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Das zentrale Anliegen des vorliegenden Artikels ist die Bestimmung symboli-scher Repräsentationen für Simplizia des Deutschen. Das Ziel ist dabei, klare Kriterien zu entwickeln, die zu einer angemessenen und einheitlichen Abstrak-tionsstufe führen.

Die hier vorgestellte Vorgehensweise zielt zunächst auf die Herausarbei-tung einer phonologischen Grammatik in Form geordneter Beschränkungen im Rahmen der Optimalitätstheorie. Die Grundidee ist dabei, ausgehend von Minimalpaaren vorläufige Treuebeschränkungen anzunehmen, die potenzielle Kontraste repräsentieren. Die Untersuchung der relevanten Neutralisations-erscheinungen wirft Licht auf aktive Markiertheitsbeschränkungen, die auf sprachvergleichender Grundlage zu identifizieren sind. Deren Eigenschaften lassen dann Schlüsse sowohl auf die Beschaffenheit der Phoneme und der rele-vanten Oppositionen als auch auf die prosodische Organisation der Phonem-verbindungen in Wörtern zu.37

37Anzumerken ist hier, dass diese Herangehensweise in der Optimalitätstheorie keineswegs üblich ist. Im Allgemeinen besteht auch unter Vertretern dieser Richtung wenig Interesse an Abstraktheitsfragen; die Theorie wird gewöhnlich auf Beschreibungen phonetischer Struktu-ren angewendet. Auch dieser Umstand dürfte am ehesten wissenschaftssoziologisch zu erklä-ren sein. Die Begründer und viele Anwender entstammen dem Umfeld der Generativen Phono-logie, die die dem Strukturalismus zugeordnete Phonemebene vehement ablehnte.

Diese Herangehensweise wurde hier anhand der sogenannten Vokalopposi-tion im Deutschen veranschaulicht. Das Ergebnis ist ein System von vierzehn bzw. fünfzehn Vollvokalen, die eine durchgehende Qualitätsopposition (peripher versus zentralisiert) bilden. Das Inventar erscheint zwar aus sprachtypologischer Sicht ausgesprochen groß, ist aber von drastischen Neutralisierungserscheinun-gen geprägt. Ein Simplex im Deutschen weist maximal eine potenzielle Kontrast-position für das Merkmal [±peripher] auf (die Kopfsilbe im Kopffuß), in vielen Fällen aber besteht aufgrund aktiver Markiertheitsbeschränkungen nicht einmal eine solche Position.

Die Analyse wird empirisch gestützt durch konvergierende Typen von Evidenz, einschließlich messphonetischer Studien. Die Evidenz widerspricht der Annahme des Mischsystems wie auch eines reinen Quantitätssystems.

Auch die vielversprechendste der alternativen Analysen, die den phonologi-schen Kontrast ausschließlich in der prosodiphonologi-schen Struktur verankert, passt nicht mit allen Befunden zusammen. Zu nennen wäre hier die Vokalharmonie, die einen segmentalen Qualitätsunterschied voraussetzt, sowie die phonetische Beschaffenheit der Vokale in diversen Kontrastaufhebungskontexten. Hier macht die hier vorgeschlagene Analyse konkrete Voraussagen darüber, welches Oppo-sitionsglied in der jeweiligen Aufhebungsposition erscheint. Eine Analyse, die Qualitäts- und Längenunterschiede gleichermaßen als allophonische Realisa-tionserscheinungen begreift, kann diesen Mustern kaum Rechnung tragen.

Darüber hinaus ist die Beschränkung möglicher Paradigmeneffekte auf seg-mentale Qualitätsmerkmale zu nennen, die in der in (7) veranschaulichten pro-sodischen Analyse nicht erfasst wird.

Vorausgesetzt, dass die phonologische Grammatik einer Sprache und die entsprechenden Repräsentationen empirisch adäquat sind, sind sie auch für Aussprachewörterbücher und orthographische Studien relevant. Hinsichtlich der Aussprachewörterbücher ergäbe sich mit Blick auf die hier vorgestellten hierarchischen prosodischen Repräsentationen die praktische Frage, wie diese sich durch eine lineare Abfolge von Symbolen repräsentieren lassen. Es stellt sich heraus, dass die Markierung der linken Fußgrenzen im Deutschen aus-reicht, wobei Kopffüße traditionell durch ein hochgestelltes, andere Füße durch ein tiefgestelltes Zeichen markiert werden. Einige Beispiele sind auf-geführt.

