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Zusammenfassung des Erlösungskapitels

Im Dokument KARLS-UNIVERSITÄT PRAG (Seite 50-57)

I. Eine phänomenologische Lektüre des Zarathustra-Kapitels „Von der Erlösung“

14. Zusammenfassung des Erlösungskapitels

Bevor die Frage nach dem Ertrag dieser Analyse gestellt werden kann, soll noch einmal die verwendete Methode Gegenstand der Diskussion sein.

Warum wurde diese ausführliche Analyse des gesamten Erlösungskapitels unternommen, wenn es doch nur um die Geburt der Fragestellung der Beziehung zwischen Zeit und Leid gehen sollte? Der Verfasser möchte darauf verweisen, dass gezeigt werden konnte, dass sich das Kapitel, wenn auch in verschiedene Bewegungen und einzelne Reden trennbar, sich doch immer Eins aus dem Anderen entwickelte. Gerade das Erlösungskapitel zerfällt nicht in zwei Teile, eine scheinbar belanglose Polemik gegen Krüppel und der eigentlichen Lehre vom Willen zur Macht, wie in der Literatur behauptet worden ist. Die Problematik selbst ergibt sich aus dem Kontext, in dem sie sich erst entwickelt, worauf der Text selbst zum Schluss noch einmal explizit verweist. Einem Herauspflücken von einzelnen Redeteilen qua Lehrsätzen, die man dann scheinbar problemlos in philosophische Kategorien einordnen könnte, versperrt sich das Zarathustra-Werk, das auch immer phänomenologisch, d.h. im Wie seiner Gegebenheit (Wie geschieht etwas? Wie vollzieht sich die Problematik? Wie interdependieren konkrete Situation und [philosophische] Fragen?) gelesen werden muss. Das „Literarische“ des Werkes wird erst im Rahmen einer wirklich phänomenologischen Lektüre radikal ernst genommen, und verkommt nicht nur zum schmückenden, aber eigentlich belanglosen Beiwerk. So lässt sich feststellen, dass zwischen dem Autor Friedrich Nietzsche, dem Erzähler und der Figur des Zarathustra zu trennen ist – des Autors Meinungen sind, wie sich aus dem Text mitteilt, nicht die Zarathustras – dann hätte er die Figur nicht benutzen

61 Bemerkenswert ist die Bestimmung des Selbst in der Leibphilosophie des Zarathustra-Werkes (wo das Selbst für den Leib – die große Vernunft - stehe, und das Ich für den Geist als kleine Vernunft, vgl. Nietzsche, Friedrich.

KSA Bd. 4, S. 39), wie sie sich auch in der Form eines Selbstgespräches zu äußern vermag. Ein Selbstgespräch ist nun gerade nicht monoton, das Selbst nicht mit dem Ich des Denkens identisch, sondern es transzendierend.

Gerade darin weiß sich die Differenz zwischen Selbst und Ich erst zu zeigen.

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müssen, und anstelle von „Also sprach Zarathustra“ eine Autobiographie schreiben können62. Nietzsche ist ein Philosoph, dem eine nüchterne phänomenologische Lektüre besonders entgegenkommt, da er ein Autor ist, der vor allem das Wie zu schreiben wusste wie kaum ein anderer vor oder nach ihm. Doch was konnte die hier unternommene phänomenologische Lektüre für das Problem, welches Thema dieser Arbeit werden soll, selbst gewinnen? Was trägt diese Analyse zur Gewinnung des Problemfeldes selbst bei?

Um diese Fragen beantworten zu können ist es zuerst nötig, die Ergebnisse des phänomenologischen Zuganges zum Erlösungskapitel selbst festzuhalten, da sich die Fragestellung vom Verhältnis von Zeit und Leid erst aus dem Kapitel in toto ergibt.

1. Ein Kapitel: Der erste Gewinn der Untersuchung ist, dass es gelang, aufzuzeigen, dass das Kapitel, wenngleich auch in dreizehn verschiedene Bewegungen aufteilbar, so doch einen inneren Zusammenhang hat.

