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Zur Entwicklung der Nachkriegsphilosophie Joachim Ritters

Im Dokument im Ausgang von Joachim Ritter (Seite 83-146)

einer Theorie der Religion

3.1 Zur Entwicklung der Nachkriegsphilosophie Joachim Ritters

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Ritters philosophisches Denken erst in den Jahren nach seiner Rückkehr aus der Türkei die erwähnte, eng an einer Ausle-gung von Aristoteles und Hegel orientierte Gestalt annimmt. Nach zwei Jahren an

3 Vgl. hierzu zusammenfassend Schweda, Entzweiung und Kompensation (wie Kap. 1, Anm. 19), insb. 108–121.

4 Im Falle Hegels gilt das insbesondere für Ritters aus einem im Jahr 1956 gehaltenen Vortrag her-vorgegangenen Aufsatz »Hegel und die französische Revolution« (abgedruckt in: Ders., Metaphy-sik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel. Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt a.M. 2003, 183–255), im Falle des Aristoteles etwa für den Aufsatz »Das bürgerliche Leben. Zur aristotelischen Theorie des Glücks«, ebenfalls aus dem Jahr 1956 (wie Kap. 1, Anm. 20).

der Universität Istanbul nimmt Ritter 1955 seine Lehrtätigkeit in Münster wieder auf, und der größte Teil seines publizierten Werkes, insbesondere die Mehrzahl der in dem Band Metaphysik und Politik gesammelten Aufsätze, entstammt den darauffolgenden Jahren, mithin einer ›nachtürkischen‹ Zeit, um eine Begriffs-prägung Odo Marquards aufzugreifen.5 Eine ganze Reihe seiner Studenten aus der ersten Nachkriegsgeneration, die am Collegium Philosophicum teilgenom-men hatten, war zum Zeitpunkt seiner Rückkehr aus Istanbul bereits promoviert worden oder stand unmittelbar vor dem Studienabschluss; dies galt insbesondere etwa für Robert Spaemann (Promotion 1951), Hermann Lübbe (1951) und Odo Marquard (1954). Mangels einschlägiger Publikationen wurde diese erste Genera-tion seiner Nachkriegsstudenten in erster Linie durch den persönlichen Kontakt mit Ritter im Seminar, seine Vorlesungen und gegebenenfalls durch außeruniver-sitäre Vorträge geprägt, und im Blick auf Ritters spätere Überlegungen zur moder-nen Welt und ihrer Entzweiungsstruktur ist es daher von besonderem Interesse, wenn einzelne dieser Autoren später darauf hingewiesen haben, dass sich Ritters Positionen im Umfeld des Türkei-Aufenthaltes signifikant verschoben hätten.6

Die beiden Jahre, die Ritter zwischen 1953 und 1955 mit seiner Familie in Istan-bul verbrachte und auch für Reisen durch das Land nutzte, bedeuteten ihm eine persönliche Erfahrung, die sich – auch ausdrücklich – in seiner philosophischen Reflexion der modernen Welt niederschlug. Versteht man Ritters nachtürkischen Blick auf die Moderne als eine grundsätzliche Bejahung ihrer Entzweiungsstruktur bzw. als unzweideutige Affirmation eines in ihr erreichten Maßes gesellschaftli-chen und politisgesellschaftli-chen Fortschritts, so hat sie diese Überzeugungsfestigkeit wesent-lich auch den beiden Jahren in der Türkei zu verdanken. Denn in der Tat eröffnen die wenigen im Druck erschienen Texte Ritters aus der Kriegsgefangenschaft und der unmittelbaren Nachkriegszeit, mehr noch aber seine unveröffentlichten Vor-träge und Vorlesungen der ›vortürkischen‹ Jahre den Blick auf einen in seinem Urteil über die moderne Welt noch ungefestigten Philosophen, dem auch deut-liche Spuren kulturpessimistischer Zweifel abzulesen sind. Darin mag sich nicht zuletzt eine als bedrängend empfundene Lebenswirklichkeit der unmittelbaren Nachkriegsjahre niederschlagen, deren Eindruck später – im Kontrast mit der in jenen Jahren noch kaum industrialisierten Türkei – einem inneren

