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Info Daf Heft 6 Dezember 2009

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Academic year: 2021

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Info DaF

Informationen Deutsch als Fremdsprache

Austauschdienst in Zusammenarbeit mit dem Fachverband Deutsch als Fremdsprache

Nr. 6

36. Jahrgang

Dezember 2009

Inhalt

Artikel Helga Kotthoff

Positionierungen in Stipendienanträgen: Zur interkulturellen

Pragmatik einer akademischen Gattung 483

Roger Fornoff

Erinnerungsgeschichtliche Deutschlandstudien in Bulgarien. Theoriekonzepte – unterrichtspraktische Ansätze –

Lehrerfah-rungen 499

Didaktik DaF / Aus der Praxis

Manfred Kaluza

Der Mittelweg: Plädoyer für eine themen- und inhaltsorien-tierte(re) Didaktik des akademischen Schreibens 518 Karl-Hubert Kiefer

Zum aktiven Erwerb von Redemitteln im fach- und berufsbezo-genen Fremdsprachenunterricht am Beispiel der

Sprechhand-lung »Bezug nehmen« 539

Berichte Karl Esselborn

Ein neues internationales Forum für die Drama- und Theater-pädagogik in der Fremd- und Zweitsprachenvermittlung:

Scena-rio 555

Tagungsankündigung Programm vierte Tagung »Deutsche Sprachwissenschaft in

Ita-lien«, Rom, 4.–6. Februar 2010 562

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Positionierungen in Stipendienanträgen:

Zur interkulturellen Pragmatik einer

akademi-schen Gattung

Helga Kotthoff

Zusammenfassung

In diesem Artikel wird eine Studie vorgestellt, die sich mit der Selbst- und Fremddarstel-lung nichtmuttersprachlicher Antragsteller(innen) im wissenschaftlichen Genre des Stipen-dienantrags beschäftigt, einem Genre mit multipler Autorschaft. Ich greife auf text- und gattungsanalytische Konzepte zurück und analysiere Positionierungen (Davies/Harré 1990), die für die interkulturelle Pragmatik fruchtbar gemacht werden. Ich unterziehe einige Anträge von Graduierten, Doktoranden und Promovierten aus kaukasischen und mittel-asiatischen Ländern der ehemaligen Sowjetunion (nicht Russland) an einen deutschen Stipendiengeber einer diskurspragmatischen Analyse, welche in einem Drittel der sozial-und geisteswissenschaftlichen Anträge institutionell inadäquate Positionierungen zeigt. Verschiedene Textteilsegmente werden exemplarisch diskutiert, die u. a. Explizitheit und Implizitheit in der Attribution von Spezialistentum als problematisch ausweisen. Abschlie-ßend geht es noch um die Verortung der Kulturunterschiede. Konzepte von »Nation« geben keinerlei Ressource für eine Erklärung der beobachtbaren Differenzen her; stattdessen ist eine institutionensoziologische Unterfütterung hilfreich, die klärt, wie die jeweiligen wissenschaftlichen Praxisgemeinschaften funktionieren.

1. Die Erforschung akademischer Schreibkulturen

Die akademische Welt unterhält für ihren Austausch und ihre Qualifizierungspro-zeduren schriftkulturelle Standards, die sich von journalistischen, alltagspragma-tischen und künstlerischen Standards un-terscheiden. Seit Johan Galtung (1985) populärwissenschaftlich über sachsoni-sche, teutonisachsoni-sche, gallische und nipponi-sche Wissenschaftsstile räsonierte, wer-den die verschiewer-denen wissenschaftli-chen Textsorten auch der kulturverglei-chenden Analyse unterzogen. Wir wis-sen, dass schon allein in der Vermittlung der akademischen Schreibstandards er-hebliche kulturelle Differenzen liegen (Cmejrkova 1996). Während z. B. im »sachsonischen Raum« die

Beschäfti-gung mit »academic writing« zum eta-blierten Veranstaltungsangebot der Uni-versitäten gehört, findet sich im »teutoni-schen Raum« (wozu in der Forschung zum akademischen Schreiben auch Ost-europa gezählt wird) eher die Haltung, 1. dass es begabte Studierende geradezu

als solche ausweist, wenn sie sich die Standards selbst erschließen können, 2. dass diese flexibel zu halten sind. Einige Studien zeigen tatsächlich in deut-schen Fachartikeln eine höhere struktu-relle Varianz als in englischen (Hutz 1997 zu sozialpsychologischen Artikeln). Die Forschung ist sich auf jeden Fall darin einig, dass die rhetorische Struktur wis-senschaftlicher Qualifikationsarbeiten oder Publikationen nicht schlicht aus de-ren Inhalt ableitbar ist. Das Zitiede-ren, die

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Präsentation des Standes des Faches und der eigenen Leistung, der Umgang mit Fachautoritäten, mit offenen Fachfragen, Nebeninformationen usw. sind (fach)kul-turell mehr oder weniger flexibel ge-normt. Clyne (1987) arbeitete beispiels-weise heraus, dass deutsche Zeitschrif-tenaufsätze thematisch digressiver struk-turiert sind als englische,1 dass Verständ-lichkeits- und Explizitheitsideale sich da-hingehend unterscheiden, dass deutsche Texte eher dem Leser die Verantwortung für die Textentschlüsselung abverlangen, englische dem Verfasser. Gnutzmann (1991) zeigte, dass sich in deutschen Auf-sätzen viel mehr passivische Konstruk-tionen finden als in englischen.

In den letzten zwanzig Jahren hat sich in den Textwissenschaften eine breite Dis-kussion um die Kulturalität akademi-scher Diskurse entfaltet. Im deutschen Sprachraum beobachten wir (u. a. Grae-fen 1994) im akademischen Bereich eine Annäherung an angloamerikanische Textnormen. In den Naturwissenschaften wird in internationalen Zeitschriften so-wieso hauptsächlich auf Englisch publi-ziert (Ammon 2001). Die Entstehung standardisierter Textformate ist eng mit dem Aufkommen der empirischen Me-thode in den Naturwissenschaften ver-knüpft und orientiert sich aufgrund sei-nes historischen Ursprungs an angelsäch-sischen, akademischen Kommunikati-onsgewohnheiten (Moessner 2006). In den Sozial- und Geisteswissenschaften gestalten sich die Verhältnisse in den einzelnen Fächern unterschiedlich. Skud-lik (1990) erkennt eine Trennlinie entlang einer naturwissenschaftlichen bzw. geis-teswissenschaftlichen Orientierung, die auch innerhalb von Disziplinen verläuft, z. B. der Psychologie. Die Anglisierung der Publikationspolitik und die damit

verbundene hegemoniale Struktur des wissenschaftlichen Feldes zugunsten der Englischsprachigen sind mit Problemen behaftet, die ebenfalls breit diskutiert werden (z. B. in der Linguistik Ammon 2001, Ehlich 1997, 2007)

Auch einigen kulturellen Spezifika der Selbst- und Fremdpositionierung in aka-demischen Textsorten wurde nachgegan-gen (Ivanic 1998, Gosden 1995). Nicht nur in der unmittelbaren Dialogizität der ge-sprochenen Sprache ist ja Beziehungsde-finition von Belang (z. B. Zuordnung von Autorität und Deferenz), sondern auch in der Distanzkommunikation der Wissen-schaften. Wie positioniert man beispiels-weise seinen Beitrag im Bezug auf die bisherige Forschung? Soll er ein Mosaik-steinchen hinzufügen oder das gesamte Fach revolutionieren? Wie sehen die fachkulturellen Voraussetzungen für die Ratifikation solcher Ansprüche aus? Es lassen sich viele Fragen aufwerfen, die zu ihrer Beantwortung eine kulturverglei-chende Analyse akademischer Textsorten voraussetzen.

In diesem Artikel diskutieren wir eine Gattung, die unseres Wissens bislang kaum erforscht wurde: den Stipendien-antrag. Insbesondere sollen Positionie-rungsstrategien und ihre kulturellen Be-sonderheiten analysiert werden. Ich nehme situierte, authentische Diskurse als Ausgangspunkt und gehe gegen-standsorientiert vor: über die Phänomen-analyse sollen Logiken von Praxisge-meinschaften rekonstruiert werden.

2. Der Stipendienantrag

Bewerbungen um ein Stipendium erfol-gen schriftlich und es sind ihnen erfor-derliche Unterlagen wie Lebenslauf, Zeugnisse und Gutachten beizufügen. Insofern haben wir es mit einem Textkon-1 Duszak (Textkon-1997) zeigte Digressionen von zentralen Themenlinien in polnischen Aufsätzen.