2. Dies ist die Frage nach der Erlösung – in zweifacher Hinsicht: Es wird einerseits um Erlösung gefragt und gebeten, andererseits wird Erlösung selbst immer wieder fraglich. Das Thema des Kapitels ist es gerade, verschiedene Erlösungskonzepte zu hinterfragen. Eine Vorstellung von dem, was Erlösung überhaupt sei, gelte es erst zu gewinnen, und dies bestimmt somit die Aufgabe, derer sich der Protagonist in diesem Kapitel annimmt.

3. Das Erlösungsgeschehen selbst zeigt sich als ein Brückengeschehen des versuchten Übergangs. Wie zu Beginn des zweiten Bandes von „Also sprach Zarathustra“ bereits der Protagonist proklamierte: „dass der Mensch erlöst werde von der Rache: das ist mir die Brücke zur höchsten Hoffnung und ein Regenbogen nach langen Unwettern“63. Just auf dieser Brücke spielt sich die Handlung des Erlösungskapitels ab, jedoch erfährt der Leser nicht, ob es überhaupt gelingt, die Brücke zu überqueren. Allerdings erfährt der Leser, dass Zarathustra schon vor diesem Kapitel über diese Brücke ging. Dass das Brückengeschehen nicht nur eines für Krüppel, Bettler, Zarathustra und seine Jünger ist, ist zu erkennen in der Anekdote Zarathustras, dass er auf dieser Brücke auch schon „umgekehrte Krüppel“, Genies fürs Volk, traf. So, wie es im Verlauf des Kapitel deutlich wird, ist auf dieser Brücke in Zarathustras Auge, also in seiner Perspektive, jeder ein Krüppel – einschließlich Zarathustra selber.

4. Hinsichtlich der Personen, die dem Protagonisten Zarathustra begegnen, konnte festgestellt werden, dass dieser in einem symbiotischen Verhältnis zu ihnen steht: Er spiegelt sich in

62 Insofern möchte diese Arbeit auch Nietzsches Wunsch berücksichtigen, den der Autor in Ecce Homo äußerte:

„Hört mich! denn ich bin der und der. Verwechselt mich vor Allem nicht!“ (Nietzsche, Friedrich. Ecce homo.

Wie man wird, was man ist. Vorwort, § 1, in: KSA Bd. 6, S. 257).

63 Nietzsche, Friedrich. KSA Bd. 4, S. 128.

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diesen – auch konträren – Personen und Umgebungen, um so schließlich zu einer Form der Einheit zu gelangen, welche sich als paradoxe Einheit bezeichnen lässt. So ist der Bucklichte nicht etwa Zarathustras Gegenspieler, oder jemand, dem Zarathustra etwas lehren möchte.

Nein, Zarathustra selbst zeigt sich als der Bucklichte – er fragt sich, was ihm der Buckel sei, das „Unerträglichste“64, aber er sei zugleich „Seher“65, sieht also auch im Lichte, ist auch ein Lichter. Wenngleich der Bucklichte ein alter ego Zarathustras ist, so ist Zarathustra doch gleichsam nicht nur der Bucklichte: Er ist in einer paradoxen Einheit zugleich „Krüppel an dieser Brücke“66 und die „Brücke zur Zukunft“67 selbst. So wird auch deutlich, warum Zarathustra keine Menschen bisher sehen konnte, sondern nur „Bruchstücke und Gliedmaassen und grause Zufälle“68, sowohl im Jetzt als auch im Ehemals – bisher waren die Menschen nicht fähig zu dieser Form der paradoxen Einheit.

