprachliche Unterscheidung, so sie sinnlich wahrnehmbare Zeichen invol- viert, überhaupt einzuführen.

Etwas ganz anderes und einer Diskussion wert ist die Frage, ob

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wir sinnliche Phänomene unterscheiden würden und könnten, die für uns keine Funktion haben. Würden wir Laute wie t und k zu unterscheiden lernen, wenn die Unterscheidung keine Funktion, in diesem Fall eine bedeutungsunterscheidende Funktion hätte?

Experimentelle Untersuchungen zeigen, daß Lautunterschiede, die nur phonetisch und nicht phonematisch sind, also keine bedeutungsunterscheidende Funktion haben, (leicht) überhört werden (vgl. Holenstein, r 97 5 : 62, 6 5). Zwei Probleme stellen sich hier. Zum einen: Kann etwas überhaupt rein funktional erfaßt werden? Zum andern: Enthält nicht jede Wahrnehmung einer sinnlichen Eigenschaft auch ein funktionales Moment ?4

Zum ersten Problem: Impliziert nicht die Erfassung einer funktionalen Möglichkeit wenn nicht eine vorgängige, so eine gleichzeitige Wahrnehmung einer Gestalt? Kann denn ein Ball als etwas erkannt werden, das gerollt werden kann, also in bezug auf eine motorische Anlage des Subjekts eine Funktion erfüllen kann, ohne daß bestimmte perzeptuale Eigenschaften mit wahrgenom- men werden, z. B. daß es ein mehr oder weniger runder Gegenstand ist? Ein Ball hebt sich aus dem mehr oder weniger diffusen Wahrnehmungsfeld dadurch ab, daß er ins Rollen gebracht werden kann. Bekanntlich wiederholt ein Kind, das solche motorischen Erfahrungen macht, die Handlung sofort und mehrmals, sofern ihm der entsprechende Gegenstand unter die Augen kommt. Das Wiedererkennen ist jedoch nur erklärbar, wenn mit der Ausübung der motorischen Handlung eine perzep- tive Identifikation des Handlungsgegenstandes verbunden ist.5

Zum andern Problem: Es scheint, daß sich einer radikalen Analyse die (motorisch-)funktionale und die (perzeptiv-)struk- turale Erfassung als zwei Aspekte desselben Vorgangs erweisen.6 Die visuelle Wahrnehmung selber ist ein aktiver Vorgang. Eine Gestalt wird nicht unmittelbar ,fix-fertig, als Ganze erfaßt, sondern in sukzessiven Phasen konstituiert. Die visuelle Wahr- nehmung eines Balles als runden Gegenstand ist demnach ihrer- seits ein funktionales Phänomen. Das Sehen eines runden Balles aktiviert und befriedigt den Sehsinn nicht anders als das Rollen eine motorische Kapazität aktiviert und befriedigt. Das Sehen ist für ,das Auge wie das Bewegen für die Hand, was das Essen für den Gaumen und den Magen ist, eine Art Nahrung.7

2. In den Erlanger Publikationen wird so gesprochen, als sei außer dem universe of discourse, der Welt, soweit sie sprachlich

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gegliedert ist, nur noch eine Wirklichkeit an sich denkbar. Auf was wir uns in der Sprache beziehen, ist jedoch nicht die Welt an sich, sondern die Welt als subjektiv oder intersubjektiv wahrge- nommene, erinnerte, phantasierte, gedachte, kurz auf irgendeine Weise bewußte Welt. Die behauptete Unmittelbarkeit des Ver- hältnisses zwischen sprachlich gegliederter Welt und Welt, wie sie an sich gegliedert ist, führt zu einem Zirkel in der Wahrheitsdefi- nition, wenn man die Wahrheit eines Satzes mit der Wirklichkeit des von ihm ausgedrückten Sachverhalts zu erklären versucht:

»Ein Sachverhalt ist ein wirklicher Sachverhalt genau dann, wenn eine Aussage, die ihn vergegenwärtigt, wahr ist. Eine Aussage ist wahr genau dann, wenn der Sachverhalt, den sie vergegenwärtigt, ein wirklicher Sachverhalt ist« (Kamlah, r 962: I 20). Der Zirkel wird von den Erlangern dadurch vermieden, daß sie die Wahr- heitsdefinition unabhängig vom Begriff der Wirklichkeit im Rekurs auf den Konsensus, den ein Satz intersubjektiv bei »jedem Sprach- und Sachkundigen bei geeigneter Nachprüfung« finden würde, einführen (Kamlah & Lorenzen, 1967: II6 ff.). Der Begriff der Wirklichkeit wird dann, der behaupteten Priorität der Sprache gemäß, über den Begriff der Wahrheit im zitierten Sinn abgeleitet: » Ein Sachverhalt ist ein wirklicher Sachverhalt, wenn eine Aussage, die ihn vergegenwärtigt, wahr ist.«

In Wirklichkeit gewinnen wir den Begriff der Wirklichkeit unabhängig von der Wahrheit und ist das letzte Kriterium der Wahrheit weder der intersubjektive Konsens noch eine adaequa- tio rei et intellectus, die Übereinstimmung einer Aussage mit der Wirklichkeit, sondern, wenn man so will, eine adaequatio rei perceptae et rei intellectae, die Übereinstimmung von wahrge- nommener und gedachter Wirklichkeit bzw. eine adaequatio perceptionis et propositionis, die Übereinstimmung einer Aussage mit der Wahrnehmung.8 Die Präzisierung ist noch weiter zu treiben. Die Wahrnehmung, der eine- Aussage adäquat sein soll, ist eine durch konsistentes Verhalten ausgewiesene Wahrneh- mung. Die Wahrnehmung als solche ist immer nur subjektiv. Daß ich Rot und Grün unterscheide, kann ich intersubjektiv am speditivsten kundtun, indem ich die Wahrnehmung sprachlich formuliere, womit wir anscheinend in den Erlanger Zirkel geraten. Daß ich Rot und Grün unterscheide, kann ich intersub- jektiv aber auch anders - und bekanntlich zuverlässiger - kundtun, indem ich in einem Test oder an einer Straßenkreuzung

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auf Rot und Grün je verschieden reagiere. Man wende nicht ein, daß eine solche Reaktion vieldeutig ist. Jede sprachliche Äuße- rung ist nicht weniger indeterminiert. Man wende ferner nicht ein, daß die Reaktion ja ihrerseits nur je subjektiv wahrgenom- men wird und nur in der sprachlichen Formulierung zu einer intersubjektiven Existenz gelangt. Daß zwei Menschen den gleichen Satz gleich verstehen, entscheiden wir letztlich aus ihrem übereinstimmenden Gebrauch in der gleichen Wahrnehmungssi- tuation.

Die Bereitstellung von Zuverlässigkeitskriterien für sprachliche Äußerungen ist ein zentrales Anliegen der Erlanger Schule. Dazu ist grundsätzlich zu sagen, daß in experimentellen Testsituationen wie im Alltagsleben die Beobachtung des Verhaltens anderer als zuverlässiger gilt als deren sprachliche Äußerung. Im Zweifelsfall verläßt man sich klugerweise auf das Verhalten (die Beobachtung) und nicht auf die Sprache (die Behauptung anderer).9 Zuverlässig- keitsprobleme stellen sich schon vor der Sprache in der Wahrneh- mung, wenn sich etwa Wahrnehmungen ein und desselben Gegenstandes durch die verschiedenen Sinne nicht decken. In der Regel gilt die taktile Wahrnehmung als zuverlässiger als die visuelle - etwa im Falle des im Wasser augenscheinlich gebroche- nen Stabes. Was gilt als Zuverlässigkeitskriterium? Sicherlich nicht ,die Wirklichkeit an sich,. Entscheidend ist ein möglichst einfaches und konsistentes System der Erfahrung. Für ,wirklich, im Sinn von ,an sich seiend, wird ein Erfahrungsgegenstand dann gehalten, wenn sich seine Gegebenheitsweisen konsistent decken.

Als wirklich gilt, auf was nicht nur ich, sondern jedermann, überall und jederzeit, zurückkommen kann und was sich in diesem Zurückkommen als identisch Bleibendes erweist (vgl.

Holenstein, r 97 2 :68 ff.).

