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Das zentrale theoretische Konzept dieser Arbeit ist der Chronotyp. Danach kann sich jeder Mensch auf einem Kontinuum von extremem Morgentyp über Mischtypen bis hin zu ext-remem Abendtyp einstufen. Wir untersuchten die Schlafgewohnheiten von Sekundarstu-fenschülern und evaluierten ein Unterrichtskonzept zur Chronobiologie. Jugendliche wei-sen eine starke Neigung zum Abendtyp und in Folge ein erhebliches Schlafdefizit auf. Resul-tierend aus dem nächtlichen Schlafmangel entwickeln Sekundarstufenschüler insbesonde-re an Schultagen eine hohe Tagesschläfrigkeit, die die schulischen Leistungen beeinträchti-gen kann.

Der Chronotyp ist ein komplexes emergentes Phänomen. Dynamische Rhythmen erzeugen Wechselwirkungen zwischen Komponenten auf der geophysischen, der physiologischen, der psychologischen und der soziokulturellen Ebene. Die Forschung zum Chronotyp muss deswegen interdisziplinär ansetzen: sie verbindet die täglichen und jährlichen Zyklen un-seres Planeten mit den physiologischen Rhythmen des Lebens, mit Charaktereigenschaften und mit sozialen Erwartungen. Der Rhythmus von Schlafen und Wachen orientiert sich an diesen Zeitgebern. Jeder einzelne muss seinen circadianen Rhythmus also fortwährend mit zwei externen Zeitgebern synchronisieren (Entrainment): mit dem Tag-Nacht-Wechsel und mit sozialen Erwartungen, die nicht immer im Einklang miteinander stehen; so zwingt bei-spielsweise die Zeitumstellung zur Sommerzeit allen einen sozialen Jetlag auf und der Schulbeginn bei Dunkelheit in den Wintermonaten weckt uns, bevor unsere innere Uhr uns signalisieren kann, dass es Tag ist. Erschwerend kommt hinzu, dass sich Jugendliche häufig mit zwei oder mehr gegensätzlichen sozialen Erwartungen konfrontiert sehen, die sie nicht in Einklang bringen können; beispielsweise Regeln des Elternhauses einerseits, Regeln der Peer-Group andererseits. Die Schüler stehen somit vor der Herausforderung, im Tag-Nacht-Wechsel die Bedürfnisse ihrer biologischen Körperlichkeit und in sich widerstrebende Er-wartungen ihrer sozialen Welt täglich auszubalancieren, mit dem Ziel der fortlaufenden zeitlichen Synchronisation ihrer körperlichen Vigilanz mit der Vigilanz ihrer sozialen Welt.

Da sich der circadiane Rhythmus (Chronotyp) aus allen Ebenen des Lebens speist, war eine umfangreiche Untersuchung erforderlich, die das Zusammenspiel physiologischer, psycho-logischer und soziokultureller Faktoren erhebt. Im Fragebogendesign wurde, soweit mög-lich, auf bestehende Skalen zurückgegriffen. In 2009/2010 wurden 3.501 Sekundarstufen-schüler an 34 Regelschulen in Heidelberg, Mannheim und im Rhein-Neckar-Kreis zu ihrem Schlafrhythmus und zu Faktoren, die den Schlafrhythmus beeinflussen können, befragt. Die Datenerhebung entsprach den ethischen Richtlinien des Regierungspräsidiums Karlsruhe und der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Die Datenerhebung erfolgte mit Zustim-mung der Eltern, auf freiwilliger Basis und in anonymisierter Form. Die Kontrollvariablen Alter, Geschlecht und Schultyp waren unkorreliert. Die Pubertätsentwicklung war in unse-rer Stichprobe erwartungsgemäß stark vom Alter abhängig.

