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Im Dokument 2. Die Warburg-Boll-Saxl-Kontakte (Seite 82-88)

Bereits im Frühherbst 1924 nahm Warburg in Hamburg die Zügel wieder auf. Er nahm an den Vorlesungen teil , pflegte seine wissenschaftliche und private Korrespondenz , ging neue Forschungsthemen an und lernte vor allem Gertrud Bing kennen. Für beide sollte die Zusammenarbeit eine ausgesprochen fruchtbare Lebensperiode werden. Bing konnte auf Warburgs Wissenschaftsverständnis rasch eingehen , Warburg schätzte ihr kritisches Denken und ihr Verständnis für seine Bibliotheksanordnung. Bing sollte in der Folge 1927 und 1928/29 zwei Italienreisen mit Warburg machen und sich nach sei-nem Tod als äußerst fähige und einfühlsame Herausgeberin seiner Schriften erweisen.

Mit Warburg und Saxl in Hamburg und durch die Zusammenarbeit mit der Ham-burgischen Universität bildete sich ab 1924 die KBW zu einem geistesgeschichtlichen Zentrum in Hamburg , zu einer „Arbeitsgemeinschaft“331 heraus , in die sich Cassirer Jahre nach der Zerstreuung der Hamburg-Gruppe rückblickend einbezog ; seine For-schungen in der KBW wertete er als den „archimedischen Punkt meiner Arbeit“.332 Was damit gemeint war , war die eigene Forschungstätigkeit , Cassirers Bücher , die im Rahmen der KBW-Reihe erschienen , aber auch die Kontakte , die die Arbeit in der KBW mit anderen Forschern ermöglichte und erweiterte.

Somit war die Funktion der KBW nicht nur die einer Büchersammlung , sondern einer Konstruktion , die Warburg rein praktisch gleichsam festgefügt empfand und deren Me-thode er mithilfe von Turmsinnbildern erklärte : Ein Turm ist ein Gebäude , das über die Landschaft ragt und Licht in alle Richtungen wirft , aber auch als Empfangsstation dient , die feinstempfindlich weit entfernte Beben registriert , also ein Zentrum zum Empfang , zur Aufnahme und Verbreitung von Ideen ist.333 In einem Brief an Cassirer sprach er vom „Lynkeusturm“ , dem Beobachtungsturm , von dem aus man weit entfernt liegende Entwicklungen sehen könne wie der Argonaute Lynkeus , der „Luchs“ der griechischen Mythologie , der wegen seiner Sehschärfe und seines durchdringenden Blicks berühmt geworden ist und vor allem auch bei Goethe als Turmwächter Lynkeus im Faust II und 331 Ernst Cassirer , 1927 , vii. Cassirer widmete das Buch Aby Warburg zu seinem 60. Geburtstag am 13. 6. 1926. Saxl hatte als Geschenk einen „wunderhübschen“ Bucheinband für dieses Buch ma-chen lassen , ob von seiner Frau Elise , die Buchbinderin war , ist nicht überliefert , aber möglich. GC , Warburg an Saxl , 21. 6. 1926 , Warburg / Saxl file (W / S file).

332 GC , E. Cassirer an Saxl , 11. 9. 1936.

333 Vgl. Dorothea McEwan , 2002 b , 37–50.

Fritz Saxl bei Nietzsche in der Geburt der Tragödie eine wichtige Rolle spielte.334 Oft benutzte Warburg die Turmsymbolik , um die Funktion der KBW sowie ihre Methode zu erklä-ren , wie sie am besten in seiner unvollendeten Arbeit , dem Mnemosyneatlas , „der großen Landkarte der Entwicklung von Kulturen oder eher Ideen“335 , zum Ausdruck kam. Um die Wanderstraßen von Ideen gleichsam wie in einer sogenannten „Wanderkarte“336 ein-zeichnen zu können , war für ihn die KBW eine „Beobachtungsstelle“ zur Unterstützung der neugegründeten Universität in Hamburg , „die im Kreislauf der Gedanken lebendig mitwirkt“.337 Woanders sprach er vom „Beobachtungsposten und Verkehrsturm der aka-demischen Welt“338 , der „die ganze Wanderstraße der Kultur und Symbole zwischen Asi-en und Amerika vom hamburgischAsi-en Observatorium aus bestreicht“.339 Er verwAsi-endete diese Ausdrücke und Bilder in seiner Korrespondenz mit den Hamburger Behörden , die für die Einrichtung einer Ausstellung über die Geschichte der Astrologie und Astronomie im neu eröffneten Hamburger Planetarium zuständig waren.340 Im selben Brief schrieb er über die Wichtigkeit des Planetariums als Beobachtungsturm , um die Geschichte und Entwicklung der kosmologischen Orientierung der Menschheit zu dokumentieren :

Da , wo das Planetarium zeigt , wie durch Menschengleichnis am Himmel die ewi-gen , übermenschlichen Gesetze helfend zu uns sprechen , ist unser bescheidener Ver-such – wenn auch nur um seines guten Willens wegen – am Platze , die Ortszugehö-rigkeit , wo der rückschauenden Selbsterkenntnis die Funktion von Wissenschaft und Mythe im Geschäft der geistigen Orientierung anschaulich und begreiflich gemacht wird , zu zeigen.