5. Im Verlauf der Rede lässt sich eine Spannung zwischen Tragen und Nehmen bzw. Lösen ausfindig machen: so bittet der Bucklichte Zarathustra darum, demjenigen, „der zuviel hinter sich hat, wohl auch ein wenig abzunehmen“69 – was dieser erst einmal verwehrt. Dies tut er deshalb, weil ihm die Last, um die er gebeten wurde, sie abzunehmen, noch nicht schwer genug schien: Eine Er-Lösung sei erst dann eine richtige, wenn sie sich des Unerträglichsten annehmen würde. Es mag also viel Unerträgliches geben, aber nur vom Unerträglichsten soll sich der Mensch erlösen. Dieses Unerträglichste ist für Zarathustra das „Jetzt und Ehemals auf Erden“70, folgerichtig ist für ihn Erlösung eine von dieser Last.

6. Dies führt Zarathustra letztlich zu der Frage, warum dies das Unerträglichste sei, und damit zu den Bedingungen von Erlösung. Was heißt es, den Menschen zu erlösen? Diese Art der Lösung geht einher mit der Lösung des Rätsels, welches der Mensch selbst ist. Das Rätsel des Menschen ist gerade das Zufällige, wie es sich im Jetzt und Ehemals zeigt. Dieser Zufall wird als „Es war“ bestimmt, welches in seiner scheinbaren Objektivität den Widerstand des Willens herausfordert.

7. Dieser Wille begegnete dem Leser auch als Wollen, als Leben, als „Ich will“, als Dasein.

8. Zur Methodik des Kapitels lässt sich feststellen, dass keine Definitionen direkt gegeben werden, aber unsagbar viel mitgemeint wird. Die Art und Weise, wie sich diese Analyse den Begriffen, die im Text verhandelt worden sind, näherte, war ein genaues Achten auf offensichtlich synonymen Gebrauch. Dieser synonyme Gebrauch selbst weist allerdings

64 Ebd., S. 179.

65 Ebd.

66 Ebd.

67 Ebd.

68 Ebd.

69 Ebd., S. 177.

70 Ebd., S. 179.

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immer zugleich zwei Eigenschaften auf: 1. Synonyme scheinen in identischen Kontexten für das Gleiche, für miteinander identisch genommen werden zu können, wenngleich sie 2.

offensichtlich nicht ganz dasselbe, nicht ganz identisch sind, nur in einigen Kontexten – sonst wären kaum überhaupt zwei verschiedene Begriffe vonnöten. Das Verwenden von Synonymen, wie es der Protagonist Zarathustra tut, bemüht sich eher um Ersteres, das Erwecken von Gleichklängen, ohne dabei aber auf Zweiteres zu verzichten. Die Synonyme weisen auch immer schon über ihre Synonymität hinaus.

9. Verhandelt wurde schließlich die Frage, unter welchen Bedingungen der Wille, in all seinen zuvor genannten Konnotationen, sich selber wollen kann, und darüber hinaus auch noch zurück wollen. Damit wird die Frage nach der Befreiung des Willens gestellt, an welche die Erlösung des Menschen geknüpft ist. Ausgegangen wird jedoch von einem gefangenen Willen. Von diesem Ausgangspunkt aus ergab sich in Form einer Schilderung des Willensgeschehens, wie dieses zum Widerwillen gegen sich selbst, was Zarathustra „Rache“

nannte, sich weiter fortgestaltete. Damit wurde die Rache als ein re-aktives Willensgeschehen bestimmt.

10. Den Anstoß dazu gab eine Ohnmachtserfahrung des Willens hinsichtlich der Zeit und ihrem

„Es war“ – dem Unerträglichsten. Somit wurde danach gefragt, was die Bedingungen für einen freien Willen seien – und was diejenigen für einen Unfreien.

11. Die Zeit in ihrem eigenen Vergehen zeigt sich als unüberwindbaren Widerstand und damit als Offenbarung der Grenzen des Willens.

12. Es wurde weiterhin auf die Doppeldeutigkeit des Zeit-Begriffs hingewiesen: 1. Als Zeit insgesamt, und 2. als Jetztzeit.

