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Vorläufige Zusammenfassung und Forschungsüberblick

Im Dokument im Ausgang von Joachim Ritter (Seite 70-82)

Die Konstellation um Joachim Ritter und sein Collegium Philosophicum hat in der jüngeren Forschung in mehrerer Hinsicht vermehrtes Interesse gefunden, wie sich in vier Punkten zusammenfassen lässt. Erstens steht dieses Interesse in en-gem Zusammenhang mit einer generellen Aufmerksamkeitskonjunktur die west-deutsche Bundesrepublik bis zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung und speziell die Geschichte ihrer Intellektuellen betreffend, welche sich auch für den Bereich der politischen Ideengeschichte in zahlreichen Monographien und Sammelbän-den niedergeschlagen hat. Dies gilt sowohl mit dem Fokus auf Einzelpersonen, die diese inzwischen sogenannte alte Bundesrepublik mehr oder weniger stark geprägt haben,160 als auch für Gruppierungen,161 die den im Anschluss an das Schicksal der Weimarer Republik und die nationalsozialistische Herrschaft kaum erwartbaren Erfolg der 1949 gegründeten Bundesrepublik intellektuell begleitet

gerade auch in den damit verbundenen Wertungen, keineswegs einhergehen müssen und es im Übrigen erschweren, das Ganze der akademische Schülerschaft Joachim Ritters auf einen Begriff zu bringen. Die begriffstheoretische Metapher der Familienähnlichkeit soll im Folgenden jedoch nicht weiter strapaziert werden. Vgl. hierzu jedoch Stamm, Konstellationsforschung (wie Kap. 2, Anm. 157), 33, der den Konstellationsbegriff ausdrücklich vom Konzept der Familienähnlichkeit distanziert.

160 Exemplarisch sei verwiesen auf Arbeiten zu Wilhelm Hennis (Stephan Schlak, Wilhelm Hennis.

Szenen einer Ideengeschichte der Bundesrepublik, München 2008, URL: http://books.google.de/

books?id=C8OLamivFxQC [Zugriff vom 01.12.2015]) und Arnold Gehlen (Patrick Wöhrle, Meta-morphosen des Mängelwesens. Zu Werk und Wirkung Arnold Gehlens, Frankfurt a.M./New York 2010, URL: http://books.google.de/books?id=zbsONquYkwkC [Zugriff vom 01.12.2015]).

161 Vgl. etwa die Beiträge Dominik Gepperts zur »Gruppe 47«, exemplarisch Ders., Von der Staats-skepsis zum parteipolitischen Engagement. Hans Werner Richter, die Gruppe 47 und die deutsche Politik, in: Ders./Jens Hacke (Hg.), Streit um den Staat. Intellektuelle Debatten in der Bundes-republik 1960–1980, Göttingen 2008, 46–68, DOI: http://dx.doi.org/10.13109/9783666367588.46 (Zugriff vom 01.12.2015). Einen erwähnenswerten Beitrag zur Historisierung von Intellektuel-lenbiographien der frühen Bundesrepublik bietet auch der an der »skeptischen Generation«

Schelskys interessierte, diese begrifflich jedoch abweichend fassende Band von Malte Herwig, Die Flakhelfer. Wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden, München 2013, URL: http://books.google.de/books?id=V4xQUhgZLi8C (Zugriff vom 01.12.2015). In diesem Zusammenhang zu erwähnen ist im Übrigen auch die Studie von Mi-chael Th. Greven, Politisches Denken in Deutschland nach 1945. Erfahrung und Umgang mit der Kontingenz in der unmittelbaren Nachkriegszeit, Opladen/Farmington Hills 2007, URL:

http://books.google.de/books?id=cSloAAAAMAAJ (Zugriff vom 01.12.2015), deren Fokus aller-dings auf dem politischen Denken in den Jahren der Besatzungszeit, von 1945 bis 1949, insgesamt liegt, ohne dabei eine einzelne Person oder Gruppierung im Besonderen hervorzuheben.