Der Anteil der Abendtypen stieg von Klassenstufe 5 nach Klassenstufe 9 von 8 % auf 35 % an; der Anteil der Morgentypen hingegen sank von 32 % auf 8 % (Kapitel 5.1). Schüler der Klassenstufe 9 entwickelten vor Schultagen ein Schlafdefizit von durchschnittlich 100

Mi-nuten täglich und schliefen am Wochenende durchschnittlich 3h 8min später und 1h 48min länger als an Schultagen. Die Schlafdauer vor Schultagen sank stark mit ansteigendem Alter und zunehmender Abendorientierung (Kapitel 5.2). Abendtypen hatten im Tagesverlauf erwartungsgemäß große Probleme, vor Schultagen rechtzeitig schlafen zu gehen und mor-gens wach zu werden. Abendtypen berichteten außerdem auch in allen übrigen Phasen des Tagesverlaufs über größere Probleme in der zeitlichen Einpassung ihres Schlafbedürfnis-ses an den Alltag als frühere Chronotypen (Kapitel 5.3). Die Ernährung und vor allem der Konsum von wachmachenden Stimulanzien kann als Ursache oder als Symptom der Abendorientierung interpretiert werden, jedenfalls stellte sich uns das Zusammenspiel von Abendorientierung und Süßigkeiten, Koffein, Alkohol und Zigaretten als ein Teufelskreis-lauf dar: Übermüdete Schüler konsumierten ohne darüber nachzudenken zu viel und zu falschen Uhrzeiten, um sich über den Tag zu retten, können in der Folge nicht gut schlafen und sind am nächsten Morgen noch müder (Kapitel 5.4). Abendtypen, und hier vor allem Realschüler mit schlechteren Schulnoten, verspürten mehr Alltagsstress. Es wurde sicht-bar, dass diese die Erwartungen von Schule, Eltern und Gesellschaft nicht in demselben Maße erfüllen können wie Morgentypen. Morgentypen schien vieles leichter zu fallen, weil sie Alltagsprobleme ausgeschlafen besser meistern können (Kapitel 5.5). Ursachen hierfür konnten in der Zeitorientierung der Abendtypen gefunden werden: Abendtypen lebten e-her in der Vergangenheit und sahen deswegen die Probleme, die morgen auf sie zukom-men, nicht. Auch die Persönlichkeitswerte, die Abendtypen bevorzugten, passen ins Bild der übrigen Ergebnisse: Morgentypen bevorzugten im Vergleich zu Abendtypen vermehrt soziale Werte, während Abendtypen individuelle Werte präferierten. Ihre Distanz zu frü-hen sozialen Uhrzeiten im Schulalltag spiegelte sich in ihrer Ferne zu sozialen Persönlich-keitswerten wider (Kapitel 5.6). Das soziale Umfeld prägt den Chronotyp in vielfältiger Weise. In unserer Studie konnten wir festhalten, dass ein höherer sozio-ökonomischer Sta-tus in einer traditionell gelebten Familie (Mutter ist Hausfrau, Vater arbeitet) mit jüngeren Geschwistern, regelmäßigen Mahlzeiten und höherer Lebenszufriedenheit positiv auf den Schlafrhythmus wirken. Kulturelle Variablen wie Religionszugehörigkeit und Herkunfts-land hatten in unserer Stichprobe keine oder nur geringe Auswirkungen auf das Schlafver-halten (Kapitel 5.7). Den stärksten Einfluss auf den Chronotyp hatten elektronische Bild-schirmmedien. Die häufige Nutzung elektronischer Bildschirmmedien wie Fernseher und Computer förderte die Abendorientierung stark, vermutlich weil diese wach machendes blaues Licht ausstrahlen (Kapitel 5.8). Schüler, die in dunkleren Wohngebieten schlafen, waren vermehrt Morgentypen. Dieses Ergebnis scheint auf den ersten Blick erwartbar, ist es doch in größeren Städten nachts heller und größere Städte bieten gleichzeitig mehr Freizeitinfrastruktur. Interessant wurde das Ergebnis, weil die Einwohnerzahl in der Ana-lyse berücksichtigt wurde und die Lichtintensität weiterhin einen Einfluss auf vermehrte Abendorientierung hatte (Kapitel 5.9). Die biologische Prägung des circadianen Rhythmus bei der Geburt zeigt, dass es keine reine Wahlentscheidung ist, wenn Jugendliche später schlafen gehen, sondern dass der Chronotyp eine feste Persönlichkeitsstruktur mit geophy-sischen Wurzeln ist, die bereits durch Lichtverhältnisse während der Geburt geprägt wird (Kapitel 5.10). Morgentypen hatten weniger Fehlkonzepte, wenn es um die Funktionen des Schlafs und schlafhygienisch richtiges Verhalten geht. Unklar blieb, ob sie in Folge dessen