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glomerat zu tun. Man kann sich fragen, ob in dieser Textsorte die kulturelle Ma-xime der Selbstbescheidung (»Eigenlob stinkt«) suspendiert ist – wie bei Bewer-bungen auf Stellen (Birkner 1999). Ist es funktional, sich und seine Leistung her-auszustellen? Wie wir sehen werden, ge-schieht dies auf unterschiedliche Weise und in einer gattungsspezifischen Inter-textualität. Zu den besonderen Kohä-renzanforderungen der Gattung gehört nämlich, dass die explizite oder implizite positive Selbstdarstellung der Bewerbe-rin/des Bewerbers optimal von der positi-ven Fremddarstellung der deutschen Be-treuer und vor allem der Gutachter von der Heimatuniversitäten flankiert wird. Diese sehr spezifische Konstellation ver-schiedener Textsorten im Verhältnis zu-einander ist ein wichtiges Charakteristi-kum der Gattung Stipendienantrag. Be-werbungen um Stellen und Stipendien setzen Bildungs- und Erfahrungszertifi-kate voraus, die in den westlichen Kultu-ren belegt werden müssen (z. B. über Zeugnisse). Noten und Abschlüsse fun-gieren als sachorientierte Eignungsaus-weise, liegen dem Antrag bei und spre-chen für sich. Daneben enthalten viele Antragsformulare Rubriken, in denen man sein Projekt, seine Interessen, Ar-beitsschwerpunkte, Vorlieben und auch seine Sicht der betreuenden Institution darstellt. Mein besonderes Interesse zieht die Situierung der für die Gattung rele-vanten Figuren auf sich: des Antragstel-lers selbst, des Stipendiengebers, des hei-matlichen Betreuers und des deutschen Betreuers.

Eine deutsche Stipendien verleihende In-stitution hat mir freundlicherweise 132 anonymisierte Anträge auf mehrmona-tige Stipendien im postgraduierten Be-reich an deutschen Hochschulen zur Ver-fügung gestellt, welche die Basis meiner Studie bilden. Die Anträge kommen aus den Kaukasusrepubliken, Kasachstan,

Usbekistan, Tadzhikistan, Turkmenistan und Kirgisien. Sie entstammen natur-, sozial- und geisteswissenschaftlichen Fä-chern. Die naturwissenschaftlichen An-träge sind zu gut 85 % auf Englisch, die anderen zu etwa 90 % auf Deutsch (10 % auf Englisch). Beides sind für die Antrag-steller(innen) Fremdsprachen. In der Hälfte der Anträge begegnen wir dem Deutschen und dem Englischen, weil die Gutachterin sich nicht unbedingt der Sprache des Antrags bedient. In beiden Sprachen finden sich auf relativ hohem Sprachniveau durchaus grammatische Defizite, die aber die Verständlichkeit nicht beeinträchtigen und auf die ich in diesem Artikel kaum eingehe. In den Anträgen begründen die Bewerber/innen ihr Forschungsvorhaben und die damit verbundene Notwendigkeit eines mehr-monatigen oder gar mehrjährigen Deutschlandaufenthalts. Vor allem in der Beschreibung des Forschungsvorhabens zeigt sich der Grad der Einarbeitung in die thematische Materie, die Originalität und Relevanz der Forschungsinteressen der Bewerber(innen), ihre Vertrautheit mit dem diesbezüglichen Standard in Deutschland, ihre Kontaktintensität zu deutschen Betreuer(inne)n und einiges mehr. Zeugnisse und Sprachzeugnisse liegen bei. Sie stellen für ihren Aufenthalt einen mehr oder weniger ausführlichen und gut nachvollziehbaren Arbeitsplan auf. Die Bewerber(innen) beantworten Fragen des Antragsformulars, so die nach ihrem Berufsziel. Fast alle der 132 Antragstellenden wollen in der Wissen-schaft bleiben; einige sind nach Maßgabe ihrer Stellen und Publikationen bereits im Hochschulbetrieb verankert.

Allgemein kann man sagen, dass die na-turwissenschaftlich-technischen Anträge näher am Niveau und Textstil der hiesi-gen Fächerstandards liehiesi-gen als die sozial-und geisteswissenschaftlichen. Es ist in ihnen bemerkbar, dass osteuropäische

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Naturwissenschaftler(innen) mit den westlichen Diskursgemeinschaften auch in der sozialistischen Zeit wesentlich bes-ser verbunden waren als sozial- und geis-teswissenschaftliche. Der naturwissen-schaftliche Diskurs ist auch international stärker standardisiert (Danneberg/Nie-derhauser 1998). Busch-Lauer (2006) be-schreibt z. B. die engen Strukturierungs-vorgaben der medizinischen Fachzeit-schriften. Die ideologische Abgrenzung vom Westen wirkte sich in den osteuro-päischen Sozial- und Kulturwissenschaf-ten insgesamt stärker aus und vor allem lag empirische Sozialforschung kaum im Interesse der sozialistischen Staaten und konnte sich dementsprechend auch nur wenig entwickeln (siehe Breitkopf 2006 zur Entwicklung der russischen Soziolo-gie). Insofern muss man mit Defiziten in der Darstellung kultur- und sozialwis-senschaftlicher Methoden rechnen und ich kann vorab schon sagen, dass sich diese Hypothese in den Anträgen bestä-tigt.

Das Antragsgenre weist das Gefälle in der internationalen Wissenschaft aus, denn es ist bemerkbar, dass die Anträge von Perso-nen stammen, die ungleich viel schlech-tere Chancen auf Partizipation an der in-ternationalen Wissenschaft haben als Menschen aus den USA oder Westeuropa. Allein der sehr unterschiedliche Umfang verfügbarer Forschungsmittel in verschie-denen Ländern schafft international un-gleiche Zugangsbedingungen zum wis-senschaftlichen Diskurs, die Wissen-schaftler(innen) reicher Staaten bevorzu-gen und sich (aufgrund der resultierenden ungleichen Verteilung von Macht und Sta-tus) auch auf konkrete Forschungskoope-rationen auswirken (Weidemann 2006). Forscher(innen) aus dem Kaukasus und den zentralasiatischen Republiken sind nicht nur sprachlich benachteiligt, son-dern auch durch die schlechte Ausstat-tung ihrer Universitäten, die es völlig

un-möglich macht, sich im Fach auf dem Laufenden zu halten. Es wird zu verfolgen sein, ob Publikationen im Internet in den nächsten Jahrzehnten diese Situation ver-bessern werden. Bislang offenbaren die geistes- und sozialwissenschaftlichen An-träge deutliche Wissensdefizite bezüglich der Nutzung anerkannter Internetpubli-kationen (wie etwa der Zeitschrift für

Ge-sprächsforschung, Linguistik-online oder

Dissertationen).

Wir beschäftigen uns im Folgenden zu-nächst mit Besonderheiten der Antrags-texte, in denen die Selbstpositionierung des Antragstellers und seine Fremdposi-tionierung der deutschen Unterstützer(in-nen) deutlich werden. Dann gehe ich auf die Positionierungstheorie kurz näher ein. Danach werden Fremdpositionierungen der Antragsteller(innen) durch Aussagen ihrer Betreuer(innen) von den heimatli-chen Hochschulen gezeigt.

