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Wissenschaftliche Zusammenarbeit in Kreuzlingen

Im Dokument 2. Die Warburg-Boll-Saxl-Kontakte (Seite 73-82)

Akademie , Frühjahr 1913

9. Wissenschaftliche Zusammenarbeit in Kreuzlingen

Während der viereinhalb Jahre , die Warburg in Sanatorien verbrachte , hatte er die rückhaltlose Unterstützung von Saxl , der überzeugt war , dass jener eines Tages wie-der wissenschaftlich arbeiten könne.278 In den langen Jahren wie-der Krankheit war er es , der durch seine wissenschaftliche Hilfe – ständige Korrespondenz , Beschaffung von Abbildungsmaterial , Fachliteratur , Korrespondenz mit Verlegern , Fahnenkor-rekturen , Versand von Sonderdrucken an Kollegen und Experten – Warburg forderte und förderte und schließlich zu seiner Heilung wesentlich beitrug.

Saxl verbrachte jedes Jahr mehrere Wochen bei Warburg in Kreuzlingen. Er muss-te daher mit dem Sanatoriumsleimuss-ter Dr. Ludwig Binswanger im ständigen Briefkon-takt sein , da es von dessen Diagnose abhing , ob , wann und wie lange jeder Besu-cher kommen durfte.279 Heute , nachdem sowohl das Briefarchiv im WIA wie die sogenannte Krankenakte des Sanatoriums Binswanger in der Universität Tübingen öffentlich zugänglich sind , wird der Einfluss Saxls auf Warburgs Genesungsprozess klar. Dieser freute sich auf Saxls Besuche , drängte , er solle oft kommen und lange bleiben. Saxl kam immer wieder , blieb mehrere Wochen und führte täglich lange wissenschaftliche Unterhaltungen mit ihm , ging mit ihm spazieren , tippte ihre Ge-spräche in die Schreibmaschine. Durch seine häufigen Besuche und seine Mithilfe trug er sicherlich mit dazu bei , dass sich Warburg aus seiner Depression und den Verfolgungsgefühlen allmählich befreien konnte.

Die enge Zusammenarbeit der beiden wurde in diesen traurigen Jahren der Krankheit von drei wissenschaftlichen Glanzleistungen gekrönt , an denen Saxl auch entscheidenden Anteil hatte : erstens die Veröffentlichung der beiden Vorträ-ge Warburgs , die er 1912 am 10. Internationalen kunsthistorischen Kongress in Rom gehalten hatte , über die rätselhaften Fresken , vor allem die Figuren auf den Mittelstreifen , in denen Warburg die Dekane erkannte , also die Zehntagesgötter oder -sternzeichen im Palazzo Schifanoja in Ferrara280 und über die Aquarellkopie des Johann Anton Ramboux von Piero della Francescas Constantinschlacht , mit der er dem unmittelbaren Vorbild Pieros für Kaiser Maxentius , nämlich Johannes Pa-läologus , auf die Spur gekommen war 281, zweitens die Lutherschrift sowie drittens 278 GC , Saxl an Warburg , 28. 12. 1921.

279 GC , z. B. Saxl an L. Binswanger , 25. 3. 1922.

280 Aby Warburg , 1922 a.

281 Aby Warburg , 1922 b.

der Vortrag , den Warburg im Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen am 21. April 1923 über das Schlangenritual der Hopi in Colorado gehalten hatte.282

Die Dritte war die wohl wichtigste wissenschaftliche Arbeit. Warburg nannte den Vortrag „Die Logik in der Magie des primitiven Menschen“ , berühmt aber wurde er unter dem schlagwortartigen Titel „Schlangenritual“ , der erst 1938 , neun Jahre nach Warburgs Tod , in einer gekürzten und bearbeiteten Fassung auf Englisch im Journal of the Warburg Institute unter dem Titel „A Lecture on Serpent Ritual“ herauskam und auf Deutsch sogar erst 1988 unter dem Titel Schlangenritual : Ein Reisebericht.283 Er sollte den behandelnden Ärzten wie seiner Familie und Freunden zeigen , dass Warburg sich auf dem Weg der Besserung befand ; allerdings sollte es noch über ein Jahr dauern , bis Warburg nach Hamburg zurückkehren konnte.

Dieser Vortrag war das Resultat eines langen Forschungsprojekts , das mit War-burgs Reise zu den Indianern im Südwesten der Vereinigten Staaten zusammenhing.