13. Leid ist im Kapitel nicht pejorativ im pathologischen Sinne zu verstehen, sondern als ein Erleiden gerade dieser Gegen- bzw. Widerständigkeit: „weil im Wollenden selber Leid ist, darob dass es nicht zurück wollen kann“71.

14. Als Fortwirkungen eines Widerwillens gaben sich für Zarathustra zuerst die klassischen anthropologischen Grenzbestimmungen – Geist, Denken, Gewissen – zu erkennen, schließlich auch die klassischen Gegenstände der praktischen Philosophie – Gerechtigkeit, Gesetz, Recht und Schuld. All diese Begriffe verstand Zarathustra als Lügenworte und als ein Fabellied des Wahnsinns.

15. Rache ist somit ein Resultat des Wollens, und damit zuerst nicht etwa ein intellektueller Vorgang oder eine Gefühlsregung, sondern das Ergebnis einer Ohnmachtserfahrung des Wollens, gegen jenes re-aktiv wird.

71 Ebd., S. 180.

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16. Der Wahnsinn, wie ihn Zarathustra verstand, beruhte auf einem naturalistischen Fehlschluss – von einem scheinbaren Naturgesetz der Zeit, dass alles immerfort vergeht, im Fluss ist, wurde geschlossen, dass alles wert sei zu vergehen. Alles Leidende wurde somit zu einem gerechtfertigten Leiden deklariert, alles Leiden sei immer auch gleich Strafe. Der Wahnsinn dichtete ein Kausalitätsgesetz in die Welt der Erscheinungen hinein, was so nicht in ihm lag.

17. Das Resultat eines solchen Wahnsinns endete in einem Erlösungsdenken, dass vom Leben und Wollen selbst erlöst werden wollte – in der Lehre von der Verneinung und Nichtung des Willens. Somit stellt eine solche Lehre vielmehr die Regel als die Ausnahme dar, da sie als ein Ergebnis eines letztlich anthropologisch begründeten Willensgeschehens begriffen worden ist.

18. Der Wille zur Macht begegnete den Lesern als Problem, welches letztlich zum Abbruch der Gedankenkette Zarathustras führte72.

19. Letztendlich diente dieser lange Exkurs Zarathustras zu den Grundfragen der Möglichkeit des Willens nur dazu, sich von dieser Erlösungslehre erlösen zu können. Die Erlösung, die Zarathustra einfordert, wäre eine solche, die einen anderen Umgang mit den Grenzen und der Ohnmacht des Willens (bzw. Wollens, Lebens, Daseins) zu finden imstande ist als diese Erlösungslehre. Damit ist für Zarathustra Erlösung erst die Erlösung von den Bedingungen der Möglichkeiten, die die Menschen bisher zu dieser „wahnsinnigen“ Erlösungslehre hingeführt haben. Dies resultiert letztlich darin, dass eine Erlösung gefordert wird, welches das Leben und den Willen selbst will. Das, worauf Zarathustras Frage nach der Erlösung abzielt, ist die Frage, wie sich das Leben selbst wollen kann – und auch noch zurück wollen kann.

Von diesen Ergebnissen ausgehend kann nun danach gefragt werden, wie sich die Fragestellung von Zeit und Leid im Erlösungskapitel von „Also sprach Zarathustra“ mitzuteilen wusste.

Die Begegnung von Zeit und Leid zeigte sich als eine, welche im Willen ihren Ort fand. Ohne diesen Ort „Willen“ als Schauplatz der Begegnung von Zeit und Leid wäre es aus der Perspektive des Erlösungskapitels heraus nicht möglich, diese beiden Phänomene zusammenzubringen. Im Folgenden soll der Ertrag aus der Analyse des Kapitels hinsichtlich der Phänomene Zeit, Leid und Willen festgehalten werden:

72 Vgl. zum Willen zur Macht als Problem auch Pavel Kouba: „Darum ist der Wille zur Macht – wie

strenggenommen auch alle anderen ursprünglichen Philosopheme – kein Vorschlag für eine „Lösung“ oder einen „Maßstab“, den wir einfach übernehmen könnten, sondern eine widerspruchsvolle Herausforderung, die uns der Welt und unserem Sein in ihr öffnet und die uns zwingt, für dieses Sein unseren eigenen Ausdruck zu suchen.“ (Kouba, Pavel. Die Welt nach Nietzsche. München 2001, S. 232).