früher einschlafen können, oder ob das gelebte richtige Verhalten der Morgentypen ihr Wissen über die Abläufe des Schlafs und ihr Wissen über gute Schlafhygiene mehrt (Kapitel 5.11). Die besseren Schulnoten der Morgentypen ließen sich einerseits durch den höheren sozio-ökonomischen Status der Eltern und andererseits durch die Ausgeschlafenheit der Morgentypen an Schultagen erklären (Kapitel 5.12). Auch die etwas bessere Aufmerksam-keitsleistung der Morgentypen ließ sich durch bessere Noten und erhöhte Wachheit erklä-ren (Kapitel 5.13).

Die Strukturgleichung in Abbildung 86 zeigt zusammenfassend die relative Stärke der Ab-hängigkeit der beiden Chronotypindikatoren CSM und MSFsc von Umweltvariablen sowie die Beeinflussung des Verhaltens durch den Chronotyp.

Abendorientierung ist ein Indikator für risikoreiches Verhalten (Andershed 2005; Gau et al.

2007), das sich in der Präferenz individueller Persönlichkeitswerte, im Konsum von Stimu-lanzien (Koffein, Alkohol und Zigaretten), in Alltagskonflikten in der Schule, mit den Eltern und sich selbst, in schlechten Schulnoten und in extensiver Nutzung elektronischer Bild-schirmmedien wiederspiegelt. Morgenorientierung hingegen wirkt wie ein Schutz vor problematischem Verhalten und Schwierigkeiten, da Morgentypen denselben frühen Rhythmus wie die Erwachsenen leben und deswegen gesellschaftliche Erwartungen leich-ter erfüllen.

Die Erkenntnisse aus der Befragung flossen anschließend in einen Unterrichtsentwurf zu Chronotyp und Schlafhygiene ein, der im Biologieunterricht erprobt und empirisch evalu-iert wurde (Kapitel 5.14). Dieses Unterrichtskonzept erstellten wir unter Berücksichtigung von Grundlagen aus der Biologie- und Naturwissenschaftsdidaktik und mit Unterstützung von Studierenden der PH Heidelberg. Ziel war es, herauszufinden, ob ein solcher Unterricht eine Wissens- und Verhaltensänderung bewirken kann. Der Unterrichtsentwurf zur Chro-nobiologie und Schlafhygiene wurde auf der Datengrundlage von 271 Realschülern der Klassenstufe 6, aufgeteilt in Treatment- und Kontrollgruppe, mit unterrichtsbegleitenden Fragebögen evaluiert. Die Evaluation wurde eine Woche vor Unterricht, direkt im An-schluss des Unterrichts, eine Woche nach dem Unterricht und sechs Wochen nach dem Un-terricht durchgeführt. Im Ergebnis steigerte sich das Wissen insbesondere der Abendtypen, die vor dem Unterricht weniger wussten als die Morgentypen. Dauerhafte Verhaltensver-besserungen konnten jedoch nicht erreicht werden. Im Gegenteil, das schlafhygienische Verhalten verschlechterte sich auch in der Treatmentgruppe. Die Verschlechterung inner-halb des kurzen Zeitraums von sechs Wochen ist auf das ansteigende Alter, die Übernahme neuer sozialer Rollen im Übergang ins Jugendalter und die in diesem Alter beginnenden Hormonumstellungen zurückzuführen.