2.1 Textteile des Antrags

Jeder Antrag enthält als Zentralstück ei-nen nicht formal vorstrukturierten Text, in dem die Antragsteller ihr Gebiet und ihr Vorhaben darstellen. In diesem Text sollten sich drei Bereiche auffinden las-sen, die Swales (1990) auf der Basis von Korpusanalysen für englische wissen-schaftliche Artikeleinleitungen so be-zeichnet hat:

1. Establishing a territory 2. Establishing a niche 3. Occupying the niche

Zur angloamerikanischen Diskurstradi-tion gehört die sofortige Orientierung der Leser(innen); da ist dieser dreiteilige Auf-bau funktional. Zu derjenigen der deutschsprachigen Länder und erst recht zur osteuropäischen gehört sie traditionell weniger. Aber auch wir erwarten, dass diese drei »moves« (wie Swales es nennt) in der Darstellung des Vorhabens ir-gendwo auftauchen. Busch-Lauer (2006) hat eine höhere Varianz in deutschen

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Arti-keleinleitungen festgestellt und die »mo-ves« weiter spezifiziert. Ich stelle in den »moves«, den Textteilsegmenten der Sti-pendienanträge, auch Varianz fest, aber die Antragsteller/innen etablieren auf je-den Fall ihre thematischen Nischen. Für die Analyse des Hauptteils der An-träge beziehen wir uns auf das von Her-mann Oldenburg (1992), Anne Olden-burg (1995) und Busch-Lauer (2006) spe-zifizierte Konzept der Analyse wissen-schaftlicher Publikationen, in dem Teil-textsegmente ermittelt und abstrahiert werden. TTs sind nach Antje Oldenburg »relativ autonome inhaltlich-funktionale Einheiten unterhalb der Teiltextebene, de-ren Beginn beziehungsweise Ende […] durch Gliederungssignale angezeigt wer-den kann«. (Olwer-denburg 1995: 111)

Ähnlich wie Busch-Lauer in ihrer Analyse von abstracts wissenschaftlicher Artikel haben wir bei den Anträgen die Teiltexte der Forschungsvorhaben markiert, ihre Funktion bestimmt, diese abstrahiert und später miteinander verglichen. Im Bezug auf das Segment »Ziele und Konsequen-zen« kann man bei Anträgen natürlich nur von einer formulierten Erwartbarkeit aus-gehen. Im Unterschied zum Abstract eines Artikels muss ein(e) Antragsteller(in) auch klarstellen, wie weit ihre Einarbei-tung in die Forschungsfragen bereits ge-diehen ist und warum sie an eine be-stimmte Hochschule zu einem bestimm-ten Betreuer gehen möchte.

Erwartbar sind folgende Teiltextsegmente (nicht unbedingt in dieser Reihenfolge): 1. Charakterisierung des

Forschungsfel-des und Forschungsfel-des Projekts

2. Eigene Kompetenz und Vorbereitungs-grad

3. Hauptziel der eigenen Untersuchung/ des Aufenthaltes

4. Methodisches Vorgehen, Datengrund-lagen

5. Arbeitsplan, erwartbare Ziele

6. Erwartbare Konsequenzen für For-schung und/oder Praxis

7. Grund für Auswahl der Hochschule und des Betreuers/der Betreuerin In Segment 1 muss im Sinne von Swales das Territorium mitsamt der eigenen Ni-sche darin etabliert werden. Das fällt in den Anträgen von Quantität und Quali-tät her unterschiedlich aus. Viele präsen-tieren den Forschungsstand, oft in Ver-bindung mit einem Eingehen auf die Si-tuation des Landes, was bei bestimmten Fragestellungen in Segment 1 funktional ist. Segment 3 entspricht der Okkupation der Nische.

Bei den naturwissenschaftlichen Stipen-dienanträgen (gut 65 % der Anträge) fällt auf, dass die Textteilsegmente 1, 3 und 7 immer realisiert werden, die Textteilseg-mente 4 und 5 fast immer. Im Bereich 2 kann man Zeugnisse und Gutachten für sich sprechen lassen. Dem Hauptziel wird oft nationale Tragweite zugeschrie-ben, was in den meisten Fällen der Reali-tät entsprechen dürfte, etwa wenn es um Erfahrungen mit neuesten Techniken bei der Entsalzung von Seen geht, die das Land selbst nicht hat, oder dem Kampf gegen bestimmte Herzkrankheiten, die eine Vertrautheit mit Geräten erfordert, die das Land erst in Zukunft anschafft. Der Antrag wird so zu einer Bitte um nationale Hilfe stilisiert. Ich betone, dass ich den Realitätsgehalt dessen gar nicht in Abrede stelle. Erst die Kommunikation lässt aber diese Sinnstiftung entstehen, die zwischen dem Antragsteller und dem Stipendiengeber eine Beziehung kontex-tualisiert als eine zwischen einem mögli-chen Helfer seines Landes und der höhe-ren ausländischen Instanz, von der es abhängt, ob der Helfer/die Helferin in Zukunft in diese Rolle schlüpfen kann. So ist es wahrscheinlich. Aber Fakten allein reichen nie aus, um Kommunikation glücken zu lassen. Vielmehr müssen dis-kursiv Typisierungen hergestellt werden,

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die mit anderen Menschen geteilt und als gegebene Handlungsgrundlage ausge-wiesen werden (Berger/Luckmann 1967).

2.2 Problematische Positionierungen im Motivationsteil des Antrags

Einige Antragsteller(innen) bringen im ersten Textsegment, also in der Charakte-risierung ihres Arbeitsgebiets, ein allge-meines Lob deutscher Leistungen unter, das von der im Westen vorherrschenden Sachorientierung des Wissenschaftsbe-triebs weit entfernt ist:

Beispiele aus dem 1. Textteil (originalge-treu abgeschrieben)1:

1. Wir wissen, dass zur Entwicklung Deutschlands gab es grosse Beitraege der grossen Politiker, Wissenschaftler, Schriftsteller und Dichter. Man kann die geistliche Vervollkommnung ohne Ge-schichte nicht erreichen. Meine wissen-schaftliche Untersuchung in den Jahren 2003–05 zeigte mir (ich untersuchte das Werk »XXXXt« von AB und lernte seine Philosophie), dass die Idee der Deutschen Phlosophen zur Zeit auch nicht fremd sind.

2. It is very important for X-country to prolong and expand scientific relationship with German side and it is essential to step into new stage which covers prepara-tion of highly qualified specialists. It is difficult to achieve it without fulfilment of my planned study project.

3. Collaborating with German colleagues is very significant for y-data processing; it is very important to prepare high qualified specialist. Only after this project realiza-tion I will be able to analyze data indepen-dently without any help of German col-league. Hereby AAA will support me to become a good scientist.

4. Es wäre mir auch eine Ehre eine Stipen-diatin von welteit bekannte Organisation wie dem AAA zu werden.

Diese Antragsteller/innen positionieren deutsche Kollegen allgemein als große Spezialisten, bei denen sie in die Lehre gehen wollen. Einige übermitteln explizit Dank und Laudatio an den AAA (Pseud-onym für die Organisation) als weltweit bekannter Organisation, von welcher ge-fördert zu werden eine Ehre sei. In vielen Kulturen gilt es als höflich, sich selbst zu erniedrigen und das Gegenüber zu erhö-hen, was hier geschieht. Die Würdigung des AAA und der deutschen Kolleg/inn/ en wird als »face-work« (Goffman 1967) betrieben, birgt aber die Gefahr einer nicht gattungsadäquaten Selbstpositio-nierung in sich, weil der Zuschnitt sehr weit gefasst ist. Statt

»collaborating with German colleagues … müsste man konkret auf die Personen ver-weisen, bei denen man in die Lehre gehen will. Ein allgemeines Lob deutscher Institu-tionen und Experten wird nicht erwartet. Es gibt einige Hinweise darauf, dass in Osteu-ropa auch im wissenschaftlichen Feld stär-kere Bescheidenheitsideale wirksam sind als im Westen«. (Stanescu 2003)

Der Wunsch, ein Spezialist zu werden, muss so explizit nicht geäußert werden, weil man ihn besser implizit über fachli-che Interessen und Kompetenzen aus-weist. Explizitheit und Implizitheit in der Attribution von Spezialistentum führen zu unterschiedlichen Kompetenzein-schätzungen seitens westlicher Rezipi-ent(inn)en. Die explizite Bekundung, ein Spezialist werden zu wollen, verletzt in-nerhalb dieser Gattung die von Grice (1985) aufgestellte Maxime der Quantität. Das setzt man bei zukünftigen Stipen-diat(inn)en sowieso voraus. Sie indexika-lisiert leider, dass man als Anwärter(in) 1 Ich schreibe alle Textbeispiele originalgetreu ab, tilge aber im Sinne der Anonymisierung

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auf diese Spezialistenposition noch nicht agieren kann. Man muss proklamieren, was man noch nicht durch in den Antrag einfließende Sachkenntnis zeigen kann. Das zu allgemein gehaltene Lob deut-scher Wissenschaftler(innen) und die Po-sitionierung des AAA als international mächtiger Organisation, die auch an an-deren Stellen in vielen Anträgen betrie-ben werden, rahmen leider nicht den Fachdiskurs, in dem der Antrag funktio-nieren soll.

2.3 Positionierungsgefüge

Da wir uns hier hauptsächlich damit be-schäftigen, wie in den Anträgen die Selbst- und Fremdpositionierung ver-läuft, sei auf das Positionierungskonzept kurz eingegangen.

Positionierungen sind kontextgebundene Indexikalisierungen sozialer Kategorien in Beziehung zueinander.