Einverständ-5 Diese Unterscheidung von »vortürkisch-verfallstheoretisch« und »nachtürkisch-entzweiungs-theoretisch« als abweichende Akzentuierungen der Kompensationstheorie bei Joachim Ritter formuliert Odo Marquard, Zukunft und Herkunft (wie Kap. 2, Anm. 127), 23f. Von den im Band Metaphysik und Politik (wie Kap. 3, Anm. 1) gesammelten Aufsätzen reicht lediglich »Die Lehre vom Ursprung und Sinn der Theorie bei Aristoteles« in vortürkische Zeit zurück (1953 erstpub-liziert; sodann wie Kap. 2, Anm. 25); der Aufsatz »Aristoteles und die Vorsokratiker« wurde 1954 während Ritters Zeit in Istanbul veröffentlicht (wie Kap. 2, Anm. 25). Zu den in Metaphysik und Politik zusammengefassten Aufsätzen vgl. insgesamt auch das Nachwort zur erweiterten Neuaus-gabe des Bandes von Odo Marquard, Positivierte Entzweiung (wie Kap. 1, Anm. 13), insb. 446–453.

6 Nicht allein Odo Marquards Rede von einem vortürkischen und einem nachtürkischen Ritter, wiewohl ironisch überzeichnet, verweist auf diese wahrgenommene Differenz. Vgl. dazu im Fol-genden insb. Abschnitt 3.2.2 bzw. Abschnitt 3.2.3 dieser Arbeit.

nis mit der jungen, wirtschaftlich prosperierenden Bundesrepublik gewichen ist.

Im Hinblick auf eine Beurteilung der differenzierten Wirkungen, die von Ritters Philosophie der modernen Welt auf den Kreis seiner Schüler ausging, soll diese sich bei Joachim Ritter abzeichnende Denkentwicklung im Folgenden besonders berücksichtigt werden, zumal sie sich gerade in seinen wenigen ausdrücklichen Texten zu Fragen von Religion und Gesellschaft dokumentiert. Zunächst ist aller-dings das bis heute wirkungsreiche – und in Publikationen zugängliche –, an He-gel und Aristoteles ausgebildete Verständnis Ritters der modernen Gesellschaft als einer Gesellschaft von Entzweiung und Kompensation vorzustellen. Auf die Frage der Bedeutung des Türkei-Aufenthalts für die Genese der Ritterschen Philosophie wird im zweiten Teil des Kapitels zurückzukommen sein.

3.1.1 Die moderne Welt im Spiegel von Fortschritts- und Verfallstheorien

Nach seiner Rückkehr aus Istanbul eröffnete Joachim Ritter in Münster mit dem Sommersemester 1955 einen dreiteiligen Vorlesungszyklus zur Philoso-phie der bürgerlichen Gesellschaft, an den sich 1957/58 eine zweisemestrige Vorlesung zur Geschichtsphilosophie anschloss.7 Weitere Lehrveranstaltungen