Das in diesem Projekt entwickelte Unterrichtskonzept zum Chronotyp, welches mittels empirischer Forschung gewonnen und erprobt wurde, hat über den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn hinaus auch bildungspolitische Relevanz, denn Schlafhygiene ist ein bis-her unterschätzter Aspekt der schulischen Gesundheitsbildung. Die Umsetzung des Unter-richtskonzeptes kann in der Praxis bewirken, dass Lehrer wie Schüler ein Bewusstsein für ihren eigenen Chronotyp und die individuell unterschiedlichen Chronotypen ihrer sozialen Umwelt ausbilden. In der Folge kann die Diskrepanz zwischen physiologischem und sozia-lem Rhythmus bei Eintritt der Pubertät auch durch spätere Unterrichtszeiten ab

Klassen-stufe 7 gemildert werden. Wer seinen Chronotyp kennt und in den Schulalltag einpassen kann, kann in der Folge seine schulische Leistung verbessern.

Abbildung 86: Strukturgleichung, Determinanten des Chronotyps (CSM, MSFsc)

In AMOS generiert und mit Adobe Illustrator bearbeitet. CMIN = 9585,679, P < 0,001, PCLOSE < 0,001, RMSEA = 0,139, lower RMSEA C.E. = 0,136, higher RMSEA C.E. = 0,141, ECVI = 2,790. Regressionskoeffizienten unter 0,200 in Grau; Alter (in Monaten):

zum Befragungszeitpunkt; Geschlecht: 0 = männlich, 1 = weiblich; Schultyp: 1 = Gymnasium, 0 = Hauptschule/(Werk-)realschule;

Wann gehst du morgens zur Schule?: original Wortlaut dieser Frage: „Um welche Uhrzeit gehst du morgens aus der Haustür, um in die Schule zu gehen?“ in Stunden/Minuten; Index Pubertätsstatus: z-Werte, höhere Werte stehen für fortgeschrittene Entwicklung, fehlende Werte wurden durch den Mittelwert ersetzt; Lichtintensität in der Nacht: durchschnittliche Werte für Wohngebiete für jede Gemeinde/jeden Stadtteil, höhere Werte indizieren mehr Licht; Chronotyp (CSM): von 13 = Abendtyp (Eule) bis 55 = Morgentyp (Lerche); Schlafdauer an Schultagen/am Wochenende: in Stunden, Minuten; Openness to change, Self-enhancement, Conservation und Self-transcendence: 4 übergeordnete Werte der PVQ (zentriert) von 0 = “ist mir über-haupt nicht ähnlich” bis 5 = “ist mir sehr ähnlich”; PQ Schule, PQ Eltern, PQ Selbst: von 1 = „stimmt gar nicht“ bis 5 = „stimmt genau“, hohe Werte bedeuten höhere Problemwahrnehmung; Notendurchschnitt: letzte Zeugnisnote in den Fächern Fremd-sprache, Mathematik, Deutsch und Biologie; Index Schlafwissen: Summenscore aus Schlafvorstellungen in Abbildung 74 und Abbildung 76, hohe Werte bedeuten größeres Wissen; Konzentrationsleistung: d2-Aufmerksamkeits-Belastungstest, höhere Werte indizieren größere Aufmerksamkeit; Index Stimulanzien (Koffein, Alkohol, Zigaretten): Häufigkeit des Verzehrs, höhere Werte zeigen eine höhere Verzehrhäufigkeit an; Index Nutzung von Bildschirmmedien: Zeitbudget für Computer, Spielekonsole, Internet, Videospiele und TV – höhere Werte zeigen längere Nutzung an; Schlafmittelpunkt (MSFsc): Uhrzeit in Ta-gen/Stunden/Minuten; | Projekt MMSM 2009-2012