Die Positionierungstheorie wurde be-schrieben als

»analytic tool that can be used flexibly to describe the shifting multiple relations in a community of practice«. (Linehan/Mc-Carthy 2000: 441)

Die Wissenschaften kann man als solche »communities« sehen – mit multiplen Relationen und unterschiedlichen Zu-gangsmöglichkeiten – sozial vorhanden, aber diskursiv aktualisiert. Nach Harré und van Langenhove (1999) ist die Posi-tionierungstheorie im Sozialkonstrukti-vismus verankert, der betont, dass Men-schen sich historisch gewachsener, kultu-reller Repertoires bedienen, um sich in ihren Diskursen im Verhältnis zu ande-ren zu positionieande-ren, ähnlich den Figu-renkonstellationen in einem Drama. Posi-tionierungen kommen als Triade mitein-ander verbundener Konzepte zustande: Akteure lassen in ihren Interaktionen Identitätszuweisungen (storylines) ent-stehen, quasi als ein metaphorisches

Drama. Sie vollziehen Handlungen, die mit den entstehenden Identitätszuwei-sungen im Zusammenhang interpretiert werden. Die Handlungen verschiedener Akteure können sich mehr oder weniger entsprechen oder konfligieren (Konstel-lationen).

Zurück zu Datum 3: Die problematische Identitätszuweisung an sich selbst als hilfsbedürftig kreiert ein Setting von Ent-wicklungshilfe. In diesem Positionie-rungsgefüge ist das Stipendium jetzt mo-ralisch aufgeladen. Jeder Positionie-rungsakt hat auf den anderen Agenten gerichtete Aspekte.

Im institutionellen Diskurs wie dem der Stipendienbewerbung ist der generelle Zusammenhang der Positionierungen vorab geregelt. Institutionelle Diskurse sind zielorientiert, unterliegen Spezial-normen und auch einem speziellen Rol-lengefüge, das aber ausgestaltet werden will (Redder 1983; Bardovi-Harlig/Hart-ford 2005: 9). Man kann es mehr oder weniger sach- oder moralorientiert aufla-den. Es ist im Unterschied zu vielen Ge-sprächen mehr oder weniger klar, welche Positionen und Argumente zielführende Ressourcen abgeben. Die Antragstel-ler(innen) müssen ihr Projekt als ergiebig für das Fach ausweisen und sich als fähig, es gewinnbringend auszuführen. Die Gutachter(innen) bestätigen die Antrag-steller(innen) als überdurchschnittlich motiviert und leistungsstark, bürgen so-zusagen mit ihrem Namen für eine er-folgreiche Investition und somit auch für die Konsistenz und Kohärenz der Unter-nehmung über einen längeren Zeitraum. Für die Gesamtanalyse der Gattung mit ihrer Binnen- und Außenstruktur sind Positionierungsanalysen ergiebiger als Höflichkeitsanalysen, wobei beides gut verbunden werden kann. Goffman (1967) definiert »face work« als »communicat-ing a line«, was der »story line« von Davies/Harré (1990) sehr nahe kommt.

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Die linguistische Höflichkeitsforschung hat den Prozess der Identitätszuschrei-bungen in einem sozialen Gefüge bislang aber weniger erfasst als die Positionie-rungstheorie (Kotthoff 2002b).

2.4 Inadäquate Selbstpositionierung in kultur- und geisteswissenschaftlichen Anträgen

In der Qualität der kultur- und sozialwis-senschaftlichen Anträge gibt es insge-samt viel größere Unterschiede als in der Qualität der naturwissenschaftlichen. Bei einem Drittel der geistes- und sozialwis-senschaftlichen Anträge fällt auf, dass die Charakterisierung des Forschungsgebie-tes so breit und so basal angelegt ist, dass diese nicht nur abgelehnt werden, son-dern auch Verwunderung erzeugen. Einige Antragsteller(innen) positionieren sich nicht in der institutionell erwartba-ren Identität einer zukünftigen Wissen-schaftlerin, sondern zeigen sich beispiels-weise als frühe Liebhaberin deutscher Literatur oder zitieren Lobeshymnen auf einen Autor, dessen Beziehungen zur deutschen Literatur erforscht werden sol-len. Sie wählen eine falsche »storyline«. Ich präsentiere aus diesem problemati-schen Drittel Passagen, die innerhalb der Antragsgattung deplatziert sind:

5. Fuer die uralte deutsche Sprache,

Litera-tur, die deutsche KulLitera-tur, fuer Sitten und Braeuche des deutschen Volkes interes-siere ich mich seit der Schulzeit. Ich be-gann schon damals kleine Gedichte der deutschen Schriftsteller zu lesen und aus-wendig zu lernen. Damals arbeitete noch in dieser Schule ein erfahrener Deutsch-lehrer, der sehr schoen dichtete. Er brachte mir diese schwere Kunst bei…

6. Der in Berlin studierte AB vergleicht den

xischen Dichter Y mit Shakespeare, nach-dem er die Gedichtsammlung von Y »cccc« gelesen hat: »Ich habe cccc vielmals gelesen, dann Shakespeare gelesen. Beide

ähneln einander. Zuletzt scheint mir, als ob Y Shakespeare sei oder Shakespeare Y«. Ausgehend von den obengesagten Mei-nungen möchten wir den Wert auf deutsch-xische literarische Beziehungen legen…

Die Verfasserin von 1. ist der Annahme, dass sie sich als Liebhaberin deutscher Dichtung auszuweisen hat, um von einer deutschen Organisation gefördert zu wer-den. Verfasser 2. hebt den Autor, mit dem er sich beschäftigen will, auf die Ebene von Shakespeare. Beide schildern, wie sie persönlich mit einer bestimmten Literatur in Kontakt kamen und diese schätzen gelernt haben. Solche persönlichen Essays sind interessant, entsprechen aber nicht dem im Westen praktizierten Spezialisten-diskurs. Diese Antragsteller haben nie an einer westlichen Hochschule studiert.

2.5 Deutschland als Helfer der eigenen Nation

Vor allem in Textteilsegment 7, also der Begründung der Auswahl des Studienor-tes und des Betreuers, positionieren die Antragsteller(innen) Deutschland und/ oder die betreuende Institution und/oder den Betreuer – und zwar auch hier nicht spezifisch genug. Einige Beispiele zur Begründung der Auswahl des Studienor-tes und der Betreuerin:

7. Ich sehe die Lösung des Problems nur in

der Zusammenarbeit mit anderen entwi-ckelten Ländern, welche immer bereit sind, X zu helfen. Deutschland ist ein Land, welches seit vielen Jahren hilft. Ich kenne heute viele x-ische Wissenschaftler, welche zur Zeit in X wohnen und arbei-ten, aber mit deutscher Hilfe Wissen-schaftler in Deutschland geworden sind. Schon mehr als 10 Jahre gibt die AAA den x-ischen Studenten und Wissenschaftlern eine solche Hilfe. Das ist eine Entwick-lungshilfe für unser Land.

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8. Die Entwicklung einer guten

Zusammen-arbeit mit den deutschen C-Spezialisten seit Anfang der 90er Jahren ist eine grosse Errungenschaft der deutsch-xischen Zu-sammenarbeit. Diese Zusammenarbeit um-fasst verschiedene Bereiche, darunter auch Forschungsaufenthalte der xischen Dokto-randen und Nachwuchswissenschaftler an deutschen Universitäten und Forschungs-instituten. […] Auch das xische C-Denken ist am deutschen Vorbild orientiert.

9. In Deutschland hätte ich die Möglichkeit,

für mein Dissertationsthema nicht nur die wissenschaftlichen Materialien zu sammeln, sondern auch mich mit der Gerichtspraxis auf dem Gebiet des XY vertraut zu machen. Das würde meine Dissertation in bedeutender Masse inhalt-lich bereichern und dazu beitragen, dass das Dissertation nicht obeflächliche, son-dern eine gründliche wissenschaftliche Forschung wird. Durch die Anwendung der grossen wissenschaftlichen, intellel-lektuellen und materiell-technischen Ba-sis, die es in Deutschland besteht, wird die Ausführung der Dissertationsarbeit auf dem hohen Niveau gefördert.

Auch in den Ausschnitten 7, 8 und 9 wird die wissenschaftliche Förderung wieder als Entwicklungshilfe gerahmt. Das eigene Land oder der eigene Arbeitsbereich wer-den als defizitär und hilfsbedürftig ausge-wiesen. Metaphorisch klopfen in den An-trägen die 2. und 3. Welt bei der 1. an. Ein professionelles Beziehungsgefüge wird so kaum indexikalisiert. Allgemei-nes Deutschlandlob kombiniert mit Hilfsappell entprofessionalisiert sogar den Diskurs.1 Es müsste stattdessen durch Kenntnis der Arbeiten einer Be-treuerin implizit Wertschätzung zum

Ausdruck gebracht werden. Man muss auch nicht explizieren, dass die Disserta-tion nicht oberflächlich werden soll. Da-von gehen die Beteiligten sowieso aus.