und unterstützt haben.162 Was den Ritter-Kreis betrifft, so ist für diesen Punkt die vorstehend bereits erwähnte, im Jahr 2006 erschienene Arbeit Jens Hackes, Philosophie der Bürgerlichkeit, als wegweisend zu betrachten.163 Nachdem schon Ende der 1990er Jahre der Beitrag der Frankfurter Schule zu einer »intellektuel-len Gründung der Bundesrepublik« zum Gegenstand eines Sammelbandes ge-worden war,164 nahm Hacke in seiner Dissertationsschrift eine komplementäre

»liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik« aus dem Umfeld des Ritter-Kreises in den Blick und stieß damit zunächst auf durchaus kontroverse Re-aktionen.165 Diese Kontroversität darf ihrerseits als Spiegelbild der spannungsrei-chen, die Bundesrepublik von Anbeginn an kennzeichnenden »pluralistische[n]

Verfasstheit politischer Diskurse«166 verstanden werden, die in einem in regel-mäßigen Abständen revitalisierten Streit um den Staat zum Ausdruck kam und kommt.167 Seit Anbeginn ihres Bestehens begleitet die Bundesrepublik der

Vor-162 Wie die Weimarer Republik ging die Bundesrepublik aus einem verlorenen Krieg hervor, und die Bilanz der vorgegebenen Bedingungen fiel kaum besser aus als im Jahr 1919: »Kaum jemand hätte 1945 die Prognose gewagt, dass die Chancen, eine demokratische Ordnung zu etablieren, nun günstiger lägen als knapp drei Jahrzehnte zuvor.« Jens Hacke, Die Bundesrepublik als Idee.

Zur Legitimationsbedürftigkeit politischer Ordnung, Hamburg 2009, 15.

163 Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit (wie Kap.  1, Anm.  16). An daran thematisch anschlie-ßenden Beiträgen Hackes sei an dieser Stelle verwiesen auf: Jens Hacke, Die Verteidigung des Unvollkommenen. Zur Aktualität des altbundesrepublikanischen Liberalkonservatis-mus, in: Undine Ruge/Daniel Morat (Hg.), Deutschland denken. Beiträge für die reflektier-te Republik, Wiesbaden 2005, 97–110, DOI: http://dx.doi.org/10.1007/978-3-322-80729-8_8 (Zugriff vom 01.12.2015); Jens Hacke, Karl Jaspers und die Ritter-Schule. Eine Spurensu-che, in: Reinhard Schulz/Giandomenico Bonanni/Matthias Bormuth (Hg.), »Wahrheit ist, was uns verbindet«. Karl Jaspers’ Kunst zu philosophieren, Göttingen 2009, 411–424, URL:

http://books.google.de/books?id=xcEeAQAAMAAJ (Zugriff vom 01.12.2015); sowie Jens Ha-cke, Bürgerlichkeit und liberale Demokratie. Konzepte in der politischen Philosophie der Bundesrepublik, in: Gunilla Budde/Eckart Conze/Cornelia Rauh (Hg.), Bürgertum nach dem bürgerlichen Zeitalter. Leitbilder und Praxis seit 1945, Göttingen 2010, 117–131, URL:

http://books.google.de/books?id=6rZNtOEwX0EC (Zugriff vom 01.12.2015).

164 Vgl. Albrecht/Behrmann/Bock [u.a.] (Hg.), Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik (wie Kap. 2, Anm. 69), erschienen im Jahr 1999.

165 Mit gleich drei Beiträgen wurde diese Debatte um Hackes Buch etwa in der »Deutschen Zeitschrift für Philosophie« ausgetragen: Walter Schweidler, Eine Theorie des Selbst-verständlichen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55/4 (2007), 649–652, DOI:

http://dx.doi.org/10.1524/dzph.2007.55.4.649 (Zugriff vom 01.12.2015); Herbert Schnädelbach, Die Verteidigung der Republik, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55/4 (2007), 653–660;

Hauke Brunkhorst, Bürgerlichkeit als Philosophie der Postdemokratie. Ein Beitrag zur Debatte um Jens Hackes Philosophie der Bürgerlichkeit, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55/5 (2007), 836–839, DOI: http://dx.doi.org/10.1524/dzph.2007.55.5.836 (Zugriff vom 01.12.2015).

