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Zur Dostojewskij-Rezeption in Georg Trakls Lyrik

„Die Romane, die ich von ihm kenne, könnten alle ‚Die Geschichte eines Ver-brechens‘ heißen“, so Albertine in Marcel Prousts Die Gefangene; gemeint sind die Romane Dostojewskijs, und Albertine fährt fort: „Er ist offenbar ganz besessen von dieser Vorstellung, es ist nicht natürlich, dass er nur von so etwas spricht.“1

Auch auf den expressionistischen Lyriker Georg Trakl ist das zentrale Thema von Dostojewskijs Romanen nicht ohne Wirkung geblieben:2 Im Kaspar Hauser Lied3 erinnert der Vers „Und im dämmernden Hausflur der Schatten des Mörders“4 an eine Szene aus Dostojewksijs Roman Der Idiot, wo Rogoschin dem Fürsten Myschkin im dunklen Flur des Hotels auflauert.5 Das Motiv kehrt wieder in Trakls Prosagedicht Verwandlung des Bösen als „kalte Stirne des Mörders im Dunkel des Hausflurs“; in der Brenner-Fassung taucht mit dem „schwarzen Wahnsinn des Messers“ auch die Waffe Rogoschins auf.6 Außerdem scheinen Figuren wie der junge Novize (in den Gedichten Psalm I und Helian), der an Aljoscha Karamasow erinnert,7 und typische Gestalten (die Dirne, der Mörder) aus Dostojewskijs Romanwelt entlehnt.

1 Zitiert nach: Horst-Jürgen Gerigk: Die Gründe für die Wirkung Dostojewskijs. In: Dostoevsky Studies 2 (1981), S. 3-26, hier S. 8.

2 Der Aufsatz ist die schriftliche Fassung eines Vortrags, den ich unter demselben Titel am 05.03.2013 in der Georg-Trakl-Forschungs- und Gedenkstätte in Salzburg gehalten habe.

3 Georg Trakls Gedichte werden in den Fassungen der Gedichtsammlungen Gedichte (1913) und Sebastian im Traum (1915) zitiert nach: Georg Trakl: Dichtungen und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Walther Killy und Hans Szklenar, Bd. 1, Salzburg, 2., erg. Aufl. 1987 (im Folgenden: HKA). In Fragen der Datierung, verschiedener Fassungen sowie der Text-genese beziehe ich mich auf: Georg Trakl: Sämtliche Werke und Briefwechsel, Innsbrucker Ausgabe, hg. von Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina, Bd. II, Basel und Frankfurt a. M. 1995, S. 465-470 (im Folgenden: IA).

4 HKA I, S. 95, V. 19.

5 Auf diesen Bezug verweist bereits Reinhold Grimm: Georg Trakls Verhältnis zu Rimbaud. In:

Germanisch-Romanische Monatsschrift N. F. 9 (1959), S. 288-315, hier 313.

6 IA III, S. 289f. (Textstufe 3D); vgl. HKA II, S. 169-173.

7 Hierauf verweist Richard Detsch: Die Beziehungen zwischen Carl Dallago und Georg Trakl.

In: Walter Methlagl, Eberhard Sauermann und Sigurd Paul Scheichl (Hg.): Untersuchungen zum Brenner. Festschrift für Ignaz Zangerle. Salzburg 1981, S. 158-176, hier S. 166.