7 Manuskripte sowie Vorlesungsmitschriften dieser Vorlesungen sind im Nachlass Ritters im Deut-schen Literaturarchiv Marbach erhalten. Die vorliegende Arbeit wird im Folgenden vor allem die drei Vorlesungen zur Gesellschaftsphilosophie behandeln, die im Nachlass mit den Ordnungs-nummern III, 27, III, 32 und III, 35 geführt werden. Die erstgenannte dieser Vorlesungen unter dem Titel »Die bürgerliche Gesellschaft I. Interpretationen zur Philosophie der Gesellschaft und ihrer Geschichte« liegt dabei sowohl mit einem 163-seitigen Vorlesungstyposkript vor, aus der die folgenden Ausführungen zitieren werden, als auch in einer studentischen Mitschrift. Diese Fassungen, wie im Übrigen auch das Nachlassverzeichnis, weisen jeweils eine – nachträgliche – Datierung auf das Wintersemester 1952/1953 auf, also für das letzte vortürkische Semester Rit-ters in Münster. Diese Datierung widerspricht allerdings der in der Vorlesung bereits zu Anfang gegebenen Referenz auf Ernst Jüngers Schrift Der Gordische Knoten, die in erster Auflage erst im September 1953 erschien (vgl. Ernst Jünger, Der Gordische Knoten, Frankfurt a.M. 1953, hier 4, d.i. Impressumsseite, URL: http://books.google.de/books?id=0MU3zT_8NwQC [Zugriff vom 01.12.2015]). Deshalb und aufgrund weiterer Indizien, die den inhaltlichen Zusammenhang die-ser Vorlesung mit der unter Nr. III, 32 verzeichneten Vorlesung unter dem Titel »Die Emanzi-pationstheorien der bürgerlichen Gesellschaft und Hegel II« betreffen, handelt es sich wohl viel-mehr um die im Vorlesungsverzeichnis der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster unter dem Titel »Gesellschaftsphilosophie« angekündigte Vorlesung des Sommersemesters 1955 (vgl.

Personal- und Vorlesungsverzeichnis der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Som-mersemester 1955, 93, Permalink: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:6:1-14754 [Zugriff vom 01.12.2015]). Die unter Nr. III, 32 genannte Vorlesung schließt daran an; sie liegt im Nachlass wie-derum in unterschiedlichen Provenienzen vor (als 247-seitiges Typoskript sowie als studentische Nachschrift) und wird jeweils auf Wintersemester 1955/1956 datiert. Der sich im Wintersemester 1956/1957 daran anschließende dritte Teil der Vorlesungsreihe ist nur als studentische Nachschrift überliefert und trägt dort den Titel »Hegel und Marx«. Bei den erwähnten geschichtsphiloso-phischen Vorlesungen im Sommersemester 1957 sowie im Wintersemester 1957/1958 handelt es sich um die im Nachlass mit den Ordnungsnummern III, 36 sowie III, 37 bzw. III, 38 bezeich-neten, die ebenfalls in unterschiedlichen Provenienzen überliefert sind. Diese Vorlesung zur Geschichtsphilosophie erwähnt auch Karlfried Gründer, Ritters hermeneutische Philosophie, in:

mit geschichts- und sozialphilosophischem Schwerpunkt ziehen sich bis in die 1960er Jahre hinein. Ihnen gemein ist, dass sie der Philosophie Hegels, im Be-sonderen seiner Rechtsphilosophie, eine Schlüsselrolle nicht nur zum Zwecke einer Interpretation historischer philosophischer Positionen und Diskurse zuschreiben, sondern auch die Bestimmung der Position der eigenen Gegenwart wesentlich von ihr abhängig machen.8

Ausgangspunkt von Ritters geschichtsphilosophischer Wendung hin zu Hegel ist die Beobachtung, dass sich in der Philosophie und über sie hinaus im litera-rischen und gesellschaftlichen Diskurs seit dem 19. Jahrhundert im Verhältnis zur eigenen Gegenwart eine antithetische Struktur ausgebildet habe. Einerseits werde ein Bruch zwischen der modernen Welt und ihrer Geschichte empfunden, der sich politisch vor allem am symbolischen Datum der Französischen Revolu-tion und der Überwindung des Ancien Régime festmache. In der bürgerlichen Lebenswelt zeige er sich als empfundener Gegensatz zwischen persönlichen Bindungen, etwa an die Familie oder ein bestimmtes religiöses Bekenntnis, und einer sich ganz unabhängig von diesen und ohne Rücksicht auf sie vollziehenden gesellschaftlichen Dynamik. Die wissenschaftliche, technische und ökonomi-sche Entwicklung hat sich gegenüber den identitäts- und sinnstiftenden Bindun-gen der Menschen an traditionelle Institutionen immer stärker verselbständigt.