Vgl. auch Jan-Werner Müller, Merken, nicht ableiten, in: Merkur – Deutsche Zeitschrift für euro-päisches Denken 61/1 (2007), 68–72.

166 Hacke, Die Bundesrepublik als Idee (wie Kap. 2, Anm. 162), 9.

167 Für die ersten Jahrzehnte bundesrepublikanischer Geschichte etwa dokumentiert in dem gleichnamigen Band von Jens Hacke/Dominik Geppert (Hg.), Streit um den Staat. Intellek-tuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960–1980, Göttingen 2008, DOI: http://dx.doi.org/

10.13109/9783666367588 (Zugriff vom 01.12.2015). Vgl. auch weitere jüngere Beiträge zur Intel-lektualitätsgeschichte der alten Bundesrepublik in den folgenden Sammelbänden: Franz-Werner Kersting/Jürgen Reulecke/Hans-Ulrich Thamer (Hg.), Die zweite Gründung der Bundesrepublik.

behalt, sie sei nicht mehr als ein Provisorium ohne »geistige Vorstellung seiner selbst«168, wie es Friedrich Sieburg bereits 1954 festhielt, oder aber – was Rüdiger Altmann ihr als ein Erbe der Kanzlerschaft Adenauers zuschrieb – ein »Staat ohne geistigen Schatten«169. Noch in den jüngeren ideengeschichtlichen Debatten setzt sich autoreflexiv diese die Bundesrepublik über die Zeit begleitende vielstimmige Kontroversität ihrer geistigen und ideellen Gestalt fort. Durch die damit verbun-dene Perspektivenöffnung wird es jedoch auch möglich, die Philosophie Ritters und seines Kreises nun gar als eine »›Normalphilosophie‹ der Bundesrepublik« zu beschreiben, wie es zuletzt noch Henning Ottmann getan hat.170

Einen zweiten Aspekt dieser Interessensdynamik, der allerdings eng mit dem erstgenannten verknüpft ist und auf eine entsprechende Nachfrage antwortet, markiert die verstärkte autobiographische Mitteilungsbereitschaft der Angehö-rigen ebenjener Generation, der auch die im Interesse dieser Arbeit stehenden Schüler Joachim Ritters angehören.171 Zwar machte Dieter Henrich den »Ab-gang« dieser Generation – ihren Rückzug aus dem universitären Betrieb – be-reits vor beinahe zwei Jahrzehnten aus,172 und zudem haben gerade Autoren wie Odo Marquard oder auch Hermann Lübbe in Artikeln und Interviews schon seit längerer Zeit immer wieder offenherzig über ihre Lebensgeschichte, zumal ihre Zugehörigkeit zum Collegium Philosophicum, Auskunft gegeben.173 Die

Selbst-Generationswechsel und intellektuelle Wortergreifungen 1955–1975, Stuttgart 2010, URL:

http://books.google.de/books?id=Vm0qAQAAIAAJ (Zugriff vom 01.12.2015); Friedrich Kieß-ling/Bernhard Rieger (Hg.), Mit dem Wandel leben. Neuorientierung und Tradition in der Bun-desrepublik der 1950er und 60er Jahre, Köln/Weimar/Wien 2011, URL: http://books.google.de/