Zur Dostojewskij-Rezeption in Georg Trakls Lyrik 33 Wiederholt nennt Trakl auch die Gestalt der „Sonja“, die auf die gleichnamige Romanfigur aus Dostojewskijs Schuld und Sühne verweist und dort als Erlöserin des Mörders Raskolnikow auftritt: „Sonja“ begegnet in Trakls lyrischem Kleinzyklus, Die Verfluchten,8 der im letzten Vers mit der Erscheinung Sonjas endet („Sonja lächelt sanft und schön“). Sonja ist außerdem titelgebend für das Figurengedicht Sonja,9 in dessen Text der Name formelhaft als possessives Genitivattribut wieder-kehrt („Sonjas Leben“, „Sonjas Schritt“, „Sonjas [...] Brauen“). Schließlich findet sich die Figur in dem bereits erwähnten Prosagedicht Verwandlung des Bösen (Brenner-Fassung): „Leise läutet im blauen Abend Sonjas Gestalt“.10

In Dostojewskijs Roman Schuld und Sühne11 verbindet sich mit dieser Figur die Hoffnung auf eine Erlösung des Mörders Raskolnikow durch die Kraft der Liebe.

Auch bei Trakl erinnert die Evokation Sonjas inmitten einer Szenerie des Bösen (vgl. die Titel Verwandlung des Bösen und Die Verfluchten) an die Erlöser-Rolle Sonjas. Doch Trakls Darstellung der Figur – im Zeichen von Verschwinden, Abwesenheit und Tod (ich werde darauf noch genauer eingehen) – deutet zugleich auf einen Widerruf von Dostojewskijs Liebesutopie. Diese Beobachtung werde ich im Folgenden exemplarisch anhand einer intertextuellen Analyse der beiden

‚Sonja-Gedichte‘ – des Figurengedichts Sonja und des Gedichts Die Verfluchten – erläutern und differenzieren. Trakls intertextueller Dialog mit Dostojewskij soll charakterisiert und seine mögliche Funktion – für die Aussage der Gedichte – bestimmt werden.

Hierzu muss ich vorausschicken, dass der Dostojewskij-Bezug nicht exklusiv auftritt – sondern in der für Trakl typischen „simultanen Rezeption“ (Bernhard Böschenstein)12 mehrerer Bezugsautoren. Vor allem die späteren Gedichte der posthum erschienenen Sammlung Sebastian im Traum sind wie Mosaike aus Zi-taten zusammengesetzt: So treffen Verse und Motive romantischer Dichtung – etwa von Novalis und Friedrich Hölderlin – auf Anleihen aus moderner, symbo-listischer Dichtung, insbesondere von Arthur Rimbaud, Paul Verlaine und Hugo von Hofmannsthal. Immer wieder nimmt Trakl Bezug auf wichtige

8 HKA I, S. 103f.

9 HKA I, S. 105.

10IA III, S. 289.

11Zur Zitierweise: Ich verwende den prominenten und zu Trakls Zeiten geläufigen (Unter-)Titel des Romans (anstelle der präziseren Übersetzung Verbrechen und Strafe, die sich inzwischen durch die Neuübersetzung von Swetlana Geier durchgesetzt hat). Der Roman wird im Folgenden zitiert nach der von Trakl höchstwahrscheinlich benutzten Ausgabe: F. M.

Dostojewski: Rodion Raskolnikoff. (Schuld und Sühne). Roman. Übertragen von Michael Feofanoff. 2 Bde. München: Piper 1908. Der Nachweis der Zitate und Hinweise erfolgt im Text, wie in der Dostojewskij-Forschung üblich, durch Angabe des entsprechenden Roman-Teils (in römischen Ziffern) sowie des Kapitels (in arabischen Ziffern).

12Vgl. Bernhard Böschenstein: Hölderlin und Rimbaud. Simultane Rezeption als Quelle poeti-scher Innovation im Werk Georg Trakls. In: Walter Weiss und Hans Weichselbaum (Hg.):

Salzburger Trakl-Symposion. Salzburg 1978, S. 9-27.

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figuren der Moderne, etwa auf Friedrich Nietzsche – der in vielerlei Hinsicht als Antipode Dostojewskijs gelten kann.