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1. Wille sei hier, mit Nietzsche, im allergrößten, und damit auch wenig genauesten Kontext verstanden als Wollen, Leben und Dasein. Dieses Fehlen an Konkretisierung soll hier aber nicht als Mangel begriffen werden. Das Erlösungskapitel zeigt, dass manche Phänomene gerade in Anspielungen und in scheinbar synonymen Zuschreibungen ihre Bedeutung finden können. Zusammengebracht in eine Formel kann man aus dem Kapitel hinsichtlich des Willens schließen: Der Wille ist ein im Dasein erlebtes Wollen. Dieses Wollen ist ein schaffendes, und damit ein ermächtigendes Wollen. Durch die Zeit aber wird das Wollen mit seiner eigenen Grenze konfrontiert, es erlebt einen Widerstand, was sein schaffendes Potential allein nicht umschaffen, umformen, umwälzen kann73. Dieses Willensgeschehen ist eines, welches die größtmögliche Reichweite überhaupt hat: Es ist das bisher beste Nachdenken der Menschheit überhaupt, wie Zarathustra meint. Daraus folgt, dass jedes Willensgeschehen, und damit jedes bisher im Dasein erlebtes Wollen immer nur ein Widerwillen gewesen ist.

2. Die Zeit begegnete den Lesern im Erlösungskapitel in zwei möglichen Dimensionen: als allgegenwärtige Zeit, und als konkrete Jetztzeit. Worüber die Zeit aber in beiden Dimension verfügte, war über „ihr ,Es war‘ “74. Die Zeit begegnet dem Willen gerade wegen ihres „Es war“ widerständig. Die Zeit ist dasjenige, was sich vom Willen nicht vereinnahmen lässt. Sie lässt einen freien willentlichen Umgang mit ihr nicht zu, sie entzieht sich dem Willen, gleich, wie sehr er sich bemühen mag. Sie vergeht. Oder, kantisch gesprochen: Die Zeit ist hier transzendentale Bedingung der Möglichkeit, damit ist kein Willen außerhalb ihrer überhaupt denkbar.

3. Gerade dieses Faktum ist dasjenige, was den Willen leiden lässt. Er erleidet Zeit. Das Wirkungsverhältnis von Zeit und Willen ist nur in einer Richtung zu denken möglich: von der Zeit wirkend auf den Willen. Dieses Wirken ist gemeint, wenn vom Leid gesprochen wird. In einem anderen Sinn ist aber auch vom Leid die Rede. Leid ist im Willen gerade auch deswegen, weil es nicht zurück wollen kann. Dieses Leid ist ein Leid im Willen selbst, kein Widerfahrnis, welches direkt durch die Zeit gestiftet wird. Die Zeit gibt nur den Anstoß in ihrer transzendentalen Verfasstheit, die den Willen so begrenzt, dass er Leid über seine Grenzen empfinde. Diese Grenze ist das Gefängnis, der Kerker des Willens, dasjenige, was ein wirklich transzendental freies Wollen verhindert. Die Frage Zarathustras nach der Bedeutung von Erlösung kann hier umformuliert werden: Wie kann sich von dieser Begrenzung lösen?

Kann er dies? Wenn nein, wie ist ein anderer Umgang mit den Grenzen des Willens möglich,

73 Nietzsche spricht, wie schon bemerkt, von der Zeit als einem „Stein, den er [der Wille] nicht wälzen kann“, Nietzsche, KSA Bd. 4, S. 180.