books?id=B4Q23T7_AZMC (Zugriff vom 01.12.2015); Thomas Kroll/Tilman Reitz (Hg.), Intel-lektuelle in der Bundesrepublik Deutschland. Verschiebungen im politischen Feld der 1960er und 1970er Jahre, Göttingen 2013, DOI: http://dx.doi.org/10.13109/9783666300455 (Zugriff vom 01.12.2015). Vgl. auch die zusammenfassenden Sammelbesprechungen von Friedrich Kieß-ling, Westernisierung, Internationalisierung, Bürgerlichkeit? Zu einigen jüngeren Arbeiten der Ideengeschichte der alten Bundesrepublik, in: Historische Zeitschrift 287 (2008), 363–389, DOI:

http://dx.doi.org/10.1524/hzhz.2008.0046 (Zugriff vom 01.12.2015), und Philipp Hölzing, Zur politischen Ideengeschichte der »Bonner Republik«. Ein Literaturbericht, in: Philosophische Rundschau 57/1 (2010), 33–48, DOI: http://dx.doi.org/10.1628/003181510791058911 (Zugriff vom 01.12.2015).

168 Friedrich Sieburg, Die Lust am Untergang. Selbstgespräche auf Bundesebene, Frankfurt a.M.

2010, 149.

169 Rüdiger Altmann, Das Erbe Adenauers. Eine Bilanz, Stuttgart 1960, 10.

170 Henning Ottmann, »Antike ohne Ende«. Es ist mehr Altes im Neuen, als manchem bewusst ist: Die politische Philosophie der Gegenwart bezieht sich in vielen Aspekten auf das Denken der Antike, in: Akademie Aktuell – Zeitschrift der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 53, 15/2 (2015), 42–44, hier 44, URL: http://www.badw.de/de/publikationen/akademieAktuell/

2015/53/0215_10b_Ottmann_V04.pdf (Zugriff vom 01.12.2015); vgl. anschließend daran auch Schweda, Ritter und die Ritter-Schule (wie Kap. 1, Anm. 19), insb. 184–189.

171 Über den Zusammenhang der Ritter-Schüler hinaus sei an dieser Stelle etwa auf Karl Heinz Bohrer, Granatsplitter. Erzählung einer Jugend, München 2012, URL: http://books.google.de/

books?id=WpZPAgAAQBAJ (Zugriff vom 01.12.2015), verwiesen.

172 Vgl. Henrich, Eine Generation im Abgang (wie Kap. 2, Anm. 74).

173 Für Marquard vgl. etwa: Abschied vom Prinzipiellen (1981, wie Kap. 2, Anm. 47), Zukunft und Herkunft (1994, wie Kap. 2, Anm. 127) oder Verweigerung der Bürgerlichkeitsverweigerung (2004,

historisierung der Ritter-Schüler ist so zweifellos älteren Datums.174 Aus der von Robert Spaemann, Odo Marquard oder auch Ernst-Wolfgang Böckenförde zuletzt auskunftsweise gegebenen Autobiographik im neunten Lebensjahrzehnt spricht nun allerdings eine davon qualitativ abweichende, umfassende Retrospektive des eigenen Lebens,175 teils auch stark geprägt von Gedanken über das Sterben oder den Tod.176

Ein weiterer dritter Punkt betrifft die theoretische wie historiographische Auf-arbeitung der Begriffsgeschichte als ein für die bundesdeutschen

Geisteswissen-wie Kap. 2, Anm. 3). Gespräche mit Hermann Lübbe sind zuletzt gesammelt erschienen: Hermann Lübbe im Gespräch, München 2010, URL: http://books.google.de/books?id=mCLyAwAAQBAJ (Zugriff vom 01.12.2015); vgl. darin insb. die in diesem Zusammenhang einschlägigen Gesprä-che mit Jens Hacke (Die zweite deutsGesprä-che Demokratie in Ja-Sager-Perspektive, in: GespräGesprä-che mit Hermann Lübbe [wie oben], 25–39) und Joachim Schickel (Philosophie zwischen Logik und Ideologie – mit Rückblicken auf die 68er vor dem Ende der marxistischen Gegenaufklärung, in:

Gespräche mit Hermann Lübbe [wie oben], 95–119).