Gegen diesen empfundenen Bruch der modernen Welt mit ihrer Herkunft rich-teten sich andererseits Bestrebungen, diesen als misslich empfundenen Zustand zu überwinden. Je nach Sichtweise, so die Rittersche Rekonstruktion, erfordere dies entweder, die Moderne als ein unvollendetes Projekt9 weiter voranzutreiben und ihren Bruch mit der Vergangenheit entschieden zu vollenden, oder aber viel-mehr, die moderne Welt insgesamt als eine Verirrung zu begreifen und zuguns-ten einer Rückkehr in die Kontinuität der Tradition zu verwerfen. Beide Positio-nen seien sich in ihrem Gegensatz doch in der Ablehnung einer als entfremdet empfundenen modernen Gegenwart einig. Ritter kennzeichnet sie typisierend als Fortschritts- bzw. Verfallstheorien der modernen Welt,10 und er wendet sich

Ulrich Dierse (Hg.), Joachim Ritter zum Gedenken, Mainz/Stuttgart 2004, 59–66, hier 65, URL:

http://books.google.de/books?id=pMgnAQAAIAAJ (Zugriff vom 01.12.2015).

8 Dies lässt sich detailliert den Vorlesungsverzeichnissen der Universität Münster und den im Nach-lass Joachim Ritters verwahrten Vorlesungsmanuskripten bzw. -mitschriften entnehmen. Freilich ist Hegel auch vortürkisch bereits bei Ritter präsent, jedoch in weniger tragender Funktion; vgl.

Schweda, Entzweiung und Kompensation (wie Kap. 1, Anm. 19), 108f. Auf die Ausführungen zu Hegel in Ritters Vorlesung vom Wintersemester 1948/1949, »Philosophie im 19. und 20. Jahrhun-dert« (wie Kap. 1, Anm. 2), wurde zu Anfang von Kapitel 2 bereits hingewiesen, ebenso auf die sich über zwei Semester erstreckende Lektüre der Hegelschen Rechtsphilosophie im Collegium Philoso-phicum in den Jahren 1949 und 1950 (wie Kap. 2, Anm. 76).

9 Vgl. die spätere Begriffsprägung von Jürgen Habermas, der in seiner Adornopreisrede 1980 das

»unvollendete Projekt der Moderne« gegen dessen sogenannte jung-, alt- und neukonservative Gegner verteidigt; vgl. Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt (wie Kap. 2, Anm. 102).

10 Diese Antithetik von Fortschritts- und Verfallstheorien wird von Ritter im Grunde bereits vor-türkisch beobachtet, aber erst in »Hegel und die französische Revolution« (wie Kap. 3, Anm. 4) systematisch gesehen. Die Begrifflichkeit von »Theorien des Fortschritts und des Verfalls« findet

an Hegel, um eine vermittelnde, diese Antithetik auf höherer Ebene auflösende Position zu formulieren.

Den Fortschritts- und Verfallstheorien liegt als ihnen Gemeinsames jeweils eine negative Bestimmung der gegenwärtigen Welt zugrunde, der zufolge sich in der modernen Welt eine im Laufe der Geschichte verlorene bzw. eine noch nicht erreichte Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst erweise. Ihre Lebens-wirklichkeit zeichne sich dagegen durch einen Mangel aus: Aus Sicht der Verfalls-theorien ist es durch die Auflösung des den einzelnen Menschen und die Gemein-schaft umgreifenden, sie tragenden sittlichen und politischen Ordnungsrahmens zu einer Spaltung zwischen dem menschlichen Bewusstsein und der gesellschaft-lichen Wirklichkeit gekommen. Die Gesellschaft als Ganzes und der Staat im Besonderen haben ihre Bindung an das Wahre und Gute gekappt und zwingen so das Subjekt, welches doch daran festhalten will, zur Flucht in die Innerlich-keit und zur Wendung hin zur Vergangenheit, um das unverändert als wahr und gut zu Erkennende zu bewahren, wenn nicht gar eine Restauration dieser alten Ordnung politisch-praktisch anzustreben. Für die Fortschrittstheorien hingegen bleiben jene dem einzelnen Subjekt auferlegten Bindungen auch in der gegenwär-tigen Gesellschaft noch anstößig und sie fordern so eine endgültige Überwindung der den einzelnen Menschen heteronom bestimmenden überlieferten Mächte von Religion und Metaphysik. Erst durch eine Vollendung der Revolution würden die Emanzipation des Menschen und dadurch auch seine Selbstverwirklichung als wahrer Mensch endlich möglich; seine herkunftsgeschichtliche Verwurzelung ist radikal abzuschneiden.