Die neuere Trakl-Forschung hat diesem Zitatenreichtum zunehmend Rechnung getragen – in Studien, die den intertextuellen Dialog Trakls mit fremder Dichtung rekonstruieren und für die Interpretation fruchtbar zu machen versuchen.13 Allerdings ist die Funktion der Intertextualität umstritten: Sind die Verweise auf fremde Dichtung nichts weiter als ein literarisches Spiel, in dem sich eine abstrakte, nicht welthaltige, sondern sich nur selbst bespiegelnde Literatur offenbart? Sind Trakls intertextuelle Dialoge ein literarisches Spiel, das nichts weiter hervorbringt als „sich selbst meinende Bilder“?14

Es geht also um die für die Trakl-Forschung insgesamt entscheidende Frage nach der Hermetik von Trakls Lyrik, die einer Forschungsmeinung nach als abstrakte, dem Verständnis unzugängliche ‚reine‘ Poesie für sich selber steht.15 Demgegenüber gibt es eine andere Richtung – der ich selbst zugehöre –,16 die

13Wegweisend für die Trakl-Forschung war diesbezüglich der Aufsatz von Reinhold Grimm:

Georg Trakls Verhältnis zu Rimbaud. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N. F. 9 (1959), S. 288-315. Als aktuelle Studie zur Intertextualität sei genannt: Anette Hammer:

Lyrikinterpretation und Intertextualität. Studie zu Georg Trakls Gedichten Psalm I und De profundis II. Würzburg 2005. Der vorliegende Aufsatz knüpft im Wesentlichen an Methode und Ergebnisse meiner Dissertation zur Intertextualität bei Trakl an: Hanna Klessinger: Krisis der Moderne. Georg Trakl im intertextuellen Dialog mit Nietzsche, Dostojewskij, Hölderlin und Novalis. Würzburg 2007 (Klassische Moderne, 8).

14So die Formulierung, mit der Wolfgang Preisendanz: Auflösung und Verdinglichung in den Gedichten Georg Trakls. In: Wolfgang Iser (Hg.): Immanente Ästhetik. Ästhetische Reflexion.

München 1966, S. 227-261, hier S. 241, die These von der Selbstbezüglichkeit von Trakls Zitaten untermauert.

15Seit Walther Killys Trakl-Interpretationen wird die Unverständlichkeit bzw. ‚Hermetik‘ von Trakls später Lyrik diskutiert. Vgl. Walter Killy: Wandlungen des lyrischen Bildes >1958@, 5., erw. Aufl. Göttingen 1967; sowie Ders.: Über Georg Trakl >1960@, 3., erw. Aufl. 1967. Für Killy verzichtet Trakls Sprache auf jede Referenz; es sei für „diese Sprache bezeichnend, daß sie häufig spricht, ohne eigentlich mitzuteilen.“ (Killy 1958, 125). Denn „>w@ichtiger als der Gehalt war für Trakl der sinnliche Klang des Satzes.“ (ebd., 122). Auch für die Tübinger Forscher-gruppe um Gotthart Wunberg, welche die „Text-Verfahren“ der literarischen Moderne systematisch rekonstruiert hat, ist Trakls Poesie Inbegriff einer referenzlosen,

‚autonomen‘ lyrischen Sprache der Moderne. Vgl. Moritz Baßler, Christoph Brecht, Dirk Niefanger und Gotthart Wunberg: Historismus und literarische Moderne. Tübingen 1996, S.

211-220. Neuerdings hat Hans-Georg Kemper: „Und dennoch sagt der viel, der ‚Trakl‘ sagt“.

Zur magischen Verwandlung von sprachlichem ‚Un-Sinn‘ in Traklschen ‚Tief-Sinn‘. In: Károly Csúri (Hg.): Georg Trakl und die literarische Moderne. Tübingen 2009, S. 1-30, versucht, die These von Trakls moderner Hermetik historisch zu differenzieren und zu präzisieren: In der Korrelation von Schönheit (Wohlklang) und Unverständlichkeit sieht er eine moderne Transformation magischen Sprechens, in der ein an sich Unsagbares (Kemper bezieht es auf Trakls Schwester) sprachlich umkreist wird.