174 Die mit den Hinweisen Marquards, aber auch Tugendhats einhergehende verstärkte Selbsthisto-risierung der Ritter-Schüler in den 1980er Jahren mündete u.a. in eine Tagung in Bad Homburg im November 1989, dokumentiert in dem Band von Ulrich Dierse (Hg.), Joachim Ritter zum Gedenken, Mainz/Stuttgart 2004, URL: http://books.google.de/books?id=pMgnAQAAIAAJ (Zugriff vom 01.12.2015). Eine bereits im März 1989 in Münster veranstaltete Tagung unter dem Titel »Metaphysik und Politik. Über Bedingungen und Ziele politischen Handelns« war zudem auf inhaltlicher Ebene stark von Ritterschen Überlegungen inspiriert; sie wurde dokumentiert mit dem Band von Volker Gerhardt (Hg.), Der Begriff der Politik. Bedingungen und Gründe politischen Handelns, Stuttgart 1990, URL: http://books.google.de/books?id=TH9LAQAAIAAJ (Zugriff vom 01.12.2015). Auf eine verspätete Selbstwahrnehmung der Ritter-Schüler und ihres wechselseitigen »Stallgeruchs« wies Dirk van Laak hin – Gespräche in der Sicherheit des Schwei-gens (wie Kap. 2, Anm. 32), 192f. –, was inzwischen allerdings auch bereits mehr als zwei Jahr-zehnte zurückliegt.

175 Vgl. Robert Spaemann, Über Gott und die Welt. Eine Autobiographie in Gesprächen, Stutt-gart 2012, URL: http://books.google.de/books?id=GivOJvIXt7AC (Zugriff vom 01.12.2015);

mit diesem Band, der Gespräche Spaemanns mit dem Journalisten Stephan Sattler sowie kür-zere Essays Spaemanns wiedergibt, eng verbunden ist die zweibändige Edition gesammel-ter Texte Spaemanns ungesammel-ter dem Titel Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Auf-sätze (Stuttgart 2010 bzw. 2011, URL: http://books.google.de/books?id=LZspU6agMwYC bzw. http://books.google.de/books?id=X0jgKJLYnt4C [Zugriff vom 01.12.2015]). Vgl. auch das biographische Gespräch von Robert Spaemann/Hanns-Gregor Nissing, Die Natur des Lebendigen und das Ende des Denkens. Entwicklungen und Entfaltungen eines philoso-phischen Werks. Ein Gespräch, in: Hanns-Gregor Nissing (Hg.), Grundvollzüge der Per-son. Dimensionen des Menschseins bei Robert Spaemann, München 2008, 122–136, URL:

http://books.google.de/books?id=Q5I-PpIP4vgC (Zugriff vom 01.12.2015). Hermann Lübbe be-treffend ist insb. auf dessen philosophisch-biographische Selbstdarstellung hinzuweisen in Ders., Philosophie im 20. Jahrhundert – wie ich sie kennen lernte, in: Hanns-Gregor Nissing (Hg.), Hermann Lübbe. Pragmatische Vernunft nach der Aufklärung, Darmstadt 2009, 23–43, sowie auf das in demselben Band abgedruckte Gespräch von Lübbe/Nissing, Lebenserfahrung und prag-matische Vernunft (wie Kap. 2, Anm. 46); vgl. ferner auch den Band Hermann Lübbe im Gespräch (wie Kap. 2, Anm. 173). Für Böckenförde ist in diesem Zusammenhang zu verweisen auf den Band Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht. Aufsätze von Ernst-Wolfgang Böckenförde (Frank-furt a.M. 2011), der neben zahlreichen Texten des Autors auch sein bereits zitiertes Interview mit Dieter Gosewinkel umfasst: »Beim Staat geht es nicht allein um Macht« (wie Kap. 2, Anm. 50).