74 Ebd.

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wieso empfindet er die Zeit als Gefängnis? Ist das Leiden darüber, dass man nicht zurück will, ein pathologisches, welches geheilt bzw. erlöst werden sollte? Oder ist es bereits das Heilmittel? Das Einzige, dem Zarathustra im Kapitel „Von der Erlösung“ entsagen wollte, war doch die im Fabellied des Wahnsinnes geforderte Haltung, jegliches Leid als Strafe zu deuten.

Leid, welches nicht als Strafe verstanden werden soll, kann aber deshalb nicht gleich als Belohnung uminterpretiert werden. Vielmehr scheint für Zarathustra Leid schlicht als pathisches Erleben von einer inneren oder äußeren Widerständigkeit verstanden zu werden, fernab von Deutungen, die dieses Erleben – so oder so – zu „verstehen“ wissen.

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Abschließend lässt sich festhalten, dass das Verhältnis von Zeit und Leid, wie es sich im Erlösungskapitel darstellt, so gestaltet: Ohne etwas, was leidensfähig ist, d.h. fähig zum pathischen Erleben von innerer oder äußerer Widerständigkeit, kann die Zeit nicht als Leid gefasst werden.

Dieses leidensfähige Etwas ist der gefangene Wille, der ein im Dasein erlebtes Wollen ist. Leben und Erleben ist es, was leidensfähig ist, und der Wille ist immer auch ein lebendiger Wille. Das Erleben von Widerständigkeit ist somit für den Willen erleidbar. Widerständig erlitten wird die Zeit, und zwar in zwei Weisen: Einerseits ist sie ein äußerer Widerstand gegen den Willen, und andererseits ergibt sich aus dieser Ohnmachtserfahrung ein innerer Widerwille, d.h. ein innerer Widerstand gegen das leidvoll erfahrene Erleben der eigenen Begrenztheit. Die Zeit wurde vor allem deshalb als ein Widerstand empfunden, da sie mit ihrem „Es war“ dem Willen eine mögliche Richtung seines Wollens versperrt. Daher rührt der Wunsch Zarathustras, alles „Es war“ zu einem „So wollte ich es“

umzuschaffen. Erst dann, wenn selbst das abgelöste, sich außerhalb der Möglichkeit des Willens befindliche „Es war“ zu einem gewollten Geschehen sich transformiere, sei der Mensch von seinem

„Fluch“75 befreit: dem Geist der Rache, des Willens Widerwillen gegen die Zeit und ihr „Es war“.

Damit ist das Problem, so wie es sich im Erlösungskapitel zeigte, gewonnen. Wie verhält es sich aber hinsichtlich möglicher Antworten? In dieser Hinsicht weiß das Erlösungskapitel vergleichsweise wenig zu helfen: So verliert sich der Protagonist Zarathustra schließlich in Selbstzweifeln, ob ein anderer, ein willentlicher Umgang mit der Zeit überhaupt möglich sei. Einen Hinweis auf eine mögliche Antwort ist nur, dass, auf Zarathustras Schweigen folgend, dieser offensichtlich sich entrückend verwandelt. Er scheint etwas gesehen zu haben, besser gesagt, es überkam ihn, aber auf eine nur negativ mitgeteilte Weise. Die Antwort auf die Frage nach Zeit und Leid, die das Kapitel gab, ist das Explizitwerden und äußere Mitvollziehen des sprachlich Nichtmitteilbaren. Auf der Suche nach sprachlich mitteilbaren Antworten hinsichtlich der hier gewonnenen Frage des Verhältnisses von Zeit

75 Ebd.

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und Leid müssen wir uns anderen Denkern zuwenden, die diese Frage – teilweise mit explizitem Bezug auf Nietzsche und das Erlösungskapitel, teilweise ohne – weiter verfolgten. Dabei werden die Transformationen innerhalb der Fragestellung ebenso sehr zu beachten sein, wie die gegebenen oder nicht gegebenen Antworten.

II. Das Fortwirken der nietzscheanischen Fragestellung von Zeit und

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