Die transzendentale Ästhetik, die Aufklärung der Bedingung der Möglichkeit einer vorsprachlichen Erfahrung, bleibt, so die Schlußfolgerung aus den bisherigen Überlegungen, ein unabding- barer Teil der Transzendentalphilosophie. Sinnliche Erfahrungen gehen der Sprache nicht nur voraus, sie fundieren sie und sind, zumal in den elementaren Formen, mitbestimmend für deren Struktur. Als besonders aufschlußreiches Feld bietet sich die Wahrnehmung von Sprachlauten an, einmal wegen ihrer ausge- prägt diskreten Struktur, zum andern wegen ihrer vielfältigen Gegebenheitsweisen (neurologisch, artikulatorisch, physikalisch-

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akustisch, perzeptiv: labiolexikalisch, auditiv, synästhetisch) und Transformationsmöglichkeiten (Schrift, Spektogramm) und zum dritten schließlich wegen ihrer funktionalen Integration in die Sprache, deren Bedeutung für jenen Teil der Transzendentalphi- losophie, der traditionellerweise als ,Transzendentale Logik, bezeichnet wurde, in der Gestalt einer ,Reinen Grammatik, unübersehbar geworden ist.

Anhang: Grundstufen der Zeichenkonstitution

Das Sprachvermögen ist in doppelter Hinsicht hintergehbar, in ursprünglicheren Vermögen fundiert. Als Unterscheidungsver- mögen ist es in einem perzeptiv-motorischen Unterscheidungs- vermögen und als symbolisches Zeichenvermögen in einem vorsprachlich indexikalischen Zeichenvermögen fundiert.

Das Verständnis von Shifters (Indikatoren) wie ,dies, und ,jenes, setzt das Verständnis von vorsprachlichen Zeigegesten voraus, ausgeführt mit einem Körperorgan, gewöhnlich Arm und Finger, meistens kombiniert mit einer parallelen Blickrichtung. Eine noch primitivere Form des Zeigegestus als der ,Fingerzeig, ist das Ergreifen und Schütteln des intendierten Objekts. Der Akt des Ergreifens lenkt den Blick des Partners auf den entsprechenden Gegenstand. Es ist jedoch denkbar, daß der bloße Zeigefinger unmittelbar verstanden werden kann, ohne vorangehenden, ihn genetisch fundierenden Greifakt - kraft der in länglichen, sich in einer Richtung verdünnenden Gegenständen innewohnenden Tendenz, über sich hinauszuweisen auf eine mögliche Fortset- zung.

Eine grundlegende Voraussetzung für die Zeichenbeziehung ist die Erfahrung der Zweistelligkeit der Wahrnehmungsrelation, ihrer Subjekt-Objekt-Struktur, konkreter, die Erfahrung, daß etwas im Wahrnehmungsfeld sich Abhebendes die Aufmerksam- keit auf sich zieht, bei visuell begabten Lebewesen vor allem den Blick, und zwar den eigenen wie den der Partner. Die Zuwen- dung des Körpers zum sich Abhebenden erhält über ihre Wahrnehmungsfunktion hinaus eine Zeichenfunktion. Sie wird zum Index des sich Abhebenden.

Das Menschenkind ist für diese Erfassung der Zeichenfunktion offensichtlich genetisch vorbereitet. »Ein fünf Minuten altes Kind kann schon Blickkontakte mit seiner Mutter suchen. Sieben

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Wochen alte Kinder schauen Erwachsenen, wenn diese mit ihnen reden, meistens auf die Augen, nicht auf den Mund, was als Aufmerksamkeitslenkung interpretiert wird« (Oksaar, I 979:

149). Die Koppelung von Geste und Wort und der sich anschlie- ßende Übergang vom gestikulatorischen zum verbalen Index ist beim Kind durch eine vorangehende Koppelung des Handzei- chens mit der Blickrichtung, also zweier visuell fungierender Indices, gleichfalls schon eingeübt. Nachdem das Kind mit Handzeichen und Blickrichtung die Aufmerksamkeit des Part- ners auf den Gegenstand des Interesses gelenkt hat, lernt es im Alter von ungefähr einem Jahr mit Kopf- und Blickrichtung allein die Aufmerksamkeit des andern in die konstant gehaltene Richtung seines Handzeichens zu locken (vgl. Clark, r 97 8: 94).