176 So im Falle des Gesprächs von Franz Josef Wetz mit Odo Marquard, Das Alter – mehr Ende als Ziel, in: Odo Marquard, Endlichkeitsphilosophisches. Über das Altern, hg. von Franz Josef Wetz, Stuttgart 2013, 76–95.

schaften weit über die Philosophie hinaus prägendes Konzept.177 In diesem Zu-sammenhang gilt Joachim Ritter und seinem Kreis Aufmerksamkeit vor allem im Hinblick auf das Historische Wörterbuch der Philosophie, das nach seinem Ab-schluss im Jahr 2007 – Joachim Ritter selbst konnte nur die bis 1974 erschienenen ersten drei Bände des Wörterbuchs selbst herausgeben – inzwischen selbst zum Gegenstand der Forschung geworden ist.178

Schließlich aber ist viertens, und zwar möglicherweise auch angeregt durch die vorgenannten drei Punkte, zuletzt auch Joachim Ritters philosophisches Den-ken selbst in den Mittelpunkt gerückt. In diesem Zusammenhang sind namentlich die Beiträge Mark Schwedas hervorzuheben, die auch durch den Zugang zu den seit einigen Jahren im Deutschen Literaturarchiv Marbach verwahrten Beständen des Nachlasses von Joachim Ritter eine erweiterte materielle Grundlage gegen-über früheren Arbeiten aufweisen können.179 Schwedas im Jahr 2013 publizierte Dissertation Entzweiung und Kompensation. Joachim Ritters philosophische Theo-rie der modernen Welt bietet eine grundlegende Rekonstruktion der Ritterschen

177 Zur Reflexion des Ansatzes der Begriffsgeschichte insgesamt vgl. exemplarisch die folgenden Bände: Hans Erich Bödecker (Hg.), Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschich-te, Göttingen 2002, URL: http://books.google.de/books?id=jpZY86g4WwUC (Zugriff vom 01.12.2015); Carsten Dutt, Herausforderungen der Begriffsgeschichte, Heidelberg 2003, URL:

http://books.google.de/books?id=D2wbAQAAIAAJ (Zugriff vom 01.12.2015); Hans Ulrich Gumbrecht, Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte, Paderborn 2006, Permalink:

http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00046089/image_84 (Zugriff vom 01.12.2015); Riccardo Pozzo/Marco Sgarbi (Hg.), Eine Typologie der Formen der Begriffsgeschichte, Hamburg 2010, URL: http://books.google.de/books?id=VVoNQYTP7vcC (Zugriff vom 01.12.2015).

178 Einen knappen Überblick zum Historischen Wörterbuch der Philosophie gibt Walter Tin-ner, Das Unternehmen Historisches Wörterbuch der Philosophie, in: Riccardo Pozzo/Marco Sgarbi (Hg.), Eine Typologie der Formen der Begriffsgeschichte, Hamburg 2010, 9–13, URL:

http://books.google.de/books?id=VVoNQYTP7vcC (Zugriff vom 01.12.2015). Vgl. zur Geschich-te des Projekts außerdem: Margarita Kranz, GelehrGeschich-te GeschäfGeschich-te. Warum Hans-Georg Gadamer nicht Herausgeber des Historischen Wörterbuchs der Philosophie wurde, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 2/4 (2008), 95–111; vgl. darüber hinaus zur Entwicklung der philosophischen Begriffsgeschichte in der Nachkriegs-Bundesrepublik die jüngeren Arbeiten derselben Autorin:

Margarita Kranz, Begriffsgeschichte institutionell. Die Senatskommission für Begriffsgeschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft (1956–1966). Darstellung und Dokumente, in: Archiv für Begriffsgeschichte 53 (2011), 153–226, sowie Dies., Begriffsgeschichte institutionell – Teil II.

Die Kommission für Philosophie der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz unter den Vorsitzenden Erich Rothacker und Hans Blumenberg (1949–1974), in: Archiv für Be-griffsgeschichte 54 (2012), 119–194.