2.6. Die Positionierung der Antragstel-ler(innen) durch die Gutachter(innen)

Die Antragsteller(innen) werden inner-halb der Gattung auch fremdpositioniert. Den Anträgen von Postgraduierten lie-gen die bereits erwähnten Gutachten von Professor(inn)en der Heimatuniversitä-ten bei, die ebenfalls verschiedene Fragen beantworten, z. B. die, wodurch sich die Bewerberin auszeichne.

Fast alle Gutachter kreuzen an, dass sich die Bewerberin unter den 5 % der besten Studierenden befindet; damit wird sie in der Spitze positioniert.

Weitere positive Eigenschaften werden genannt, so das allgemeine Engagement für das Forschungsthema und Fleiß. Die Positionierung umfasst persönliche (de-cides all problems, s. u.), rollenbedingte (highly qualified) und moralische Attri-bute (fleißig und arbeitsam), meist in Überlappung.

Beispiele der Beantwortung von Frage 3 der Gutachterformulare »Wodurch zeich-net sich die Bewerberin/der Bewerber fachlich und persönlich aus und wie be-urteilen Sie ihr/sein Potential«:

10. Sie ist sehr fleissig und arbeitsam und gibt

sich ihrem Thema vollständig hin. X Y will sich mit ihrem Thema nicht einfach beschäf-tigen, sondern die sie interessierenden Fra-gen gründlich behandeln und erforschen.

11. He is one of the highly qualified scientists

and independently decides all problems. He participates in the educational and

scien-1 Im Hintergrund mag das Konzept sozialistischer Bruderhilfe aufscheinen. Zu sowjeti-scher Zeit vergab Russland für Studierende aus den anderen Sowjetrepubliken viele Stipendien. Dies fungierte im Rahmen von Bruderhilfe. Ein Lob des »großen Bruders« und seiner Errungenschaften war üblich.

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tific life of department, learns experimental and theoretical aspects of modern science.

12. Sie ist motiviert, verantwortungsvoll,

zielstrebig, leistungsfähig. Sie kann theo-retische und empirische Forschungen zu gutem Erfolg führen.

13. I believe that her visit in Prof. X’s

labora-tory would be very beneficial for her devel-opment as a scientist. She will learn new research technique of the latest interna-tional standard and she will bring this knowledge into our department.

Ohne eine Positivaussage hat ein Antrag schlechte Chancen. Aber Aussagen wie »X Y will sich mit ihrem Thema nicht einfach

beschäftigen, sondern die sie interessierenden Fragen gründlich behandeln und erforschen«

oder

»decides all problems«

sind zu unspezifisch, um eine angehende Expertin als solche auszuweisen. Noch nicht einmal ein Drittel aller An-tragsteller(innen) nimmt im Zentraltext des Gesamtantrags zu seiner persönli-chen Eignung und inhaltlipersönli-chen Vorberei-tung Stellung. Das Segment geht aber einerseits aus den Examina und Publika-tionen hervor (wird somit implizit ausge-wiesen) und findet sich andrerseits im-mer in den Gutachten der Professoren der Heimatuniversität, oft auch in denje-nigen der Gastbetreuer. Insofern findet die Positionierung eines Kandidaten als »geeignet« gerade im Aufeinanderbezug verschiedener Textsorten statt. In dieser Gattung werden im Sinne Bachtins ver-schiedene Stimmen zusammengeführt, die verschiedene Perspektiven auf die Antragstellerin entstehen lassen. Im kommunikativen Haushalt unserer Ge-sellschaft, insbesondere im wissenschaft-lichen Feld, hat sich diese soziodiskur-sive Praxis so verfestigt, dass wir mit Luckmann (1988) und Günthner/Luck-mann (2002) beim Stipendienantrag von

einer Gattung sprechen. Diese vereinigt in sich unterschiedliche Textsorten. Die Gattung hat einen spezifischen Platz im kommunikativen Haushalt der merito-kratischen Gesellschaft.

Bildlich gesprochen tritt die Antragstelle-rin in der Antragsgattung zusammen mit ihren wissenschaftlichen Eltern auf. Hier zeigt sich mit Goffman (1967), wie der primäre Rahmen der Eltern-Kind-Bezie-hung auch in späteren Rahmungen von Lehr-Lern-Beziehungen durchschlägt. Lucius-Höne/Deppermann (2002: 200) verweisen darauf, dass Positionierungs-handlungen in Interaktionen aufeinan-der Bezug nehmen. Im Stipendienantrag finden wir Positionierungsaktivitäten verschiedener Autoren, die sich gegen-seitig zwar unterstützen, graduell aber durchaus unterschiedlich.

Mit dem linguistischen Anthropologen Tedlock (1993) könnte man sagen: zu viel Repräsentation, zu wenig Evokation. Der zu hohe Allgemeinheitsgrad der Aussa-gen positioniert die Antragstellerin nicht im wissenschaftlichen Feld, sondern als Schülerin, die noch davor steht.

Die Rahmung der Eltern-Rolle setzt sich in Frage 5 nach der Bedeutung des Sti-pendiums für den Werdegang der Bewer-berin/des Bewerbers fort (mehr als zur Hälfte auf Englisch abgefasst, wie ge-sagt). Außerdem finden wir auch hier eine Positionierung des Stipendiums als Unterstützung der Nation:

Beispiele:

14. That knowledge, which she can obtain by

this project, will help her to stay a master in the field of x methods (specially in y). She will solve the group of problems, which have many difficulties. She has the potential to stay a good scientist and do so much for the prosperity of Xcountry.

15. I know that the PhD will assist in moving

him forward at CC university as well as allow him to contribute to the

(13)

develop-ment of the civil society in X. He will be able to impart additional knowledge to students and others throughout the coun-try and play an active role in allowing for proper and stable growth of his country.

16. Erfahrene, in Deutschland ausgebildete

Lehrkräfte sind für die Weiterentwicklung der x-ischen Y-Wissenschaft dringend notwendig. Es wäre ein Gewinn für uns, wenn Frau AB die Chance erhalten wür-de, ihr Forschungsvorhaben in Deutsch-land zu erarbeiten.

In den Gutachten westlicher Professoren für ihren Nachwuchs findet sich in der Regel ein höherer Grad an Spezifizie-rung, was mit Sprachniveau und Ver-trautheit mit dem hiesigen wissenschaft-lichen Feld zu tun haben dürfte. Auch ist die moralische Beurteilung der Person der Qualität des Forschungsvorhabens und der Leistungsstärke der Person un-tergeordnet. Je detaillierter ein Gutachter auf Aktivitäten des Bewerbers eingeht, umso vertrauter zeigt er sich mit dessen Agieren, umso mehr Einblick gibt er auch in die Arbeit seiner Abteilung.

Beispiel:

17. XY gehört zu den leistungsstärksten

Teil-nehmern meiner Veranstaltungen zu AB, an denen sie aktiv und regelmäßig teil-nahm. Sie erbrachte sowohl im Rahmen der Mitarbeit in den Veranstaltungen wie auch in der Klausur überdurchschnittli-che Leistungen. Sie verfügt über gute Y-Kenntnisse. Sie beherrscht die deutsche Sprache auf einem sehr hohen Niveau, so dass es ihr ohne Probleme möglich ist, die Forschungsarbeit u. a. in deutscher Spra-che gewinnbringend in Angriff zu neh-men. Die Bewerberin ist ein freundlicher und aufgeschlossener Mensch. Sie ist flei-ßig, diszipliniert und zielstrebig.

18. In der Beschäftigung mit AB ist ein

Sta-dium erreicht, wo die Erforschung der Frage von C ansteht. Frau M bietet dafür sehr gute Voraussetzungen, da sie schon

in ihrer Magisterarbeit die C-Frage pro-duktiv angegangen ist. Sie kennt die in-ternationale Literatur. Es kann ein rele-vanter Beitrag von ihr erwartet werden. Sie ist schon im Zusammenhang der Ma-gisterarbeit mit Prof. D. in Kontakt gewe-sen. Frau M ist auch mit seinen Promo-vierenden bereits in einen fruchtbringen-den Austausch getreten.