Der Fortschritt vom Blick und Greifgestus über den Zeigegestus zur verbalen Deixis auf der Subjektseite wird auf der Objektseite sekundiert von einem Fortschritt von auffälligen Gegenständen in unmittelbarer Nähe über solche in größerer Entfernung zu Gegenständen außerhalb des Blickfeldes. Der Übergang von Zeichen für Anwesendes zu solchen für Abwesendes ist von besonderer Bedeutung. Die Vergegenwärtigung von Abwesen- dem ist die kostbarste Leistung von Zeichen. Gewöhnlich beschränkt man sich bei der Einführung von Zeigehandlungen auf ihre Funktion der Hinlenkung auf Anwesendes, auch bei den Erlangern. Die Lücke in der Rekonstruktion wird hier von einem Semiotiker aus Hanoi geschlossen. Der phänomenologisch geschulte Marxist Tran Duc Thao ( I 97 3) sieht die Bedingung für den Übergang von »Zeichen der Präsentation« zu »Zeichen der Repräsentation« in der Kollektivarbeit gegeben: Bei der Verfol- gung von Wild verweist ein Vortrupp den Hauptharst der Jäger mit einem Handzeichen hinter einen Felsen, hinter den sich die Tiere geflüchtet haben. Aus einem hinweisenden Zeichen für Gegenwärtiges wird ein vergegenwärtigendes Zeichen für Abwe- sendes.

Eine andere Eigentümlichkeit der Wahrnehmungssituation ist ebenfalls von semiotischer Relevanz, die Sinnstruktur der Wahr- nehmungsgegenstände. Ein Ding wird immer aufgefaßt als ein Dieses und als ein Solches, als ein individuelles Ding einer allgemeinen Art. Dieser Doppelcharakter von Wahrnehmungsge- genständen ist die Basis für die semiotische Unterscheidung von Token und Type. Ein Gegenstand ist nicht nur ein Ball, sondern

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zugleich ein Beispiel (ein primitiver Zeichentyp) für einen Ball.

Analog semiotisch ausgewertet wird der analytische Charakter des Sinns. Ball sein heißt Eigenschaften wie rund, elastisch usw.

aufweisen. Diese Eigenschaften machen nicht nur aus einem Gegenstand einen Ball, sie machen ihn auch als Ball erkennbar.

Noch deutlicher ist diese Verschränkung von Sinnkonstitution und Zeichenbasis, wenn ein Gegenstand einen funktionalen Sinn hat. Die gleiche Form, durch die ein Gegenstand ein Messer ist, fungiert zugleich als Zeichen dafür, daß er als ein Messer verwendbar ist. Die spezifische Beschaffenheit macht nicht nur den Sinn eines Gegenstandes aus, sondern kann zugleich als Zeichen für das Vorliegen eines Gegenstandes dieses Typs aufgefaßt werden. Wie etwas aufgefaßt wird, als Aspekt oder als Index, ist Sache der subjektiven Einstellung. Ein Aspekt ist kein Zeichen. Aspekthaft sehe ich das Ding selber. Dinge sind ihrer Natur. nach nicht anders als aspekthaft erfahrbar. Ein Index verweist dagegen auf etwas anderes, und wenn es nur das Ganze ist, als dessen Teil er fungiert. Ich kann das gleiche Dach als Haus sehen (,Ich sehe ein Haus von seiner Dachseite her,) oder als einen Index für das Vorhandensein eines Hauses nehmen (,ich. sehe nur ein Dach,).

Einen ähnlichen Wandel in der subjektiven Einstellung impli- ziert der Übergang von einer assoziativen zu einer semiotischen Verweisung. Es wurde gesagt, daß das Zeigen auf einer Gestaltei- genschaft aufruht, auf der bestimmten Gestalten (Linien, Pfeilen, länglichen Objekten) inhärenten Tendenz, den Blick über sich hinaus zu lenken. Ebenso verweisen Ahnliches, Kontiguierendes und Kontrastierendes aufeinander. Ein weißes Kleid erinnert an einen Schneeberg, an die Person, die das Kleid getragen hat, oder an ein schwarzes Kleid. Aber nicht jeder assoziative Verweis ist ipso facto auch schon eine Zeichenbeziehung. Wenn zwei rote und zwei grüne Kugelschreiber im gleichen Abstand voneinander auf meinem Tisch liegen, formen sie zwei ,fühlbare< assoziative Paare, ohne daß der eine rote Kugelschreiber als Zeichen des andern fungiert. Etwas anderes ist es, wenn ein roter Kugelschrei- ber im Schaufenster eines Schreibwarengeschäfts ausliegt. Hier fungiert er, mindestens für Kenner, als Zeichen für weitere Kugelschreiber, die im Geschäft zu haben sind. Ebensowenig ist der Buchstabe a ein Zeichen für den Buchstaben b oder die schwarze Farbe ein

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zwischen a und b eine ungewöhnlich starke Kontiguitätsassozia- tion und zwischen schwarz und weiß eine solche des Kontrasts besteht.