(40) ˈʀɔɡən <Roggen>, ˈʀoɡən <Rogen>, /kɑˈot/ <Chaot>, /ˈkɑɔs/ <Chaos>, /ʀoʀ/ <Rohr>

Phonetische Erscheinungen wie Vokaldehnung, Glottalisierung, oder /ʀ/-Vokali-sierung gehören nicht in symbolische phonologische Repräsentationen. Sie

gehören in die separaten Beschreibungen der „Ausspracheregeln“, die ja ohne-hin einen festen Bestandteil bestehender Aussprachewörterbücher bilden.

In Fällen, in denen Varianz besteht, hat eine der Varianten in vielen Fällen eher den Charakter eines unassimilierten Lehnworts, während die andere eher mit der phonologischen Grammatik des Deutschen im Einklang steht. Hier wäre zu überlegen, letztere Varianten entsprechend zu kennzeichnen. Einige Beispiele, in denen regelkonforme Varianten unterstrichen sind, sind in (41) aufgeführt:38

(41) ˈtiflɪs, ˈtɪfllɪs <Tiflis>, biˈstʀo, ˈbɪstʀo <Bistro>, ˈtetɑˌnʊs, ˈtɛtɑˌnʊs <Tetanus>

Hinsichtlich orthographischer Studien gilt, dass der Bezug auf angemessene phonologische Repräsentationen essentiell für die Erforschung des relevanten Regelapparats ist, unabhängig davon, ob es sich um eine Silben- oder um eine Alphabetschrift wie im Deutschen handelt. Als Beispiel mit Bezug auf die oben vorgestellten Analysen sei die orthographische Markierung zentralisierter Vo-kale durch nachfolgende Doppelkonsonanz erwähnt, die die ambisilbische Or-ganisation widerspiegelt. Interessant ist hier, dass die Doppelkonsonanz nur dann systematisch erscheint, wenn der Vokal in einer Kontrastposition er-scheint (s. 42a). Erer-scheint ein zentralisierter Vokal in einer Aufhebungspositi-on, folgt oft selbst in betonten Silben ein einfacher Konsonant (s. (42b)).

(42) a. /ˈkʀabə/ <Krabbe> : /ˈʀɑbə/ <Rabe>

/ˈbɛt/ <Bett> : /ˈbet/ <Beet>

/ˈmɔka/ <Mokka> : /ˈkoka/ <Koka>

b. /ˈkabɑˌʀɛt/ <Kabarett>, /ˈtabak/ <Tabak>, /eˈlizaˌbɛt/ <Elisabeth>, /ˈmɔkaˌsin/ <Mokassin>

Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass die symbolische Repräsen-tation der hier festgestellten fünfzehn deutschen Vokalphoneme Schwierigkei-ten bereitet. Das hier verwendete Symbol /a/ ist eigentlich zur Bezeichnung eines vorderen Vokals gedacht, auch das Symbol /æ/ passt nicht sonderlich zur Bezeichnung des Vokals in Wörtern wiezäh.

38Der Begriff der Regelkonformität rührt natürlich an schwierige empirische Fragen. Grund-sätzlich gilt, dass die Stabilität oder gar Neuentstehung vermeintlicher Regelabweichungen die empirische Inadäquatheit der Beschreibung nahelegt. Wenn etwa die Verletzung der Har-monieregel in Fällen wie /ˈiʀɪs/ <Iris>, /ˈibɪs/ <Ibis> stabil ist, gilt zu prüfen, ob es unabhängige Evidenz für übergeordnete Beschränkungen bzw. lokale Verknüpfung solcher Beschränkungen gibt, die die Regelhaftigkeit dieser Ausnahmen zum Ausdruck bringen.

Das Problem ist schlicht, dass nicht genügend passende Symbole für die Vokale des Deutschen von den IPA-Kommissionen bereitgestellt wurden. Die-ses Problem sollte nicht durch die Verwendung gleicher Symbole für kontras-tierende Vokale gelöst werden. Eher sollte man sich an der Kühnheit des Ersten Grammatikers ein Beispiel nehmen und zusätzliche Zeichen einführen.

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