Warburg weilte vom September 1895 bis Mai 1896 in den USA , wohin er anlässlich der Hochzeit seines Bruders Paul mit Nina Loeb in New York gefahren war. Nach ei-nem kurzen Aufenthalt in Washington , wo er die Smithsonian Institution besichtig-te , brach er in den Südwesbesichtig-ten des Landes auf 284 , um Malereien und Ornamenbesichtig-te der Hopi zu sehen , die sich in einer Übergangsphase von traditionellem Kulturleben zur Erosion desselben durch Kontakte mit Lehrern und Missionaren befanden. Er machte Fotos , kaufte indianische Gerätschaften , stellte Wortlisten zusammen , um mit den Indianern sprechen zu können , führte Tagebuch und hielt nach seiner Rückkehr drei Vorträge über seine Forschungen zum religiösen Symbolismus.285 Er hatte verschie-dene Ritualtänze gesehen , den Antilopen- , nicht aber den Schlangentanz. Später in seinem Leben spielte Warburg mit dem Gedanken einer zweiten Amerikareise , aber dieses Projekt konnte aus Gesundheitsgründen nicht mehr verwirklicht werden. Er studierte die Hopi , ihre Symbolik , Tänze , Religion , Kostüme unter dem Blickpunkt

282 Siehe Dorothea McEwan , 2007 b. Warburg hatte 1895/96 Colorado , Neu-Mexiko und Arizona bereist. Vgl. Michael P. Steinberg , 1995 ; Cora Bender , Thomas Hensel , Erhard Schüttpelz , 2007.

283 Aby Warburg , 1938/39 , 2 , 277–92 , auf Englisch 1988 , erstmals erschienen auf Deutsch mit einem Nachwort von Ulrich Raulff.

284 FC , Warburg an Felix Warburg , 18. 12. 1895.

285 Warburg sprach am 21. 1. 1897 in der „Gesellschaft zur Förderung der Amateur-Photographie in Hamburg“. Darüber wurde unter dem Titel „Projektionsabend – A. Warburg“ , unsigniert , in Pho-tographische Rundschau , 1897 , XI , 38 , berichtet. WIA , III.46. 1. 5. 1. Warburg hielt einen zweiten Vortrag am 10. 2. 1897 im „Amerikanistenclub“ in Hamburg , ein Bericht darüber , etwa in einer Ta-geszeitung , ist mir nicht bekannt. Er sprach ein drittes Mal über das Thema am 16. 3. 1897 in „Freie photographische Vereinigung zu Berlin“. Darüber wurde unter dem Titel „57. Projektionsabend am 16. März 1897“ von Franz Goerke in Photographische Rundschau , 1897 , XI , 61 , berichtet. WIA , III.46. 1. 5. 2. Abgesehen von diesen drei Vorträgen verfasste Warburg keine druckreife Textversion.

Fritz Saxl einer umfassenden Gefühls- und Ausdruckssprache , die er später aphorismenartig mit den Worten „Es ist ein altes Buch zu blättern , Athen – Oraibi – alles Vettern“

umreißen sollte. In Anlehnung an das Goethewort aus Faust II , „Es ist ein altes Buch zu blättern : Vom Harz bis Hellas , immer Vettern“286 , setzte er für „Harz“ den Namen eines Dorfes in Neu Mexiko ein , Oraibi , wo er Kulttänze miterlebt hatte.

Erst als kranker Mann , im Sanatorium 1922 und 1923 , griff er das Thema Ma-gie , Heilung und symbolische Bildersprache wieder auf. Die Hopi-Forschung war fast 30 Jahre lang im Hintergrund geblieben , bis ihm Saxl 1921 von einem Vortrag Ernst Cassirers in der „Religionswissenschaftlichen Gesellschaft“ in Berlin berichte-te , der auf die Arbeit des amerikanischen Ethnologen Frank Hamilton Cushing über die Zuni287 zurückging , die ihre Kosmologie nicht mit Astrologie , sondern mit dem Totemtier verknüpften.288 Warburg las den Text und beschloss mit Einverständnis seines behandelnden Arztes , Ludwig Binswanger , seine eigenen Ideen über seine Le-bensgeschichte , die Amerikareise und die Geschichte seiner Krankheit zu Papier zu bringen.289 Durch die Erinnerung an die Reise zu den Indianern sollte er sein eigenes Leben und Forschungsprogramm überdenken , um aus einem Abstand von fast 30 Jahren seine Erfahrungen in den USA mithilfe seiner seither gewonnenen wissen-schaftlichen Erkenntnisse zu analysieren.