16Ausführlich dargelegt und begründet in: Klessinger 2007. Vgl. auch Rémy Colombat: Psalm (I) (2. Fassung). In: Hans-Georg Kemper (Hg.): Interpretationen. Gedichte von Georg Trakl.

Stuttgart 1999, 60-79, hier 64f.: Für ihn verstellt ein Vorurteil der Modernität den Blick auf

Zur Dostojewskij-Rezeption in Georg Trakls Lyrik 35 versucht, die ästhetische Eigenart, Vieldeutigkeit und radikale Modernität zu würdigen und dabei trotzdem die Hermetik von Trakls Gedichten zumindest teil-weise aufzubrechen und einer Interpretation zu öffnen: Dabei dienen die inter-textuellen Verweise als eine Art Anker, da sie auf leichter zugängliche Kontexte – eben etwa auf die Romane Dostojewskijs – verweisen. Und im Dialog mit diesen Bezugs- oder Prätexten lassen sich auch Trakls scheinbar so monologische, selbstbezügliche Gedichte zum Sprechen bringen: Es geht also darum, die „Dialo-gizität“ von Trakls Gedichten zu bestimmen, also die semantische und ideologische Spannung zwischen seinen Antwortgedichten und den zitierten Bezugstexten, die von der Hommage bis zum Widerruf reichen kann.17 Die punktuellen Zitate können dabei umfassende Kontexte evozieren: Wenn Trakl etwa auf Leitfiguren der Moderne wie Dostojewskij und Nietzsche anspielt, verwendet er ‚Code-Wörter‘, die ganze ästhetische, philosophische und gesellschaftskritische Debatten der Zeit aufrufen.

Um den kulturgeschichtlichen Kontext besser zu verstehen, in dem Trakls Lektüren stehen, möchte ich nun – bevor ich zu den Gedichtinterpretationen komme – die zeitgenössischen Bedingungen von Trakls Dostojewskij-Rezeption knapp skizzieren:

Trakls Rezeptionsbedingungen

Trakls Begegnung mit dem Werk Dostojewskijs reicht in die Salzburger Schulzeit zurück, was eine Bemerkung des Jugendfreunds Erhard Buschbeck bestätigt, nach der Trakl Dostojewskij „sehr früh und mit vollem Einsatz zu lesen begann und bald ganz kannte.“18 In seinen frühen Gedichten der sogenannten Sammlung 1909 finden sich Spuren dieser Lektüre: In der dritten Strophe des Gedichts Natur-theater findet sich eine erste Anspielung auf Dostojewskijs Roman im „Spiel / Verlorner Tage, ohne Schuld und Sühne“.19

Trakls inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Werk Rimbauds und auf die Mitteilungs-funktion seiner Lyrik.

17Den Begriff verwende ich im Sinne der Intertextualitätstheorie von Ulrich Broich und Manfred Pfister (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985.

Ein Optimum an Dialogizität liegt nach dieser Konzeption in einer „differenzierte[n] Dialektik von Anknüpfen und Distanznahme“ (ebd., S. 29).

18Brief an Ludwig von Ficker vom 23. Oktober 1925. Zitiert nach: Erinnerung an Georg Trakl. 3.

erw. Auflage. Salzburg 1966, S. 140. In einer von Trakl verfassten Literaturrezension (Salzburger Volksblatt vom 22. August 1908) findet sich ein vergleichender Hinweis auf die

„russischen Epopöen“ als „Urquell der gewaltigsten Geistesrevolution“ (HKA I, S. 209). Hans Weichselbaum: Georg Trakl. Eine Biographie mit Bildern, Texten und Dokumenten. Salzburg 1984, S. 50f., hat auf die mögliche Vermittlung der frühen Dostojewskij-Lektüre durch Otto Weininger hingewiesen, der in Geschlecht und Charakter Dostojewskij „einen der größten Geister“ nennt und auf die Figur der Sonja verweist.