2. Die Hintergehbarkeit der Prädikation

Die zweite, präzisierende Nichthintergehbarkeitsthese bezieht sich auf die Prädikation. Die Behauptung, daß die Prädikation eine oder gar die fundamentale sprachliche und kognitive Struk- tur ist, der keine andere Struktur vorausliegt, weder genetisch noch systematisch,10 ist charakteristisch für die allermeisten Sprachtheoretiker, die das Verständnis der Sprache nicht von der Struktur der Erfahrung her, von unten her, sondern von oben herab, von der Logik des Denkens her, suchen. Sie ist ein Logizismus - vergleichbar dem Intellektualismus in der Bedeu- tungslehre, von dem die Bedeutung eines Prädikatausdrucks mit einem Gegenstand gleichgesetzt wird, mit einem konkreten im Falle eines Verbums (,er trinkt, -,Er ist ein Trinker,11), mit einem abstrakten im Falle eines Adjektivs (,Der Himmel ist blau, -,Der Himmel hat Bläue, oder ,Bläue ist am/im Himmel,). Hier wie dort wird eine kognitiv und sprachlich sekundäre Form einer primären, fundierenden Fotm als Explikation unterschoben.

Die logizistische Verabsolutierung der Prädikation findet sich von der Grammaire de Port-Royal bis zu den Transformations- grammatikern (Chomsky, 1966: 33 ff.) und den sprachanalyti- schen Philosophen (z.B. Tugendhat, 1976: 100, 172). Unter den Philosophen ist der späte Busserl (1939: 124 ff., 242 ff., im Gegensatz etwa zu r 9 r 3a: 3 2 5) eine ebenso originelle wie solitäre Ausnahme. In der Erfassung eines Gegenstandes kommt es zu einer Ausdifferenzierung dieses Gegenstandes in einzelne Bestim- mungen, von Busserl Explikation geheißen, in der Linguistik als Modifikation bezeichnet. Der Gegenstand erscheint hier in einer

»vorprädikativen Synthese« als Substrat von Bestimmungen. Den unmittelbaren sprachlichen Ausdruck findet diese Explikation von Gegebenheitsweisen, in denen ein Gegenstand erscheint, in einer head-modifier-Konstruktion: ,rotes Schloß,. In einem zweiten Schritt wird die Bestimmung, in die sich ein Gegenstand entfaltet hat und die in dieser Entfaltung mit ihrem Gegenstand in

»passiver Deckung« verharrt, aktiv erfaßt und dem Gegenstand

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als Prädikat zugeschrieben und affirmiert. Jetzt erscheint der Gegenstand nicht mehr als »Substrat von Bestimmungen«, son- dern als »Subjekt von Prädikaten«. In der »prädikativen Synthe- sis« sind wir gegenständlich auf das Subjekt gerichtet. Erst in einer dritten Stufe wird entweder die Aussage als Ganze zu einem Sachverhalt (,daß das Schloß rot ist<) oder das Prädikat allein zu einem abstrakten Gegenstand (,die Röte,) (kognitiv) vergegen- ständlicht und (sprachlich) nominalisiert und so seinerseits zu einem Subjekt von möglichen Prädikaten.

Unter den Linguisten sind Kurylowicz (1936), Trubetzkoy (I 9 39), Jakobson (I 9 39, I 977) und Halliday (I 977) als (explizite oder implizite) Verfechter der Hintergehbarkeit der Prädikation anzuführen. Jakobson (1977)12 und Halliday (1977) stützen sich dabei auf die Analyse des kindlichen Spracherwerbs.