Aus einem autobiografischen Schreibvorhaben war rasch ein Vortragsprojekt ge-worden , in dem das Thema „Hopi“ den Kristallisationspunkt zur Diskussion von Furcht und Furchtbannung , Beschwörung , Leiden und Pathophobie darstellte.

Natürlich fehlten Warburg die Unterlagen , Bücher wie Fotografien , und da setz-te Saxl ein. In jedem Brief wurde das Thema angesprochen , er bemühsetz-te sich von Hamburg aus Fachliteratur nach Kreuzlingen zu schicken und konnte schließlich die letzten sieben Wochen vor dem Vortrag im April 1923 mit Warburg in Kreuz-lingen zusammenarbeiten. Saxl traf am 12. März ein. Die Bibliothekarin Gertrud Bing musste nun Bücher von Hamburg nach Kreuzlingen schicken , Landkarten von Amerika , auch Gegenstände wie das Papierbrot der „Zunis“ , das Cushing Warburg

286 Faust II , 2. Akt , Szene Klassische Walpurgisnacht , „Am oberen Peneios , 2“ , 7743-7744. Zu Beginn des Artikels „A Lecture on Serpent Ritual“ , in Journal of the Warburg Institute , Bd. II , Nr. 4 , April 1939 , 277 : „Es ist ein altes Buch zu blättern , Athen-Oraibi , alles Vettern.“

287 Frank H. Cushing , 1920. Warburg und Saxl verwendeten die Namen „Zuni“ , „Hopi“ und

„Moki“ wechselweise. Warburg war sowohl zu den Zuni und Hopi gereist. Das Wort „Moki“ be-deutet „die wie im Tod Bleichen“ oder „Tote“ und ist ein Schimpfname ; heute wird nur mehr noch der Name Hopi verwendet. Vgl. Erhard Schüttpelz , in Cora Bender , Thomas Hensel , Erhard Schüttpelz , 2007 , 192.

288 GC , Saxl an Warburg , 8. 12. 1921.

289 GC , Saxl an Fritz Warburg , „Bruder“ file , 21. 9. 1922.

geschickt hatte.290 Saxl ließ Bücher über indianische Keramik kommen , Lichtbilder von Warburgs Amerikafotos anfertigen , beriet ihn bei der Auswahl des restlichen Bildmaterials und spürte die Spannung , die diese intellektuelle Arbeit nach so vielen Jahren der erzwungenen Ruhe auslöste.

Er hatte Warburg die Glasdiapositive mitgebracht , die dieser selbst mit seiner klei-nen Kodak-Boxkamera angefertigt hatte , er ging mit ihm den Zettelkatalog „Ameri-ka“ durch , den Warburg mit bibliografischen Angaben über die Jahre hindurch aufge-baut hatte ; Warburg diktierte an den Nachmittagen , Saxl tippte abends die Texte und las sie am nächsten Vormittag vor. Er schlug Fachliteratur zur Hauptthematik des Vortrages vor , zur Funktion von Magie und Furcht , korrigierte den Text , die Bilder-reihen und war darüber hinaus Warburgs moralische Stütze in einer äußerst prekären Lage : Warburg wollte mit diesem Vortrag beweisen , dass er nicht geisteskrank war , dass er wissenschaftlich arbeiten konnte und dass er deshalb aus dem Sanatorium ent-lassen werden sollte. Saxl setzte alles in Bewegung , dass Warburg der Versuch glückte.

Er sagte seine eigenen Vorlesungen an der Hamburgischen Universität ab291 und wur-de für das Sommersemester offiziell beurlaubt . Der Dekan wur-der philosophischen Fa-kultät , Conrad Borchling , zeigte sich großzügig : Es war für die Universität wichtig , dass Saxl mit Warburg in Kreuzlingen gut zusammenarbeite , sodass Warburg wieder geheilt nach Hamburg zurückkommen könne.292

Mary Warburg betonte in ihrem ersten Brief an Saxl in Kreuzlingen , dass er sich nicht selbst anklagen sollte , wenn er in Kreuzlingen nichts erreichen würde.293 Aber schon am nächsten Tag konnte Saxl sie beruhigen , Warburg habe ihm bereits 40 Sei-ten diktiert , die er in die Schreibmaschine übertragen habe. Es seien hauptsächlich Aphorismen , Dinge , die Warburg in San Francisco beschäftigt hätten , Symbolprob-leme , Themen , die mit seiner Krankheit wie mit seinen Forschungen zusammenhin-gen , die Befreiung des Menschen aus magischer Furcht , ein Thema , mit dem er ganz persönlich für die Dauer seiner Behandlung täglich konfrontiert sei. Ernst Gombrich schrieb später , dass Warburg wohl gespürt habe ,

dass seine eigene Krankheit ihn zu einem ganz anderen Verständnis dieser „primi-tiven“ Zustände geführt hatte , und er war voller Zuversicht , dass er durch ihre Be-schreibung ausreichend „Distanz“ zurückgewinnen würde , um jenes seelische Gleich-gewicht zu erreichen , das er schon immer als etwas Gefährdetes erlebt hatte.294