Die stolze hamburgische Schifffahrtstradition war damit auch angesprochen , wenn Warburg die KBW als „Beobachtungs- und Verkehrsturm im Austausch der Kultur“341 bezeichnete , der „unseren Sehkreis“342 bestrich oder seine

„Problembiblio-334 GC , Warburg an E. Cassirer , 6. 9. 1928. Faust II , 3. Akt. Szene Innerer Burghof. Fr. Wilh.

Nietzsche , Die Geburt der Tragödie. Leipzig , 1886.

335 GC , E. Strong an A. Warburg , 24. 10. 1929.

336 GC , A. Warburg an F. Saxl , 31. 12. 1921.

337 GC , Warburg an U. von Wilamowitz-Moellendorff , 23. 4. 1924 , publiziert in Martin Jesing-hausen-Lauster , 1985 , 311–313.

338 GC , A. Warburg an Eric M. Warburg , Sohn des Bruders Max W. Warburg , 16. 5. 1928 , nachdem er sich darüber beschwerte , dass die neueste Broschüre der Hamburgischen Universität die KBW nicht erwähnte.

339 WIA , III , 2. 3. 3.9 , A. Warburg , „Durchbruch nach Amerika“ , 4. 7. 1927.

340 GC , A. Warburg an Senator C. Cohn , 6. 9. 1928. Vgl. GC , A. Warburg an F. von Eckardt , Chefredakteur des Hamburger Fremdenblatt , 3. 10. 1928. Siehe auch Uwe Fleckner , Robert Galitz , Claudia Naber , Herwart Nöldeke (Hrsg.) , 1993 , und Franz Boll mit Carl Bezold , 1926.

341 GC , Warburg an Eric M. Warburg , 29. 6. 1928.

342 GC , Warburg an die Altphilologin E. Jaffé , 4. 6. 1929.

thek“ als „Laufgewicht im Kulturgefüge“ einordnete.343 Für Gershom Scholem von der Hebräischen Universität in Jerusalem war es klar , dass er Chiromantie nur in der KBW studieren könne , in dem – so Warburg – „Bureau für geistige Erbgutverwaltung des Mittelmeerbeckens“.344 Die Privatbibliothek eines Spezialisten , die ihr Leben als

„Zeltlager“ begonnen hatte , musste erweitert werden durch die „fortezza“ , die Befes-tigung , die die lokale Universität bot : 345 „ohne Universität [kann] ein Forschungs-institut nicht als lebendiger Organismus in den Gesamtkreislauf der deutschen Kultur einmünden.“346 Das Forschungsinstitut , die KBW als Turm , war ein Denkmodell , das von Saxl natürlich rezipiert und mitgetragen wurde.347

Die KBW in Hamburg übte eine Anziehungskraft auf Wissenschaftler und Studen-ten aus , die an ähnlichen Themen wie Warburg und Saxl arbeiteStuden-ten. Dieser musste nach Warburgs Rückkehr aus dem Sanatorium im August 1924 seine Stellung überdenken. Er war nicht mehr stellvertretender Leiter der Bibliothek und Forschungseinrichtung , son-dern Bibliothekar , auch wenn er Herausgeber der beiden Reihen Vorträge und Studien blieb. Allerdings konnte er von nun an seine eigenen Forschungsgebiete weiterverfolgen , Rembrandtforschung sowie Astrologiegeschichte. Was Saxl wie Warburg weiterhin ar-beitsmäßig verband , war das Forschungsanliegen der Geschichte der Symbole als Ele-mente der Kultur , und , davon ausgehend , die Wanderung und Umformung dieser Sym-bole sowohl in Wort und Bild. Um Kunst , Religion , Literatur und Naturwissenschaften , dies große , unmöglich große Forschungsfeld aller Kulturtätigkeiten zu interpretieren und weiter zu untersuchen , bedurfte es einer Vielfalt von geisteswissenschaftlichen Dis-ziplinen sowie internationaler Zusammenarbeit. Die KBW hatte es sich zur Aufgabe gemacht , nicht nur Ästhetik und Kunstgeschichte als Zuschreibungsgeschichte oder Kunstkritik zu betreiben ; das Ziel war ein anderes , die intellektuelle Tätigkeit diagram-matisch und damit jenseits von rein historisierender Aktualität darzustellen , also den Funktionen des Überlebens der heidnisch-klassischen Antike in der christlich-modernen Welt nachzuspüren und nicht nur Beweise ihrer fortdauernden Existenz zu liefern.