Es ist diese Wahrnehmung der modernen Welt in den Augen ihrer restaurativ bzw. revolutionär gestimmten Verächter, die Hegel als »Atheismus der sittlichen Welt« beschreibt, eine Haltung, welche dem Staat und der sittlichen Welt im Gan-zen jede Teilhabe an Wahrheit und Vernunft abspreche, wo stattdessen »Zufall und […] Willkür« herrschten:11

Von der Natur gibt man zu, daß die Philosophie sie zu erkennen habe, wie sie ist, daß der Stein der Weisen irgendwo, aber in der Natur selbst verborgen liege, daß sie in sich vernünftig sei und das Wissen diese in ihr gegenwärtige, wirkliche Vernunft, nicht die auf der Oberfläche sich zeigenden Gestaltungen und Zufälligkeiten, sondern ihre ewige Harmonie, aber als ihr immanentes Gesetz und Wesen zu erforschen und begreifend zu fassen habe. Die sittliche Welt dagegen, der Staat, sie, die Vernunft, wie sie sich im Elemente des Selbst-bewußtseins verwirklicht, soll nicht des Glücks genießen, daß es die Vernunft

sich später auch im Aufsatz »Die große Stadt« (1960) wieder, in: Ders., Metaphysik und Politik.

Studien zu Aristoteles und Hegel. Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt a.M. 2003, 341–354, hier 352.

Vgl. auch Schweda, Entzweiung und Kompensation (wie Kap. 1, Anm. 19), insb. 100–108.

11 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (wie Kap. 2, Anm. 26), Vorrede, 16.

ist, welche in der Tat in diesem Elemente sich zur Kraft und Gewalt gebracht habe, darin behaupte und inwohne.12

Gegen die Vorstellung vom »Atheismus der sittlichen Welt« setzt Hegel seine Rechtsphilosophie als den Versuch, der Aufgabe der Philosophie zu entsprechen,

»[d]as was ist zu begreifen« als Ausdruck der Vernunft. Dementsprechend sei

»Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt.«13 Diese von Hegel bestimmte Aufgabe der Philosophie, die Zeit in Gedanken zu fassen, bezieht sich gerade deshalb auf die eigene geschichtliche Epoche, auf ihre Gegenwart, weil diese in einer geläufi-gen Wahrnehmung mit der Geschichte der Philosophie und ihrer Substanz ge-brochen habe. Weil die Kontinuität der Gegenwart mit der Vergangenheit infrage gestellt ist – und weil dies dem Selbstverständnis dieser neuen Zeit zu entspre-chen scheint –, wird die Philosophie herausgefordert, das Wesen der Gegenwart in ihrem Verhältnis zur Vergangenheit zu bestimmen, insbesondere im Hinblick auf ihre politische Verfasstheit.14

Der für Ritter paradigmatische Vertreter der Fortschrittstheorie ist Auguste Comte. Dessen Philosophie des Positivismus tritt in Ritters Aufsätzen und Vor-lesungen immer wieder in dieser exemplarischen Rolle auf.15 Mit seinem Dreista-diengesetz beansprucht Comte, die geschichtliche Entwicklung als einen Vorgang der Reifung des Menschen von einem theologischen über ein metaphysisches bis hin zu einem positiven Stadium zu erklären. In der modernen Gesellschaft lasse er daher insbesondere Theologie und Metaphysik, mit ihnen aber auch die gesamte bisherige Geschichte hinter sich. »Die mit der Gegenwart anbrechende Epoche der Vollendung der Menschheit ist mit dem Ende der bisherigen Geschichte iden-tisch, die durch sie zu einem bloß Vergangenen wird.«16 Mit Erreichen des état

12 Ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts (wie Kap. 2, Anm. 26), Vorrede, 15 (Hervorhebun-gen im Original).