Mit der positiven These von der Hintergehbarkeit der Prädika- tion ist zweierlei anvisiert, I. die Vorgängigkeit von nichtkonsta- tiven Satzformen wie Anruf (,Paul!,) und Befehl (,Komm!,) gegenüber konstativen Satzformen (,Paul kommt.<) und 2. die Vorgängigkeit der adjektivischen Determination (Modifikation) eines Nomens (,Rotes Blut,) gegenüber der adjektivischen Prädi- kation (,Blut ist rot.<).

Die erste Teilthese von der Vorgängigkeit nichtkonstativer Sprechakte ist wichtig für die Interpretation von frühkindlichen ,Einwortsätzen,. Logiker neigen dazu, holophrastische Außerun- gen wie ,Mamma<, ,wau-wau, als elliptische Prädikationen bzw.

als Prädikatoren, die Gegenständen zu- und abgesprochen wer- den können, zu interpretieren, also etwa als ,Dies ist Mamma, oder ,Du bist Mamma, und ,Dort ist ein Hund,. Situation und Intonation 13 legen dagegen eine nichtprädikative Interpretation nahe, Sprechakte von der Art eines Grußes etwa im Sinne von ,Hallo, Mamma!,, einer Wunschäußerung im Sinne von ,Ich möchte gern den (Spielzeug-)Hund, oder einer imperativen Aufforderung im Sinne von ,Komm, du Hund k Verben sind in der Regel als Imperative, Nomina als Vokative oder Imperative und die in der Kindersprache ebenfalls häufigen Umstandswörter (,mehr!,, ,fort!,) ebenfalls als Exklamationen oder Imperative zu deuten. Nach Halliday (1977: 39, 8 3) gebraucht das Kind zuerst einen Ausdruck, der nur den Sprechakt als solchen signalisiert, z.

B. einen Laut, der soviel wie ,Hallo!, oder ,Gruß!,, und einen andern, der einen Wunsch (also etwa ,Bitte!,) bedeutet. In einem

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zweiten Stadium wird der Sprechakt dann determiniert, indem der Name des Bezugsgegenstandes genannt wird: ,Hallo, Mamma!, oder nur ,Mamma!, und ,Gib Milch!, oder nur ,Milch!,, wobei die Intonation den jeweiligen Sprechakt signali- siert.14

Qualifizierende Äußerungen der frühesten Kindersprache wie ,Mamma!, und ,Milch!, sind nicht als Gegenstandsbezeichnungen (Nominatoren) und auch nicht prädikativ (als ein Zusprechen von klassifizierenden Eigenschaften) zu interpretieren, sondern als eine Art ,adverbiale, Determination eines konativen Sprechaktes.

Bevor Qualitatives zu Gegenständen und Eigenschaften von Gegenständen konstituiert wird, erscheint es als Determination von intentionalen Akten - analog wie nach Piaget nicht weniger als nach Heidegger Gegenstände, bevor sie als in sich Bestand habendes Vorhandenes bewußt werden, als Zuhandenes erschei- nen, das unabhängig von der jeweiligen Handlung keine Existenz hat.

Wem solche als An- und Aufrufe interpretierte Einwortsätze nur als Prädikatoren nachvollziehbar sind, denke an Wittgen- steins Analyse von Gefühlsäußerungen. Auch Gefühlsäußerun- gen in der Form von Schreien sind in einem gewissen Ausmaß konventionell determiniert. Verschiedene Formen von Unlust und Schmerz werden möglicherweise sprachspezifisch mit ver- schiedenen Ausrufen signalisiert, derart, daß ein Adressat weiß, was der Schreiende empfindet. Trotz dieser Determination ist der Ausruf nicht als ein konstativer, prädikativer, sondern als ein emotiver Sprechakt zu interpretieren.

Gegen logizistische Uminterpretationen von Vokativen und Imperativen von der Art ,Paul, komme!, in deklarative Sätze von der Art ,Du bist Paul. Du sollst kommen.< (vgl. Chellas, 1969) oder ,Ich befehle Dir zu kommen.< (vgl. Lewis, r 970: 5 4 ff.) oder gar ,Peter an Paul: Befehl. Paul kommt.< (vgl. Lorenzen, I 970: 68 f.) bzw. gegen deren Ableitung als elliptische Oberflächen- strukturen aus einer Tiefenstruktur mit einer expliziten konsta- tiv-prädikativen Form ist eine Reihe von Bedenken geltend zu machen.