179 Vgl. Mark Schweda, Bürgerliches Leben und praktische Philosophie. Joachim Ritters Deutung des aristotelischen ›bios politikos‹, in: Simone Springmann/Asmus Tautsch (Hg.), Was ist Le-ben? Volker Gerhardt zum 65. Geburtstag, Berlin 2009, 149–154, URL: http://books.google.de/

books?id=oXNAAQAAIAAJ (Zugriff vom 01.12.2015); Ders., Joachim Ritters Begriff des Poli-tischen. Carl Schmitt und das Münsteraner Collegium Philosophicum, in: Zeitschrift für Ideen-geschichte 4/1 (2010), 91–111; Ders., Freiheit und Bewahrung. Joachim Ritters philosophi-scher Liberalismus in der politischen Geistesgeschichte der Bundesrepublik, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 26 (2014), 393–425, DOI: http://dx.doi.org/10.5771/9783845256511_393 (Zugriff vom 01.12.2015). Die von Schweda besorgte Edition der Vorlesungen zur Philosophi-schen Ästhetik Ritters sowie die des Briefwechsels von Ritter und Carl Schmitt wurden bereits angesprochen (vgl. Kap. 2, Anm. 42).

Philosophie in ihrer Genese, in verschiedenen inhaltlichen Aspekten sowie ihrer kritischen Diskussion und befragt sie überdies auf aktualisierungsfähige Poten-tiale.180 Dies ergänzt mithin die für einzelne Schüler Ritters bereits bestehende Forschung181 und begegnet darüber hinaus dem bemerkenswerten Mangel, dass Sekundärliteratur zur Philosophie Joachim Ritters – im Unterschied zu verschie-denen seiner akademischen Schüler – bislang kaum vorliegt.182 Dieselbe Diskre-panz lässt sich im Übrigen auch für das eigentliche Œuvre dieser Autoren aus-machen. Denn anders als die teils sehr umfangreichen, breit verstreut publizierten Arbeiten namentlich Hermann Lübbes, Odo Marquards und Robert Spaemanns darf das Werk Joachim Ritters als übersichtlich gelten.183 Es beschränkt sich im

180 Schweda, Entzweiung und Kompensation (wie Kap. 1, Anm. 19); vgl. zuletzt auch Schweda, Ritter und die Ritter-Schule (wie Kap. 1, Anm. 19).

181 Hinzu kommen die Erträge einer Tagung, die am 5./6. Dezember 2013 im Deutschen Literatur-archiv Marbach stattfand unter dem Titel Entzweiung und Kompensation. Die Aktualität Joachim Ritters und seiner Schüler. Vgl. die zum Zeitpunkt der Drucklegung der vorliegenden Studie angekündigte Publikation der Ergebnisse dieser Tagung und weiterer neuer Forschungsbeiträge in dem Band von Mark Schweda/Ulrich von Bülow (Hg.), Entzweite Moderne. Zur Aktualität Joachim Ritters und seiner Schüler, Göttingen (im Druck).

182 Vgl., neben spezifischeren Beiträgen, die hier bereits angesprochen wurden oder auf die noch zu verweisen sein wird, zu Hermann Lübbe bspw. die Sammelbände von Georg Kohler/Heinz Kleger (Hg.), Diskurs und Dezision. Politische Vernunft in der wissenschaftlich-technischen Zivilisation. Hermann Lübbe in der Diskussion, Wien 1990, URL: http://books.google.de/

books?id=dflWAAAAYAAJ (Zugriff vom 01.12.2015); Kurt Röttgers (Hg.), Politik und Kul-tur nach der Aufklärung. Festschrift Hermann Lübbe zum 65.  Geburtstag, Basel 1992, URL:

http://books.google.de/books?id=LhSDAAAAMAAJ (Zugriff vom 01.12.2015); Hanns-Gregor Nissing (Hg.), Hermann Lübbe. Pragmatische Vernunft nach der Aufklärung, Darm-stadt 2009. Mit Bezug auf Robert Spaemann: Hanns-Gregor Nissing (Hg.), Grundvollzü-ge der Person. Dimensionen des Menschseins bei Robert Spaemann, München 2008, URL:

http://books.google.de/books?id=Q5I-PpIP4vgC (Zugriff vom 01.12.2015); Holger Zaborow-ski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person. Nature, Freedom, and the Critique of Modernity, Oxford 2010; Stefan Meisert, Ethik, die sich einmischt. Eine Untersuchung der Moralphilosophie Robert Spaemanns, Fribourg/Freiburg/Wien 2014. Mit Bezug auf Odo Mar-quard: Alois Halbmayr, Lob der Vielheit. Zur Kritik Odo Marquards am Monotheismus, Inns-bruck 2000; Rochus Leonhardt, Skeptizismus und Protestantismus. Der philosophische An-satz Odo Marquards als Herausforderung an die evangelische Theologie, Tübingen 2003, URL:

http://books.google.de/books?id=_fWaSxhNJH4C (Zugriff vom 01.12.2015); sowie jüngst Franz Josef Wetz, Nachwort. Bürgerlicher Optimismus erwächst aus existenziellem Pessimismus, in: Odo Marquard, Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays, 2. Aufl., Stuttgart 2015, 303–338. Mit Bezug auf Ernst-Wolfgang Böckenförde zuletzt die Sammelbände von Reinhard Mehring/Martin Otto (Hg.), Voraussetzungen und Garantien des Staates. Ernst-Wolfgang Bö-ckenfördes Staatsverständnis, Baden-Baden 2014; Hermann-Josef Große Kracht/Klaus Große Kracht (Hg.), Religion – Recht – Republik. Studien zu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Paderborn 2014. Zusammenfassend auch: Volker Steenblock, Hermann Lübbe, in: Julian Nida-Rümelin/Elif Özmen (Hg.), Philosophie der Gegenwart. In Einzeldarstellungen von Agamben bis von Wright, Stuttgart 2007, 395–399; Peter Kampits, Odo Marquard, in: Julian Nida-Rümelin/Elif Özmen (Hg.), Philosophie der Gegenwart. In Einzeldarstellungen von Agamben bis von Wright, Stutt-gart 2007, 434–437; Rolf Schönberger, Robert Spaemann, in: Julian Nida-Rümelin/Elif Özmen (Hg.), Philosophie der Gegenwart. In Einzeldarstellungen von Agamben bis von Wright, Stutt-gart 2007, 631–636.

183 Vgl. für aktuelle Bibliographien zu Spaemann und Lübbe: Hanns-Gregor Nissing, Pragmatische Bi-bliographie Hermann Lübbe 1951–2009, in: Ders. (Hg.), Hermann Lübbe. Pragmatische Vernunft

Wesentlichen auf zwei Sammelbände, von denen einer zurzeit nicht mehr auf-gelegt ist, sowie neuerdings die vorstehend bereits erwähnte Vorlesungs-Edition aus dem Nachlass.

Joachim Ritters Philosophie formuliert eine Theorie der modernen Welt, die sich nicht nur in ihrer Untersuchung der bürgerlichen Gesellschaft der Aufnahme von Überlegungen des Aristoteles und Hegels verdankt, sondern diesen auch in ihrem gegenwarts- und wirklichkeitsanalytischen Anspruch folgt. Zentral wird für Ritter in diesem Zusammenhang der Begriff der Entzweiung, welcher sowohl den Prozess

Joachim Ritters Philosophie formuliert eine Theorie der modernen Welt, die sich nicht nur in ihrer Untersuchung der bürgerlichen Gesellschaft der Aufnahme von Überlegungen des Aristoteles und Hegels verdankt, sondern diesen auch in ihrem gegenwarts- und wirklichkeitsanalytischen Anspruch folgt. Zentral wird für Ritter in diesem Zusammenhang der Begriff der Entzweiung, welcher sowohl den Prozess

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