19HKA I, S. 241.

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Auf einem erhaltenen Bücherverzeichnis Trakls sind die Werke Dostojewskijs an erster Stelle aufgeführt.20 Hier ist hinter den Namen des Autors die Verlagsangabe

„Piper“ gesetzt. Trakl hat also Bände der seit 1906 von dem Konservativen Arthur Moeller van den Bruck herausgegebenen Werkausgabe des Münchner Piper-Verlages besessen.21 Die Mitarbeit Dmitrij Mereschkowskijs an dieser Ausgabe kann als programmatisches Signal an den anvisierten Leserkreis gelten, war der russische Symbolist doch bereits ein beliebter Autor der jüngeren Generation.22

Eine ästhetische Opposition Dostojewskij – Goethe wird in einer Tagebuch-Aufzeichnung von Trakls Innsbrucker Bekanntem Karl Röck deutlich: „DO 27.6.

[1912] abds mit Georg Trakl in der Stehbierhalle (Marmeladow ... er gegen Goethe, für Dostojewski. [...])“.23 Mit der Opposition zu Goethe markiert Trakl, wie Sieglinde Klettenhammer herausgestellt hat, seine Ablehnung neo-klassizistischer Positionen, etwa im George-Kreis.24 Der Name Marmeladow in Röcks knappem Eintrag verweist auf eine Romanfigur aus Dostojewskijs Schuld und Sühne – auf Sonjas Vater, den Trinker Marmeladow, der in seinem berühmten „Gerichts-hymnus“ (Konrad Onasch) ein erneutertes Christentum der Vergebung einfordert.

Den weltanschaulichen, religiösen Bekenntnischarakter von Trakls Hinwendung zu Dostojewskij dokumentiert ein von Hans Limbach aufgezeichnetes Gespräch zwischen Trakl und dem Nietzscheaner Carl Dallago im Januar 1914.25 Im soge-nannten ‚Limbach-Gespräch‘ erscheint für Trakl ein christlicher Dostojewskij als weltanschaulicher Gegenpol zu Nietzsche, den Trakl als „wahnsinnig“ bezeich-net.26 „Besonders lieb war ihm Dostojewski“, so erinnert sich Limbach und fährt fort:

Von einigen seiner Gestalten, wie Alioscha Karamasoff und Sonja aus „Schuld und Sühne“, redete er mit tiefer Ergriffenheit. Soviel ich mich erinnere, sprach er aus Anlaß von Sonja das schöne Wort aus – wieder mit wild funkelnden Augen –:

20Trakl besaß die Romane Brüder Karamasow, Der Idiot, Raskolnikow [Schuld und Sühne], Die Dämonen und Das Gut Stepantschikowo sowie Die Politischen Schriften Dostojewskijs (vgl. HKA II, S. 727).

21F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke. Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski, Dmitri Philosophoff u.a. hrsg. v. Moeller van den Bruck. München 1906-1919. Zur Editions-geschichte der Piper-Ausgabe vgl. Christoph Garstka: Arthur Moeller van den Bruck und die erste deutsche Gesamtausgabe der Werke Dostojewskijs im Piper-Verlag 1906-1919. Frankfurt a.M. u.a. 1998. Zu den deutschen Dostojewskij-Übersetzungen bis 1905 vgl. ebd., S. 7-9.

22Vgl. Georg Heyms Tagebucheintrag: „Hölderlin, Nietzsche, Mereschkowski, Grabbe / die 4 Helden meiner Jugend“ (Georg Heym: Dichtungen und Schriften. Hg. von Karl Ludwig Schneider. Bd 3: Tagebücher, Träume, Briefe. Hamburg, München 1960, S. 86).

23Karl Röck: Tagebuch 1891-1946. Hg. von Christine Kofler. Bd. 1. Salzburg 1976, S. 165.