Der Topos des „Nachlebens“ war von Saxl in seinem Artikel zur Zielsetzung der Bibliothek Warburg aus dem Jahre 1920 einer Analyse unterzogen worden. Die Frage war nicht , bis wohin der Einfluss der Antike reichte oder wie stark er war , sondern :

„Welcher Art ist der Einfluss der Antike auf die kommenden Geschlechter ?“ Dadurch wurde die Antike nicht als isolierte Geschichte behandelt , sondern als eine Triade für die Geschichte der Kunst , Religion und Literatur. Das Beispiel der „Dame Venus“

343 GC , Warburg an E. R. Curtius , 5. 8. 1929.

344 GC , Warburg an seinen Bruder Max M. Warburg , 10. 4. 1929.

345 GC , Warburg an E. R. Curtius , 5. 8. 1929.

346 GC , Warburg an W. v. Melle , 24. 12. 1917.

347 Siehe Dorothea McEwan , 2002 b , 37–50.

Fritz Saxl zeigte , dass heidnische Symbole „sogar bis ins Kirchliche“ vordrangen , was er anhand von Mariendarstellungen demonstrierte. Die nachantiken Kulturen zehren von der Antike , verwandeln ihre Formensprache , wirken nach , entwickeln ein Nachleben , zu dessen Erforschung die Bibliothek Warburg die Werkzeuge gab , zunächst die Bücher , in der Folge die Lehrveranstaltungen und Publikationen.348

Ein Komitee von Universitätsprofessoren an der Hamburgischen Universität veröf-fentlichte 1930 ein Dokument zur Geschichte , Organisation und Zielvorstellung von Forschungsinstituten. Die Professoren wollten die Interdependenz der Forschung be-tonen sowie die Rolle , die Forschungsinstitute im „gesamten Geistesleben“ spielten.349 Sie gingen von der klassischen Definition des Wesens und der Ziele eines Forschungs-institutes aus , dem Motto des Carnegie Institutes in Washington : „To encourage in the broadest and most liberal manner investigation , research , and discovery , and the application of knowledge to the improvement of mankind“350 , und schlossen damit , dass Forschungsinstitute „in liberaler Weise jedem zugänglich sein [müssen] , der sich wissenschaftlicher Arbeit widmen will“.351 Hier war nun die offizielle Anerkennung , dass Institute – die oft als Privatgründungen in einer Disziplin Pionierleistungen voll-brachten und später in offiziellen akademischen Strukturen institutionalisiert wur-den – als Kristallisationspunkte fungierten für eine Republik von Wissenschaftlern ; die Arbeit in ihrem Zirkel , Forum , Netzwerk oder Team hob sich deutlich ab von der Tätigkeit des akademischen Personals , das Vorlesungskurse abhielt , mit deren Hilfe der Student einen akademischen Grad erwerben konnte , indem er den Vorschriften der akademischen administrativen Maschinerie Folge leistete. Daher waren die ver-schiedensten Institute – und unter ihnen die KBW – unabhängige und doch mitei-nander verbundene , das gemeinsame Ideal verfolgende postgraduale Zentren der Ge-lehrsamkeit , die sich gegenseitig unterstützten.352 Der Beitrag , den Saxl in diesem Dokument über die KBW schrieb , nannte diese

sowohl Bibliothek wie Forschungsinstitut. Sie dient der Bearbeitung eines Problems , und zwar so , dass sie erstens durch Auswahl , Sammlung und Anordnung des Bücher- und Bildmaterials das Problem , das sie fördern will , darstellt und zweitens die Resul-tate der Forschungen , die sich auf dieses Problem beziehen , veröffentlicht.

Das Problem ist das vom Nachleben der Antike.

348 Fritz Saxl , 1920 , 1–10 , Zitat 4.

349 Ludolph Brauer , Albrecht Mendelssohn-Bartholdy , Adolf Meyer , Johannes Lemcke (Hrsg.) , 1930 , Band 1 , ix.

350 Ebenda , xiv. „Um im breitesten und liberalsten Sinne die Erforschung und Entdeckung und An-wendung von Wissenschaft zur Verbesserung der Menschheit zu fördern“ (Übersetzung der Autorin).