13 Ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts (wie Kap. 2, Anm. 26), Vorrede, 26 (Hervorhebun-gen im Original).

14 Vgl. Ritter, Hegel und die französische Revolution (wie Kap. 3, Anm. 4), 190f., sowie analog Ders., Subjektivität und industrielle Gesellschaft, in: Ders., Metaphysik und Politik. Studien zu Aristote-les und Hegel. Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt a.M. 2003, 357–376, hier 358f.

15 So auch bereits in der Vorlesung zur Geschichtsphilosophie vom Wintersemester 1949/1950, vgl.

Joachim Ritter, Vorlesung »Philosophie der Geschichte« (DLA: Nachlass Ritter), dann aber vor allem in den nachtürkischen Vorlesungen zur Gesellschaftsphilosophie. Im Folgenden beziehe ich mich auf die Vorlesung »Die bürgerliche Gesellschaft I. Interpretationen zur Philosophie der Gesellschaft und ihrer Geschichte« (wie Kap. 3, Anm. 1), wohl vom Sommersemester 1955, vgl.

dort insb. § 2 (12–30 des 163-seitigen Typoskripts). Vgl. zu Comte bei Ritter ferner Hegel und die französische Revolution (wie Kap. 3, Anm. 4), 211 sowie dort in Exkurs X, 251f., und analog in:

Subjektivität und industrielle Gesellschaft (wie Kap. 3, Anm. 14), 364f.

16 Ritter, Hegel und die französische Revolution (wie Kap. 3, Anm. 4), Exkurs X, 251. Daraus aber folgt,

»daß die Zukunft so, wie sie in dem Prinzip der modernen Gesellschaft tendenziell angelegt ist, eine Zukunft ohne Vergangenheit sein wird. Das die Zukunft bestimmende Prinzip der Gesellschaft verhält sich diskontinuierlich zur Herkunftsgeschichte. Der gesellschaftliche Fortschritt ist gemäß dem Prinzip der Gesellschaft selbst identisch mit dem Rückschritt aller nicht durch diese Gesell-schaft gesetzten und ihr vorausgehenden Ordnungen. Der Fortschritt der GesellGesell-schaft schließt die geschichtliche Diskontinuität als Trennung der Zukunftsgeschichte und der Ursprungsgeschichte ein.« Ritter, Vorlesung »Die bürgerliche Gesellschaft I« (wie Kap. 3, Anm. 1), 29f.

positif würden die vorangehenden Stadien – und so nicht zuletzt auch die speku-lative Philosophie – vollständig und endgültig durch die Wissenschaft und ihre streng rationale Ordnung ersetzt.17 Deren Positivität ist dadurch gekennzeichnet, dass der Mensch mit sich selbst identisch wird. Er emanzipiert sich aus Bindun-gen der überlieferten Religion und Philosophie und gelangt in der positiven Wis-senschaft zur Wahrheit. Comtes Philosophie positive transformiert insofern einen durch wissenschaftliche und technische Entwicklungen beförderten Fortschritts-optimismus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in eine weltanschauliche und gar nach dem Vorbild der katholischen Kirche in positivistischen Gesellschaften organisierte säkularreligiöse Form (die sogenannte Religion de l’Humanité). Das positive Stadium entspricht einem Endstadium der Menschheitsgeschichte, in dem weitere Entwicklungen nur noch als Ausweitung der Menge des angehäuften Wissens denkbar erscheinen. Dadurch dass Comte den weiteren menschlichen Fortschritt allein in den Bereich der strengen Wissenschaften verlegt, setze er sich, so Ritter, allerdings auch ausdrücklich von der im Geiste gesellschaftspolitischen Fortschritts angetretenen Französischen Revolution ab. Die Revolution war außer Stande, eine konstruktive Lösung für das Problem politischer Ordnung zu finden, und zwar deshalb, weil sie als Negation des Ancien Régime nicht über eine posi-tive Vorstellung der zukünftigen Gesellschaft verfügte. Dadurch habe sie ebenjene Aporie erzeugt, welche die Notwendigkeit der Reflexion Comtes, die schließlich zum Dreistadiengesetz führte, erst mit sich brachte. Comtes Absicht sei es ge-wesen, »die eigene Zeit in ihrem geschichtlichen Wesen zu bestimmen und zu