Gemeinsam ist diesen gutachterlichen Fremdpositionierungen, dass die junge Forscherin als positiv aus der Masse tre-tend vorgeführt wird. Gutachter(innen) aus dem deutschsprachigen Raum ge-wichten die Fachkenntnisse, den bereits erbrachten Kompetenzausweis und die Relevanz des Projektes höher als die mo-ralische Beurteilung der Person.

2.7 Die Betreuungszusagen der deut-schen Professor(inn)en

Die Betreuungszusagen der hiesigen Pro-fessor(inn)en enthalten sich der morali-schen Beurteilungen und lauten typi-scherweise so:

19. Herr/Frau XY aus A, Doktorand des

Fa-ches B, hat mich gebeten zu seinem An-trag auf Förderung Stellung zu nehmen. Das tue ich hiermit gerne.

Frau/Herr XY beabsichtigt, zum 1.1.2008 ein Promotionsstudium am FB B der C-Universität unter meiner Betreuung auf-zunehmen. Vorangegangen ist ein reger Informationsaustausch, in welchem mir die Unterlagen über die bisherige Ausbil-dung von Frau/Herrn Y sowie eine Pro-jektskizze zu einer Arbeit über »The Con-cept of ABC and its Applicability to D« vorgelegen haben.

20. Frau/Herr XY möchte x-wissenschaftlich

die xxx Konsequenzen des Paradigmen-wechsels hin zu YY untersuchen. Die von ihm angestellten Überlegungen erschei-nen mir als tragfähig und viel verspre-chend. Der bisherige Ausbildungsgang des Kandidaten lässt eine viel

(14)

verspre-chende Untersuchung erwarten. Ich bin daher bereit, Frau/Herrn XY zu betreuen. Ich würde mich freuen, wenn dies vom AAA ermöglicht werden könnte.

Sie geben fast alle über die genauen Um-stände des Kontaktes Auskunft und sind deutlich sachorientiert. Der Betreuer weist aus, woher er den Bewerber/die Bewerberin kennt, warum sich die For-schung lohnt und was den Bewerber qua-lifiziert; er übernimmt explizit die Be-treuungsverantwortung. Hier finden sich keine Elogen auf die AAA oder die Hei-matuniversität des Kandidaten, sehr oft aber der Ausdruck von Dank.

Im Zentrum steht der wahrscheinliche Erfolg der Arbeit, oft als von gegenseiti-gem Vorteil gekennzeichnet.

Es fällt manchmal eine gewisse Standar-disierung in den Formulierungen auf. Je höher der Standardisierungsgrad, umso unpersönlicher ist das Gutachten zuschnitten. Dies lesen Kommissionen ge-meinhin als Zeichen niedrigen Engage-ments für den Bewerber. Die Textsorte der Betreuungszusage wird nicht nur auf explizite Aussagen hin rezipiert, sondern auch in der Ikonizität des Aufwandes wahrgenommen.

3. Fächerkulturen

75 % der technisch-naturwissenschaftli-chen Antragsteller(innen) (einschließlich Mathematik) gehen auf das methodische Vorgehen ein. Manche nennen die Gerä-te, mit denen sie in Deutschland arbeiten können. Daraus lässt sich das methodi-sche Vorgehen ableiten. An den sowjeti-schen Akademien der Wissenschaft herrschte in allen Bereichen, die für

Rüs-tung, Kerntechnik und Raumfahrt von Interesse waren, ein hohes wissenschaft-liches Niveau (Pogorel’skaja 2008). Im sozialwissenschaftlichen Bereich fin-den sich Erläuterungen des Vorgehens und die Klärung der Textgrundlage in juristischen Anträgen. Hier wirkt sich u. a. der rege Austausch mit deutschen Juristen aus, die in der postsozialisti-schen Zeit Regierungen bei der Konstitu-tion verschiedener Gesetzbücher beraten haben und in dem Zusammenhang auch an Universitäten Vorlesungen hielten. Hauptsächlich aber sind Management und Rechtswissenschaften wegen ihrer Marktgängigkeit vom postsowjetischen Abbau der Forschungsinstitute nicht be-troffen (Pogorel’skaja 2008: 39).

Viele Anträge aus den Sozial- und Kul-turwissenschaften lassen Ausführungen zum methodischen Vorgehen vermissen. Auch dieses Manko bekräftigt den Lektü-reeindruck von einem insgesamt zu ho-hen Allgemeinheitsgrad. Will etwa ein Stipendiat erforschen, ob der schulische und universitäre Deutschunterricht auch kulturelle Kompetenzen vermittelt, so liest man allgemeine Ausführungen dazu, was (inter)kulturelle Kompetenz sei, nichts aber zum geplanten Vorgehen bei der Erhebung oder zur Operationali-sierung von Kompetenzbereichen. Sollen Unterrichtsmaterialien analysiert wer-den, soll eine Dozentenbefragung durch-geführt werden, will die Antragstellerin Effekte von Auslandsaufenthalten eruie-ren? Wir erfahren es nicht.1

Wir begegnen auch zu vielen literatur-wissenschaftlichen und philosophischen Anträgen, aus denen fast nur Kenntnis der Primärliteratur hervorgeht, kaum 1 Auch wenn konzediert werden muss, dass viele sich ja erst im Laufe der Arbeit an ihrem Thema für bestimmte Erhebungsmethoden entscheiden werden, ist es bei empirischen Fragestellungen im deutschsprachigen Raum auch bei studentischen Abschlussarbeiten üblich, frühzeitig Angaben zum geplanten Vorgehen zu machen, wohl wissend, dass dies sich im Laufe der Studie noch ändern kann.

(15)

aber der Sekundärliteratur. Anerkannte Internet-Publikationen finden sich bis-lang so selten in den Anträgen, dass man neben dem mangelnden Bewusstsein für Methodenreflexion auch von Wissens-mängeln bezüglich des Internets als Res-source ausgehen muss.

4. Wissenschaftliche Handlungsge-meinschaften

Der große Unterschied zwischen den technisch-naturwissenschaftlichen An-trägen und den sozial- und kulturwissen-schaftlichen dürfte damit zu tun haben, dass der Fortschritt im ersten Bereich in der ehemaligen Sowjetunion auch nach dem Systemwechsel besser garantiert war und zudem weniger ideologieanfäl-lig war.

Nicht zuletzt dieser Unterschied bewahrt uns davor, im wissenschaftlichen Feld nationalkulturelle Geprägtheiten zu su-chen; stattdessen begegnen wir fachspe-zifischen und interdisziplinären »com-munities of practice« (Wenger 1998) mit vagen und flüssigen Außengrenzen und mehr oder weniger einheitlichen Orien-tierungen. Corder/Meyerhoff (2007: 441– 465) charakterisieren Handlungsgemein-schaften unter Rückgriff auf Arbeiten von Wenger und Eckert/McConnell-Gi-net (1992) als geprägt durch: »mutual engagement of members, members’ jointly negotiated enterprise, and mem-bers’ shared repertoire« (Corder/Meyer-hoff (2007: 444). Eine lokal geteilte Ge-schichte ist in der Kommunikation im-mer bedeutsam. Darüber hinaus spielen in wissenschaftlichen Handlungsge-meinschaften vor allem institutionelle Abläufe mit ihren Zertifizierungen und Zugangsregelungen eine Rolle.