290 GC , G. Bing an Saxl , 19. 3. 1923.

291 GC , Saxl an Hamburgische Universität , 10. 4. 1923.

292 GC , C. Borchling an Saxl , 16. 4. 1923.

293 GC , Mary Warburg an Saxl , 22. 3. 1923.

294 Ernst H. Gombrich , 1981 , 295.

Fritz Saxl Saxl war angenehm davon überrascht , dass die Arbeit gut vonstatten ging : „Der An-trieb zur Arbeit ist ja unendlich stark , die Hoffnung dadurch von Kreuzlingen weg zu kommen“ wohl der größte Motor. Allerdings beklagte er den Mangel an Fachbüchern , wodurch es schwierig sei , Warburg „vom Philosophieren ans Material zu bringen“.

Aber nur das „eigentliche Arbeiten“ sei der Weg , „aus dieser Geisterwelt in die Welt der Gesundheit zu kommen“.295

Am nächsten Tag machten Saxl und Warburg einen Spaziergang und besichtigten St. Ulrich , die alte Kirche von Kreuzlingen mit ihrer Ölbergkapelle , eine barock aus-geschmückte Seitenkapelle mit einem von der Decke herunterhängenden Kruzifix und der Szene der Errichtung der ehernen Schlange auf dem Deckengemälde über dem Kreuz. Er erzählte Binswanger „von dem durch das Christentum ‚verdrängten‘

und doch typologisch bewussten Schlangenkult (4 ,21)“ und „von der Schlange in Kreuzlingen“.296 Auch in seinem täglichen Brief an seine Frau berichtete Warburg von diesem Fund , der Schlange in Kreuzlingen , „wo ich Saxl das Deckengemälde vom Wunder der ehernen Schlange im Alten Testament in Parallele zur Kreuzigung zeigte“.297 Zwei Wochen später schrieb er ihr , dass er mit Saxl das Buch von Fewkes über den Schlangentanz studiere , „Ohne Zweifel die interessanteste Enklave heidni-scher Natur-Religiosität inmitten europäiheidni-scher Kultur aus früheren Jahrhunderten (Span / Mexiko) und Jetztzeit“.298 Und : „Arbeit wieder am Laokoon als Symbol der großen Schlangennot und bin selbst ein brüllender Schlangen-Laokoon. Was ich da aushalte ! “299

Saxl musste natürlich von Kreuzlingen aus die Agenden der KBW und seine Kor-respondenz mit anderen Gelehrten weiterführen. Bing antwortete Warburg auf eine Frage zur ehernen Schlange 300 , Saxl berichtete über die Fortschritte am Vortragstext , Warburg hätte schon 50 Seiten diktiert und aus den 80 Diapositiven 40 ausgewählt , vor allem die Bilder von den Tänzen. Das Vortragsgerippe stand somit bereits fest : eine geografische Einführung , allgemeine Landschaftsaufnahmen , „damit man sieht , dass die Leute Dorfbewohner in der Steppe sind“ , Bilder der Töpferei und Weberei , mit denen gezeigt werden solle , „dass sie symbolischer Ausdruck magischer Vorstel-lungen sind“ , an die sich die Tänze schließen „als mimischer Ausdruck der magischen

295 FC , Saxl an Mary Warburg , 23. 3. 1923. Saxl-Mary Warburg file.

296 WIA , III.54 a , Tagebuch , März 1923 , 5894 und 5895. Zitiert mit Bewilligung des Nachlass-verwalters. „4 ,21“ steht hier für Numeri 4. Mose 21 , 4–9 , Moses richtet die eherne Schlange auf.

297 FC , Warburg an Mary Warburg , 24. 3. 1923.

298 FC , Warburg an Mary Warburg , 8. 4. 1923. Vgl. Jesse Walter Fewkes , 1895 , 180–241 and Jesse Walter Fewkes , 1897 , 273–326.