351 Ebenda , xv.

352 Vgl. GC , E. Strong an G. Bing , 21. 8. 1929.

Die Bücher- und Fotografiensammlungen ermöglichten die Untersuchung „der ge-schichtlichen Tatsachen der Überlieferung“ , sodass „aus solcher Erkenntnis allgemeine Schlüsse auf die Funktion des sozialen Gedächtnisses der Menschheit“ gezogen werden könnten 353 , oder in einer Warburg’schen Phrase : „Es ist der Weg vom Monstrum zur Idee.“354 Geschichte als Teleologie. Die KBW und ihre Beschäftigung mit der „Kritik der reinen Unvernunft“ 355 , ein „Zentrum eines der bemerkenswertesten Gelehrtenzir-kel der Weimarer Republik“ 356 , war durch Saxls bahnbrechende Arbeit ein fruchtbarer Ort geworden , eine Organisation unabhängig von engen amtsbürokratischen Überle-gungen oder politischen manipulativen Erpressungen , wie sie auf Universitätsboden so oft vorkamen. Der Privatgelehrte und Freund Paul Ruben , der nach der Übersied-lung der KBW nach London in Hamburg geblieben war und die noch anfallende Post erledigte , pries im Nachhinein wehmütig den „Arbeitsbetrieb“ in der KBW , „wo alles tätig und kameradschaftlich und die geistige Luft überaus ozonreich“ war.357

Die Bibliothek war Warburgs Laboratorium zur Erforschung des Kulturgedächt-nisses. Durch die Bücheranordnung konnten die Wanderwege der kulturellen Trans-formation dargestellt werden wie ein Hypertext , der Computerlinks zusammenfasste.

In einem Brief an den Altphilologen Johannes Geffcken finden wir Warburgs präzis formulierte pädagogische Maximen : 1 , „wir suchen unsere Ignoranz auf und schlagen sie – mit Hilfe unserer Freunde – wo immer wir sie finden“ , und 2 , „der liebe Gott steckt im Detail“ : Denn der innere Zweck der Studien war der Kampf gegen den „cul-te de lincompetence“.358

Somit zeigten sich sehr rasch nach Warburgs Rückkehr nach Hamburg die Erfolge der gemeinsamen wissenschaftlichen Tätigkeit mit Saxl. Sicherlich musste dieser per-sönliche Abstriche machen , sicherlich war es nicht leicht , die Bibliotheksleitung in die

353 Fritz Saxl , 1930 , 355. Siehe Anhang II.15.

354 Vgl. WIA , III.82. 5. Entwurf für die Vorlesung „Italienische Kunst und internationale Astrolo-gie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara“ , 19. 10. 1912 , anlässlich des X. Internationalen kunsthistorischen Kongresses in Rom. Letzter Satz im Vorlesungsentwurf. Vgl. Ernst H. Gombrich , 1999 , 268–282.

355 „Kritik der reinen Unvernunft“ , gemünzt von Warburg , zitiert von Ulrich Raulff , 1997 , 40 ; vgl. GC , Warburg an E. Cassirer , 3. 12. 1928 : „Der Mann dessen Schwergewicht mir eben hier [Rom]

aufgeht , ist Giordano Bruno. Seine Erkenntniskritik , die sich hinter dem Symbol eines Feldzuges der Götter gegen die Himmelsdämonen verbirgt , ist doch in Wahrheit eine Kritik der reinen Unvernunft , die ich unmittelbar in geschichtlichem Zusammenhang bringen kann mit meinem psychologischen Bildermaterial (Harmonie der Sphaeren 1589).“

356 Roland Kany , 1989 , 7.

357 GC , P. Ruben an A. Vagts , 10 / 05 / 1934.

358 GC , Warburg an J. Geffcken , 16. 1. 1926. Auch Warburg an Fräulein H. J. A. Reuss , richtig Ruys , Reichsuniversität Leiden , 15. 12. 1925. Vgl. Giovanni Mastroianni , 2000 , 413–442 ; H.

Schubart an Warburg , 25. 6. 1926 ; Warburg an M. Gaster , 9. 1. 1925.

Fritz Saxl Hände Warburgs zurückzulegen. In der Korrespondenz klingt nirgends ein Kommen-tar an , dass Saxl sich fügen musste , dass gewisse Sachen einfach anders erledigt werden sollten etc. Was jetzt für Saxl begann , war eine Art Freiraum , eine Reihe von Jahren , die mit Reisen durch ganz Europa ausgefüllt waren , auf denen er endlich wieder seine eigenen Forschungsanliegen verfolgen konnte.

Im Dokument 2. Die Warburg-Boll-Saxl-Kontakte (Seite 82-88)