Als kultureller Hintergrund einer uns vertrauten oder unvertrauten Antragsge-staltung ist Institutionenspezifik im Sinne der Wissenssoziologie zu veran-schlagen. Es geht bei der Analyse

textuel-ler Differenzen nicht darum, Georgisch-oder Kirgisisch (etc.) zu sein im Sinne einer quasi essentialistischen Differenz-ressource, sondern es geht um differente gesellschaftliche Organisationen des wis-senschaftlichen Feldes mit seinen Qualifi-kations- und Zugangsnormen, seinen Textsorten, Gattungen und Ideologien. Einem Teil der Nachwuchswissenschaft-ler(innen) aus dem Süden der ehemali-gen UdSSR fehlt ein entsprechendes Handlungswissen für ein erfolgreiches Agieren im westlichen wissenschaftli-chen Feld. Ihnen sind auch leichte Zu-gangsmöglichkeiten zu im Internet publi-zierter Literatur nicht bekannt. Die Män-gel im Genre des Stipendienantrags ver-weisen auf die tatsächlich schwache Inte-gration in ein überregionales wissen-schaftliches Feld. Im Rahmen dieses Arti-kels kann ich die postsowjetische Wissen-schaftsorganisation nicht charakterisie-ren. Sie ist z. B. insgesamt weniger meri-tokratisch als die westliche, Stellen wer-den z. B. nach wie vor nicht öffentlich ausgeschrieben, sondern institutsintern vergeben. Man bewirbt sich kaum auf Stellen an fremden Universitäten; Profes-soren suchen sich ihre Nachfolger(innen) nach wie vor selbst aus. Man findet u. a. deshalb kein annähernd so reges Netz-werk von Colloquien und anderen Foren des wissenschaftlichen Austauschs wie hierzulande; somit ist die interuniversitä-re Kontaktdichte geringer als in den meisten westlichen Ländern. Konzepte sozialistischer Bruderhilfe mit einem Lob des »großen Bruders,« die zur sowjeti-schen Zeit üblich waren (der wissen-schaftliche Nachwuchs aus den Sowjetre-publiken bemühte sich vornehmlich um Aufenthalte an russischen Universitäten und Akademien) bilden auch eine Res-source für die Antragsgestaltung. Die Omnipräsenz des Kulturbegriffs hat in den letzten Jahren vernehmbare Stim-men geweckt, die kulturalistische

(16)

Reduk-tionismen und regelrechte Holzwege bei der Erklärung zahlloser interindividuel-ler und intergruppainterindividuel-ler Verhaltensunter-schiede beklagen (Straub 2007: 9). Ich hoffe, sowohl deskriptiv unangemessene Homogenisierungen als auch die Totali-sierung einer Kultur in Abgrenzung von einer anderen vermieden zu haben.

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Helga Kotthoff

Dr. phil.; Professorin für Deutsch als Fremdsprache und Germanistische Lin-guistik an der Universität Freiburg. Fach-gebiete: Mündlichkeit/Schriftlichkeit; In-teraktionsforschung; Interkulturelle Kommunikation.

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Erinnerungsgeschichtliche Deutschlandstudien

in Bulgarien

Theoriekonzepte – unterrichtspraktische Ansätze –

Lehr-erfahrungen

1

Roger Fornoff

Zusammenfassung

Ausgehend von einer Skizze basaler Elemente der Gedächtnisforschung entwickelt der Aufsatz ein Konzept zur landeskundlichen Vermittlung »deutscher Erinnerungsorte« in interkulturellen Zusammenhängen. Dabei werden vier Prinzipien für die Auswahl und Behandlung der Erinnerungsorte diskutiert: 1) das Prinzip der Perspektivität, Varietät und Konfliktivität, 2) das Prinzip der Gegenwartsrelevanz, 3) das Prinzip der interkulturellen Ausrichtung und 4) das Prinzip der Mediengebundenheit kollektiver Erinnerungen. Zuletzt werden signifikante Erfahrungen des Verfassers im Kontext seiner landeskundlich-erinnerungsgeschichtlichen Lehrtätigkeit am Zentrum für Deutschland- und Europastu-dien in Sofia/Bulgarien geschildert und reflektiert.

1. Zur Einführung

»Alles spricht dafür«, schrieb Jan Ass-mann 1992 zu Beginn seiner längst zum Standardwerk avancierten Studie Das

kul-turelle Gedächtnis, »daß sich um den Begriff

der Erinnerung ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften aufbaut, das die verschiedenen kulturellen Phänomene und Felder – Kunst und Literatur, Politik und Gesellschaft, Religion und Recht – in neuen Zusammenhängen sehen läßt« (J. Assmann 1992: 11). 15 Jahre später hat sich Assmanns Prognose eindrucksvoll bestä-tigt. Zwar lässt sich, nicht erst seit den frühen 1990er Jahren, geradezu von einer Explosion z. T. bahnbrechender

kultur-wissenschaftlicher Neuorientierungen sprechen – zu nennen wären u. a.

postcolo-nial, performative, iconic oder spatial turn

(vgl. Bachmann-Medick 2006) –, doch die Gedächtnis- und Erinnerungsforschung hat ohne Zweifel einen besonders großen Anteil am anhaltenden Aufschwung der Kulturwissenschaften in Deutschland. Der Boom der Gedächtnisforschung in den 1990er Jahren verdankte sich nicht nur der Tatsache, dass mit diesem Ansatz von Anfang an das Versprechen einer Moder-nisierung und wissenschaftspolitischen Aufwertung der altehrwürdigen deut-schen Geisteswissenschaften in Richtung auf eine international anschlussfähige, 1 Überarbeitete und annotierte Fassung des Vortrags an der Universität Bielefeld am 4. Januar 2008, gehalten im Rahmen der Ringvorlesung »Deutsch als Fremdsprache«.

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transdisziplinäre Kulturwissenschaft ver-bunden war (vgl. Frühwald 1996); er hatte auch mit der aus den traumatischen Erfah-rungen der deutschen Geschichte seit 1933 resultierenden besonderen Virulenz des Themas »Gedächtnis und Erinnerung« in Deutschland zu tun. Dass Deutschland in erinnerungskultureller Hinsicht keine Na-tion wie jede andere ist und einmal mehr ein nationales »Sonderbewusstsein« aus-geprägt hat bzw. ausprägen musste, das gehört dementsprechend zu den Gemein-plätzen geschichts- und kulturwissen-schaftlicher Gedächtnisforschung in Deutschland: »Der deutsche Sonderweg«, notiert Aleida Assmann in diesem Zusam-menhang, »der durch Hitler und die Fol-gen bestimmt ist, macht die Frage nach dem nationalen Gedächtnis in Deutsch-land ebenso unerquicklich wie notwen-dig. Auschwitz ist die nationale Katastro-phe, die das kulturelle Gedächtnis der Deutschen gesprengt hat und sprengt« (A. Assmann 1993: 8).

Längst sind die theoretischen, metho-dischen und thematischen Impulse der Gedächtnisforschung auch vom Fach Deutsch als Fremdsprache aufgenom-men worden und haben dort im Bereich der Landeskunde zusehends an Bedeu-tung gewonnen. Als wichtigster Bezugs-punkt hat sich dabei das von dem franzö-sischen Historiker Pierre Nora ausgear-beitete Konzept der lieux de mémoire (dt.: Erinnerungsorte) herauskristallisiert, von dem u. a. ein kürzlich erschienenes DaF-Lehrwerk zu exemplarischen deut-schen Erinnerungsorten angeregt wor-den ist (vgl. Schmidt/Schmidt 2007a). Das mnemotopologische Konzept Noras kommt den Zwecken einer kulturwissen-schaftlich orientierten Landeskunde vor allem deshalb entgegen, weil es, anders als die Gedächtnistheorien von Maurice Halbwachs und Jan Assmann, denen es vor allem um die basalen Funktionsme-chanismen des kollektiven bzw.

kultu-rellen Gedächtnisses geht, die Möglich-keit eröffnet, das Gedächtnis konkreter sozialer Gruppen über eine Analyse ihrer symbolischen Erinnerungsträger syste-matisch zu erklären. Auf diese Weise liefert der Ansatz Noras einen theore-tischen Schlüssel, mit dem kulturelle Selbstentwürfe sprachlich, ethnisch oder national definierter Kollektive als Reflexe gemeinsamer historischer Erinnerungen rekonstruiert und somit jene impliziten lebensweltlichen Wissensbestände aufge-deckt werden können, die als intersub-jektive Voraussetzungen sprachlich-kommunikativer Handlungen seit jeher im Fokus des landeskundlichen Erkennt-nisinteresses stehen.