299 FC , Warburg an Mary Warburg , 11. 4. 1923.

300 GC , G. Bing an Warburg , 27. 3. 1923.

Vorstellungen“. Er sei sicher , dass es ihnen gelingen würde , das Wesentliche , das „das primitive Denken von dem unseren“ unterscheidet , in die Bildprogramme aus dem Leben der Pueblo-Indianer einzuordnen.301

Die angespannte Arbeit wirkte sich sehr positiv auf Warburg aus , er konzentrierte sich auf seine Forschungen und nicht auf seine persönlichen Grübeleien ; als kranker Mann , der sich selbst im pathophobischen Kampf mit der Schlange sah , ging es ihm darum , das „primitive“ magisch-orientierte Denken zu verstehen und die „dämoni-schen Lebensmächte“302 in den Griff zu bekommen.

Die Ärzte waren sehr beeindruckt von seinen Fortschritten 303 , auch Warburg musste sie spüren , da er sich in einem Brief an Doren lobend über Saxl ausdrückte und ihn sei-nen „besten Freund“ nannte.304 Saxl berichtete ganz reumütig an die „liebe Bibliothek“ , dass seine Kollegen recht hätten , wenn sie auf ihn böse wären , weil er nichts von sich hören ließe. Aber er arbeitete fieberhaft mit Warburg in den wenigen Tagen , die ihm noch vor dem Vortrag blieben , in Saxls Augen ein Versuch Warburgs , sich selbst vor Ma-gie zu retten.305 Als Untertitel zog Warburg zwischenzeitlich „Maskentanz der Pueblo-Indianer als Akt sozialer Ernährungsfürsorge durch dämonische Magie“ in Betracht.306 Binswanger hatte an Warburgs Hausarzt Heinrich Embden geschrieben , dass er mit ihm dessen Entlassung aus der Heilanstalt besprechen wolle. Embden hatte Mary Warburg davon unterrichtet , die wiederum an Saxl schrieb , dass die Zeit nach Warburgs Rückkehr nach Hamburg sehr schwierig für ihn werden würde. Sie fügte hinzu , dass sie nicht aus-drücken könne , wie enorm dankbar sie Saxl für seine „rührende Hingabe an das schwierige Hilfswerk“ sei 307 , Warburg in seinem Kampf beizustehen , den sie schon viele Jahre zuvor als den der „Sternennatur“ gegen die „Sumpfnatur“ angesprochen hatte.308

Der Vortrag war für Samstag , den 21. April , angesetzt. Saxl berichtete nach Ham-burg , dass nach einer Probelesung am Nachmittag des 21. April abends der Vortrag glänzend über die Bühne gegangen sei. Der Speisesaal sei von Patienten , Ärzten , Pfle-gern , Freunden und dem „geistige[n]“ Kreuzlingen voll gewesen. Mit dem Typoskript griffbereit am Vortragspult , habe Warburg 45 Minuten lang frei gesprochen. Dadurch habe der Abend seinen wissenschaftlichen Anstrich verloren und sei eine „mehr oder weniger gut gelaunte Causerie“ gewesen. Die Zuhörer seien von der Leidenschaft , mit

301 FC , Saxl an Mary Warburg , 29. 3. 1923. Saxl-Mary Warburg file.

302 GC , Warburg an A. Doren , 31. 3. 1923.

303 GC , Saxl an Mary Warburg , 8. 4. 1923.

304 GC , Warburg an Saxl , 6. 4. 1923.

305 GC , Saxl an KBW , 8. 4. 1923 , Bing file.

306 FC , Warburg an Mary Warburg , 17. 4. 1923.

307 GC , Mary Warburg an Saxl , 8. 4. 1923 , Saxl-Mary Warburg file.

308 FC , Mary Hertz an Warburg , 29. 5. 1892.

Fritz Saxl der er gesprochen und das Problem besprochen habe , gepackt gewesen : „Wie erlöst sich die Menschheit vom primitiv Magischen und kommt zur vergeistigten Andacht einerseits , zum logischen Denken andererseits ?“309

Fünf Tage später musste Saxl Warburg versprechen , dass er den Vortragstext nie-mandem außer Mary Warburg , seinem Hausarzt und Freund Heinrich Embden , seinem Bruder Max Warburg und den von ihm hochgeschätzten Philosophen Ernst Cassirer zeigen würde. Der Text dürfe auch noch nicht gedruckt werden , da er gründ-lich überarbeitet werden müsste – Warburg nannte ihn die „gräugründ-lichen Zuckungen eines enthaupteten Frosches“. Er dankte Saxl für seine „Hebammen-Dienste“ dieser