›beweisen‹, und dies nicht aus einem allgemeinen Reflexionsbedürfnis, sondern weil sich in dieser Zeit die Wende des Umsturzes in der französischen Revolution ereignet hat.«18

Die von Comte im Verständnis Ritters geradezu idealtypisch ausgeformte progressistische Geschichtstheorie kehrt auch bei Karl Marx und Friedrich En-gels wieder.19 Deren Fortschrittstheorie unterscheidet sich in den Augen Ritters jedoch dadurch von derjenigen Comtes, dass sie den Untergang der geschichtli-chen Herkunftswelten nicht unmittelbar aus einem allgemeinen Geschichtsgesetz ableite, sondern eine konkrete soziale Gruppe – das Proletariat – als Träger der herbeizuführenden Verneinung der Tradition einsetze und gewissermaßen mit

17 Vgl. Auguste Comte, System der positiven Politik, 4 Bde., Wien 2004–2012.

18 Ritter, Vorlesung »Die bürgerliche Gesellschaft I« (wie Kap. 3, Anm. 1), 22. Ritter setzt hinzu, dass Comte seine Philosophie positive und seine Physique sociale ausdrücklich in Absetzung von der von ihm als anarchisch zurückgewiesenen Revolution und ihren Folgen formuliert habe, gleich-wohl aber die Revolution als notwendiges Durchgangsstadium der Geschichte auf ihrem Weg hin zur Vollendung des Menschen begreife. Comte stellt so gewissermaßen die sozialen und politi-schen Absichten der Revolution auf die Beine einer positiven Wissenschaft, um so unerwünschte Konsequenzen – die Anarchie – zu vermeiden; vgl. Ritter, Hegel und die französische Revolution (wie Kap. 3, Anm. 4), Exkurs X, 251f.

19 Vgl. zu Marx bei Ritter wiederum die Vorlesung »Die bürgerliche Gesellschaft I« (wie Kap. 3, Anm.  1), insb. §  3 (31–51 des Typoskripts), sowie ferner die Vorlesung vom Wintersemester 1956/1957 »Hegel und Marx« (wie Kap. 3, Anm. 1).

dem Vollzug des Geschichtsgesetzes beauftrage. Als aktiver Faktor sei der Mensch für den Vollzug des Fortschritts verantwortlich, und zwar in der Theorie von Marx und Engels von vornherein im Sinne einer kommunistischen Revolution. Analog zu Comte werde auch bei ihnen die bürgerliche (Französische) Revolution zum Ausgangspunkt des weiteren Umsturzes. Denn indem die Bourgeoisie durch die Überwindung des Ancien Régime und seiner gesellschaftlichen Ordnung das Pro-letariat in seiner gesellschaftlichen Funktion auf die Arbeitskraft festgelegt und insofern von seinem urwüchsigen Sein abgetrennt habe, habe es in der so entstan-denen Arbeiterklasse zugleich die Grundlage der kommenden Revolution

dem Vollzug des Geschichtsgesetzes beauftrage. Als aktiver Faktor sei der Mensch für den Vollzug des Fortschritts verantwortlich, und zwar in der Theorie von Marx und Engels von vornherein im Sinne einer kommunistischen Revolution. Analog zu Comte werde auch bei ihnen die bürgerliche (Französische) Revolution zum Ausgangspunkt des weiteren Umsturzes. Denn indem die Bourgeoisie durch die Überwindung des Ancien Régime und seiner gesellschaftlichen Ordnung das Pro-letariat in seiner gesellschaftlichen Funktion auf die Arbeitskraft festgelegt und insofern von seinem urwüchsigen Sein abgetrennt habe, habe es in der so entstan-denen Arbeiterklasse zugleich die Grundlage der kommenden Revolution

Im Dokument im Ausgang von Joachim Ritter (Seite 83-146)