( r.) Kinder beherrschen Vokative und Imperative lange bevor sie fähig sind, Indikatoren wie ,ich, und ,du,, performative Verben wie ,befehlen, oder Nominalisierungen von Handlungen wie ,Befehl, zu verwenden. Die Annahme von prädikativen und

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nominalisierenden Tiefenstrukturen der zitierten Art setzt höchst unplausibel voraus, daß das spracherwerbende Kind seine frühe- sten Sprechakte mit komplizierten Transformationen, die unbe- wußt und ohne Ausdruck bleiben, einleitet, auf die zu verzichten es erst in einem späteren Stadium des Spracherwerbs fähig ist.

Shifters wie ,ich, und ,du, werden erst nach dem Erwerb von prädikativen Außerungen vom Kind beherrscht und als Satzsub- jekte verwendet. Desgleichen fungieren in den frühesten explizi- ten Prädikationen mit einem Nomen als Subjekt nicht andere Nomina als Prädikat, sondern Verben. In Sprachen mit den drei Wortkategorien Nomen, Adjektivum, Verbum ist bei Prädikaten ebendiese Reihenfolge charakteristisch (J akobson, r 977, siehe unten S. I 8 I f.), also etwa erst ,Wuschel bellt,, dann ,Wuschet' ist klein, und an letzter Stelle ,Wuschel ist ein Hund,.15

(2.) Mit der Uminterpretation von Vokativen und Imperativen in konstative Sätze ist die strukturale Vielfalt der Sprache auf eine zu simple Weise erklärt. Es gäbe danach eine universale Grund- form von sprachlichen Außerungen, die des prädikativen Satzes.

Alle Abweichungen wären nichts anderes als elliptische und nur ,oberflächliche, Aktualisierungen dieser Grundform. Die funk- tionale Vielfalt ist damit jedoch nicht erklärt, sondern wegdispu- tiert. Eine Eigenart der menschlichen Sprache ist es, daß in ihr verschiedene intentionale Modi (Sprechakte) auch struktural auseinandergehalten werden können. Bei den meisten tierischen Lauten gibt es keinen Anhalt, Modalisierungen zu unterscheiden.

Wir wissen nicht, ob wir den Pfiff eines Steinbockes indikativisch (,Gefahr naht.<), als Imperativ (>Verschwindet!,), den Sender miteinschließenden Hortativ (,Laßt uns verschwinden!,) oder gar nur als Expression einer beängstigenden Wahrnehmung (,Oh!,) interpretieren sollen.

Die Substruktion einer konstativen Satzform unter Vokative und Imperative ist der Substruktion von physikalischen Schwin- gungen unter Farbwahrnehmungen vergleichbar. Man miß- braucht eine (mögliche) Korrelation von zwei spezifisch verschie- denen Phänomenen (die Wahrnehmung von >primären< und ,sekundären, Sinnesqualitäten im einen Fall, intentionale Modi im andern Fall) zur Reduktion des einen auf das andere.

(3 .) Man könnte versucht sein, die kindlichen ,Einwortsätze< als funktional noch nicht differenzierte, plurifunktionale Außerun-

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sprache wie ,Es ist warm,, der unter gewissen Umständen nicht nur und nicht einmal primär als indikativische Konstatation intendiert ist, sondern als imperativer Appell, die Fenster zu öffnen. Gegen eine solche Interpretation spricht die Tatsache, daß kindliche Sprachformen, soweit das festgestellt werden kann, weit über das holophrastische Stadium hinaus auffallend mono- funktional gebraucht werden. Ein Kind ist lange Zeit unfähig, einem Morphem gleichzeitig zwei verschiedene Funktionen zuzuordnen. Ein französisches Kind gebraucht zuerst den Artikel

!es ausschließlich zur Signalisierung einer Mehrheit. Zur Signali- sierung einer Totalität, zu der dieser Artikel in der Erwachsenen- sprache gleichzeitig gebraucht werden kann, greift es durchwegs zu einem zusätzlichen Morphem: toutes les voitures. Gelegentlich nimmt es selbst zu ungrammatischen Formen Zuflucht, um zwei Funktionen auseinanderzuhalten, etwa die nichtspezifische Refe- renz und die numerische Indikation, die der unbestimmte Artikel gleichzeitig auszudrücken vermag. So spricht es z. B. zur Indikation, daß es sich um eine einzige Kuh handelt, von une de vache (Karmiloff-Srnith, I 976: 300 ff.; vgl. Halliday, I 977: 42,

7 r).