„Missgeburt“.310 Schon am nächsten Tag bedauerte Warburg Saxls Abreise , weil „er als hebende Kraft unschätzbar ist und mich , wie 1918–1920 wieder in Gang bringt mit großem Eifer. Aber , aber , einen ganz guten Nachgeschmack hinterlässt er nicht“ , womit er eine Reihe von kritischen Kommentaren einleitete. Saxl habe immer seinen finanziellen Vorteil im Sinn , gehe mit den Finanzen anderer nicht sparsam um ; er übe auf Warburgs Sohn Max Adolf „keinen genug guten Einfluss aus“ , den er nicht richtig liebe oder verstehe ; er sei wissenschaftlich nicht gründlich genug ; er habe eine vorei-lige Ader , aber , „macht nichts“ , er ist der Mann , der ihm mit seiner Geduld half.311 Kurz darauf gestand er , dass „ohne ihn als Hebamme“ sein „Product nie an das Ta-geslicht […] nach der Lutherschrift“ gekommen wäre.312 Mary allerdings erhob Ein-spruch gegen Warburgs Kritik , sie fand , dass Saxl nie Ansprüche an andere stellte , dass er alles gut verstände und seine Pflicht täte und mehr als seine Pflicht ; er wäre absolut nicht egoistisch oder nur auf seinen Vorteil bedacht. In der Zeit der Hyperinflation wäre es unsinnig , auf jeden Groschen zu schauen.313

Saxl versprach , sich an das Verbot der Veröffentlichung zu halten , erwähnte nur wenig später , dass er den Vortragstext mit Embden314 sowie Cassirer lese.315 In einem Brief an Dagobert Frey erklärte er die späte Rücksendung von Korrekturen seiner drei Artikel , die Frey publizieren sollte 316 , mit seiner intensiven siebenwöchigen Arbeit in Kreuzlingen : „Sie können sich vorstellen , wie wichtig es menschlich und wissenschaft-lich wäre , wenn es gelänge , diesem Mann wieder zu wissenschaftwissenschaft-lichen Arbeitsleistun-309 GC , Saxl an Mary Warburg , 23. 4. 1923 , Saxl-Mary Warburg file.

310 GC , Warburg an Saxl , 26. 4. 1923.

311 FC , Warburg an Mary Warburg , 27. 4. 1923.

312 FC , Warburg an Mary Warburg , 3. 5. 1923.

313 FC , Mary Warburg an Warburg , 4. 5. 1923.

314 GC , Saxl an Warburg , 30. 4. 1923.

315 GC , Saxl an Warburg , 7. 5. 1923.

316 Nur „Frühes Christentum und spätes Heidentum“ , 1923 a , wurde in Wien gedruckt ; Dürers

„Melencolia I“ , 1923 b , und Antike Götter in der Spätrenaissance , 1927 b , wurden bei B. G. Teubner in Leipzig gedruckt.

gen zu verhelfen.“317 Nochmals bedankte sich Warburg bei Saxl nach dessen Abreise aus Kreuzlingen ; natürlich klagte er , dass es ihm wieder schlecht ging 318 , schärfte Saxl nochmals ein , dass er den Vortragstext niemandem zeigen dürfe319 und wunderte sich , warum ihn Cassirer nicht besuche – finde er etwa seine Ideen zu „schwach“ ?320 Saxl beruhigte ihn , dass Cassirer vom Vortrag über das Schlangenritual beeindruckt sei 321 , sich aber noch nicht festlegen könne , wann er Warburg besuchen würde.322

Warburg fühlte sich isoliert , der Vortrag hatte ihm nicht die Rückkehr nach Ham-burg gebracht.323 Saxl hatte ihm soweit wie möglich geholfen. Er hatte seine eigenen Vorbereitungen zu den Vorlesungen im Sommersemester hintangestellt und musste für das folgende Wintersemester in Mary Warburgs Worten umso mehr arbeiten. Es gelang ihm , im Oktober 1923 nach Rom zu reisen , wo er „wie ein Wilder von Morgens bis Nachts gearbeitet hat , selig , mal wieder ausschließlich für seine Arbeit existieren zu können [Abb. 13]. Innerhalb einer Woche hatte er bereits 18 Vorlesungen fertig ! Ein unglaublicher Kerl ! “ .324

Zu Weihnachten 1923 bedankte sich Warburg nochmals bei Saxl für dessen

Zu Weihnachten 1923 bedankte sich Warburg nochmals bei Saxl für dessen

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