Der kulturwissenschaftliche Gedächtnis-diskurs hat freilich nicht nur in die deut-sche Fremdsprachenphilologie Eingang gefunden; er spielt zudem eine wichtige Rolle in den von den angloamerika-nischen Area Studies beeinflussten, pri-mär auf die Vermittlung kulturraumbe-zogenen Wissens orientierten interdis-ziplinären German und European Studies, wie sie sich u. a. an den vom DAAD mitgetragenen Deutschland- und Euro-pazentren in den letzten 15 Jahren her-ausgebildet haben. Einen besonderen Stellenwert besitzt der Gegenstandsbe-reich Gedächtnis und Erinnerung am Zentrum für Deutschland- und Europa-studien in Sofia/Bulgarien (ZEDES-Ger-manicum), wo er curricular fest im Rah-men des deutschsprachigen Masterpro-gramms verankert ist und als eigenstän-diges Modul des Teilbereichs Kulturwis-senschaft von den Studierenden absol-viert werden muss. Seit dem Winterse-mester 2003 unterrichte ich als DAAD-Lektor am ZEDES-Germanicum im Be-reich Kultur und habe dort insgesamt viermal das Seminar »Kulturelles Ge-dächtnis und Erinnerung« mit dem Schwerpunkt »Deutsche Erinnerungs-orte« durchgeführt. Dabei habe ich in der

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konkreten Unterrichtspraxis durchaus ambivalente Erfahrungen mit diesem Thema gemacht; denn einerseits konnte ich in zahlreichen Diskussionen beobach-ten, dass der gedächtnistheoretische An-satz eine vertiefte Auseinandersetzung mit fremdkulturellen Mentalitäts- und Identitätsphänomenen ermöglicht und so gerade komplexe landeskundliche In-halte zu erschließen vermag. Anderer-seits trafen der Gedächtnisdiskurs und die mit ihm verbundene »konstruktivisti-sche« Relativierung historischer Sinnbe-stände (vgl. Müller 2003: 88 ff.) nicht sel-ten auf massive Widerstände, die offen-kundig auf gänzlich divergente Begriffe von Geschichte, Nation und Erinnerung bei einem Teil der südosteuropäischen, in der Mehrheit bulgarischen Studierenden zurückzuführen waren. Sehr schnell wurde deutlich, dass die Gedächtnis-problematik in Bulgarien ein nicht unbe-trächtliches Konfliktpotenzial zu entfal-ten in der Lage ist. Ihr Einsatz in prak-tischen Unterrichtszusammenhängen be-darf daher einer didaktischen Reflexion, die interkulturelle Gesichtspunkte expli-zit mit einbezieht.

2. Memoriale Topologie – Grundlagen

Pierre Nora hat sein Modell der »Erinne-rungsorte« im Rahmen eines monumen-talen Sammelwerks zur französischen Ge-schichte entwickelt, das unter dem Titel

Les lieux de mémoire in den Jahren 1984,

1986 und 1992 in drei Teilbänden (La

Ré-publique, La Nation, Les France) erschienen

ist (vgl. Nora 1984–1992). Das anfangs nur auf die Epoche der Dritten Republik kon-zentrierte, im Verlauf der Arbeit jedoch immer weiter anwachsende historiogra-phische Großprojekt enthält insgesamt mehr als 130 Aufsätze zu nationalen »Er-innerungsorten«, die in ihrer Gesamtheit eine Art Inventar des französischen Kol-lektivgedächtnisses zu erstellen suchen. Von Anfang an plante Nora kein

chronolo-gisch oder linear organisiertes, mit den konventionellen Methoden der Historio-graphie operierendes Geschichtswerk, sondern eine neue Art der geschichtlichen Darstellung, die »Kristallisationspunkt[e] kollektiver Erinnerung und Identität« (François 2005: 9) in den Blick nimmt und damit weniger historische Faktizitäten als vielmehr Aspekte des Symbolischen und Imaginären untersucht. Der von Nora in diesem Zusammenhang verwendete Be-griff des Erinnerungsortes, der schon zu Beginn des Projekts eine zentrale Rolle spielt, sich in dessen Fortgang aber immer weiter präzisiert und ausfaltet, rekurriert auf Frances A. Yates’ kultur- und gedächt-nistheoretische Studie The Art of Memory (dt. Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von

Aristoteles bis Shakespeare, 1990), die in den

1960er Jahren die weithin vergessene Tra-dition antiker Gedächtniskunst freilegte und dabei die spatiale und topologische Dimensionierung mnemotechnischer Ver-fahren wieder ins Bewusstsein rückte. Yates erinnert in ihrer Untersuchung nicht nur daran, dass die Gedächtniskunst ur-sprünglich in den Umkreis der antiken Rhetorik gehört und eine Technik der mentalen Speicherung und Memoration von Volks- und Gerichtsreden war; sie zeigt außerdem, dass diese Technik darin bestand, einzelne Elemente einer Rede mit Räumen oder Gegenständen eines Hauses zu verbinden. Antike Mnemotechnik be-deutet ein Register von loci memoriae zu erstellen und mündet mithin in topische Konstruktionen. Nach diesem Muster be-stimmt Nora Erinnerungsorte als loci im weitesten Sinne, d. h. als reale und ima-ginäre Orte, die Erinnerungsbilder – in diesem Fall der französischen Nation – aufrufen und somit gleichsam zeichenhaft auf kulturelle Narrative verweisen. Erin-nerungsorte sind also nicht nur als Orte im geographischen Sinn zu verstehen, viel-mehr handelt es sich bei ihnen um all jene historischen und kulturellen Phänomene,

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über die eine Nation, sei es bewusst oder unbewusst, ihre kollektive Erinnerung und Identität konstruiert und kontinuiert. Erinnerungsorte können also in den unter-schiedlichsten Formen auftreten: als Denkmäler, Bauwerke, Feste und Gedenk-feiern, Rituale, historische Gestalten, Kunstwerke, literarische oder wissen-schaftliche Texte oder politische Lo-sungen; entscheidend ist, dass sich über ihre kulturelle Aneignung Nationen als Erinnerungsgemeinschaften konstituie-ren.

Im Hintergrund des Noraschen Kons-trukts einer »nation-mémoire« (vgl. Erll 2005: 25) steht die bis heute grundle-gende Theorie des kollektiven Gedächt-nisses, die der französische Soziologe Maurice Halbwachs bereits in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts entwi-ckelt und in der inzwischen klassisch gewordenen Untersuchung Les cadres

so-ciaux de la mémoire von 1925 (dt. Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen,

1985) niedergelegt hat. Darin kennzeich-net Halbwachs das Gedächtnis als sozi-ales bzw. sozial-konstruktivistisches Phä-nomen (vgl. J. Assmann 1992: 35, 47) und entfaltet die These, dass individuelle Er-innerung immer sozial bedingt ist, weil sie erst über soziale Bezugsrahmen, die sogenannten »cadres sociaux«, d. h. über kommunikativ produzierte, kollektiv ge-teilte und zeitlich und räumlich diffe-rente Muster der Wahrnehmungs- und Erfahrungsorganisation konstituiert wird. »Die Rahmen, […] die uns die Rekonstruktion unserer Erinnerungen nach ihrem Verschwinden erlauben«, schreibt Halbwachs, »sind nicht rein in-dividuell; sie sind […] den Menschen der gleichen Gruppe gemeinsam« (Halb-wachs 1985: 182 f.), und sie bilden, so ließe sich präzisierend hinzufügen, den kollektiven und temporalen Horizont, in dem eine Kultur vergangene Ereignisse und Erfahrungen verortet, deutet und

erinnert. Anders als mnemotechnische Verfahrensweisen sind Erinnerungsakte mithin keine objektiven Speichervorgän-ge, in denen Vergangenheitsbestände eingelagert, aufbewahrt und bei Bedarf in unveränderter Weise abgerufen wer-den; es handelt sich bei ihnen vielmehr um rekonstruktive Prozesse, in denen Vergangenheiten durch soziale Deu-tungsmuster immer wieder neu erzeugt und damit unweigerlich verformt, ent-stellt und umgewertet werden. Halb-wachs sieht das individuelle Gedächtnis in eine Vielzahl von Gruppengedächtnis-sen eingebunden, etwa das Familien-, das Generationengedächtnis oder das Gedächtnis religiöser oder nationaler Gruppen, die in ihrer Gesamtheit das kollektive Gedächtnis bilden. Individu-elles und kollektives Gedächtnis sind folglich keine getrennten, sondern letzt-lich miteinander verknüpfte, ja koinzi-dente Instanzen, die insofern in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis stehen, als sich, so Halbwachs, »das Indi-viduum erinnert, indem es sich auf den Standpunkt der Gruppe stellt«, während sich das Gedächtnis der Gruppe in den individuellen Gedächtnissen verwirk-licht und offenbart (vgl. Halbwachs 1985: 23). Als Erinnerungsbestand einer sozial begrenzten Gruppe ist das kollektive Ge-dächtnis partikular, plural, parteiisch, wertend und in hohem Maße affektiv besetzt. Zudem verfährt es selektiv, in-dem es sozial dysfunktionale Erinne-rungen ausscheidet und primär jene Ele-mente der Vergangenheit bewahrt, die die Gruppe stabilisieren und ihrer Kohä-renz dienen. Das kollektive Gedächtnis erscheint so als das wichtigste Bindeglied einer sozialen Gruppe, denn durch den Bezug auf spezifische kollektiv bedeut-same historische Phänomene definiert es ihr Selbstbild, veranschaulicht ihre Zu-sammengehörigkeit und sichert über-dies, indem es ein Bewusstsein von

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