(4.) Zugunsten der Ableitung eines Imperativs ,Komm!, aus einem deklarativen Satz ,Du sollst kommen, oder ,Ich befehle dir zu kommen, könnte vorgebracht werden, daß der korrekte Gebrauch eines Imperativs doch ein Wissen über sich selbst als Subjekt der Äußerung und eines anderen als Adressaten der Äußerung und als Agens der auszuführenden H:mdlung impli- ziert. Es ist jedoch zu unterscheiden zwischen einem impliziten ,Knowing how,, das für eine Handlung konstitutiv ist und in ihrem Vollzug unmittelbar zum Ausdruck kommt und einem expliziten ,Knowing that,, zu dem die Reflexion auf eine Hand- lung befähigt und das in einem konstativen Satz vergegenständ- licht wird. Die Verbindung einer Handlung mit ihrer Konstatie- rung ist eine Leistung, zu der ausschließlich die prädikative Struktur der Sprache befähigt.

Für die Erfassung eines komplexen Ganzen ist nicht die explizite Erfassung seiner konstitutiven Komponenten vorausgesetzt, in die es von einer intellektualistischen logischen Analyse zerlegt werden kann. Die Wahrnehmung eines zwei Quadratzentimeter großen Tintenflecks erfolgt nicht über eine urteilsmäßige Zusam- menfassung von gerade noch wahrnehmbaren diskreten Farb-

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punkten zu einer kontinuierlichen Ganzheit. Ebensowenig brau- che ich zur Erfassung eines Volumens ein explizites Wissen u~

die drei Dimensionen der Länge, der Breite und der Höhe, die für es konstitutiv sind und mit denen es definiert werden kann. Die explizite Erfassung der drei Dimensionen und ihrer Interdepen- denz bei der Bestimmung der Größe ist erst erforderlich bei der Konservation des Volumens. Das Volumen wird nur · dann gewahrt, wenn die Änderung einer Dimension eine entspre- chende Änderung einer oder beider anderer Dimensionen zur Folge hat. Die Erfassung der Erhaltung von Volumen erfolgt lange nach der Erfassung von voluminösen Gegenständen über- haupt. Mit ihr allein ist das explizite Wissen um die für ein Volumen konstitutiven Komponenten und deren Interdependenz ausgewiesen.

Analoges gilt für die bei einem Imperativ intellektualistisch- logisch implizierten personalen Komponenten eines Sprechaktes, für die in einem fortgeschrittenen Stadium der Sprachentwick- lung die Pronomina ,ich, und ,dU< gebraucht werden. Die explizite Erfassung ihrer Bedeutung (,ich, bezeichnet den Sender der Botschaft, in der ,ich, als Subjekt fungiert, ,du, den Adressa- ten der jeweiligen Botschaft) mitsamt der' Reversibilität der von ihnen bezeichneten Relation ist nachweislich nicht von Anfang an gegeben und wird erst mit dem expliziten und korrekten Gebrauch in einem Dialog unter Beweis gestellt.

Wir verfügen über viele Leistungen, die wir nicht verbal zu explizieren vermögen. Der Fehler des Intellektualismus besteht in der Annahme, daß alles knowing how (in älterer Terminologie:

habituales Wissen) ein Derivat eines knowing that (aktuales Wissen) ist, eines Wissens um die Regeln, mit denen eine Handlung expliziert werden kann. Die Annahme einer prädikati- ven Tiefenstruktur, aus der Imperative abgeleitet werden, impli- ziert eine mentale Formulierung dieser prädikativen Struktur, von der nicht plausibel gemacht werden kann, weshalb sie vom Sprecher nicht auch ,geäußert, werden kann. 16

(5 .) Die These von der apriori prädikativen Struktur des Bewußtseins verleitet noch zu weiteren intellektualistischen Kon- struktionen. Da Fürchten, Lieben, Bewundern und dgl. intentio- nale Erlebnisse sind, die offensichtlich nicht sprachlich realisiert zu sein brauchen, wird von ihnen behauptet, daß sie wenigstens ein prädikatives Bewußtsein voraussetzen, daß diese an sich

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