24Vgl. Sieglinde Klettenhammer: Stefan George und seine ‚Jünger‘ in der Provinz. Das Verhältnis der Brenner-Gruppe zum George-Kreis. In: George-Jahrbuch 2001, S. 76-118, hier S. 101.

25Hans Limbach: Begegnung mit Georg Trakl. In: Erinnerung an Georg Trakl. 3., erw. Auflage.

Salzburg 1966, S. 117-126.

26Vgl. ebd., S. 124f.

Zur Dostojewskij-Rezeption in Georg Trakls Lyrik 37

„Totschlagen sollt’ man die Hunde, die behaupten, das Weib suche nur Sinnenlust!

Das Weib sucht ihre Gerechtigkeit, so gut, wie jeder von uns“.27

Zuvor hatte Trakl im Gespräch bereits – mit Verweis auf „Sie sollen ein Fleisch sein“28 – eine christliche Liebesutopie formuliert, die sinnliche und sittliche Liebe vereinigt, und sich damit ganz offensichtlich an Dostojewskijs Liebesideal orientiert.

Mit seiner ideologischen Hinwendung zum religiösen Dichter Dostojewskij stand Trakl nicht allein: Die Dostojewskij-Rezeption im Brenner, in deren Kontext Trakls produktive Aneignung gehört, lässt sich mit christlichen Tendenzen im Brenner verbinden.29 Seitdem der Nietzsche-Enthusiasmus im Laufe des Jahres 1913/1914 in eine Krise gerät, finden kontrastive Beiträge Eingang in den Brenner.

Durch die Aufsätze Karl Borromäus Heinrichs und die Kierkegaard-Kommentare und -Übersetzungen Theodor Haeckers gewinnt „der in Sünde, Schuld und seelischer Zerrüttung lebende Mensch auf der Suche nach Gott“ – den Dosto-jewskijs Romane ja immer wieder darstellen – eine „kulturkritische Relevanz“.30 Trakls Poetik vom ‚Gedicht als Sühne‘ wird von der Forschung in diesen kultur-geschichtlichen Kontext gestellt und auf die christliche Dostojewskij-Rezeption im Brenner zurückgeführt.31

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Trakls Dostojewskij-Rezeption findet in einem bestimmten weltanschaulichen Klima statt. Sie fällt in die Zeit einer be-sonderen Dostojewskij-Faszination: Viele expressionistische Generationsgenossen Trakls beriefen sich in ihrem Entwurf eines ‚neuen Menschen‘ emphatisch auf Dostojewskij. Die zahlreichen Spuren, die Dostojewskijs Romanwelt in der Literatur der Klassischen Moderne hinterlassen hat, gründen aber nicht nur im weltanschaulichen Gehalt seiner Romane, sondern auch im spezifischen Stil des russischen Romanciers. Ihre Gründe liegen nämlich nicht zuletzt in der – vom Autor strategisch entworfenen – Wirkungsmacht seiner Prosa, die um die Jahr-hundertwende dann in besonderem Maße den Nerv der Zeit traf.

27Ebd., S. 125.

28Ebd., S. 124.

29Diese Zusammenhänge sind von der Innsbrucker Trakl-Forschung, insbesondere den Arbeiten von Alfred Doppler, Walter Methlagl und Sieglinde Klettenhammer, erhellt worden. Als Untersuchung zu Trakls Stellung im Brenner sei hier stellvertretend genannt: Alfred Doppler:

„Der Brenner“ als Kontext zur Lyrik Georg Trakls >1979@, in: Ders.: Die Lyrik Georg Trakls.

Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte, Wien u.a. 1992, S. 94-103.

30Klettenhammer 2001, S. 112.

31Weichselbaum 1994, S. 116, vermutet, dass die Dostojewskij-Rezeption im Brenner von Trakl angeregt sein könnte. Zum Gegensatz Nietzsche–Dostojewskij bei Trakl vgl. auch Walter Methlagl: Nietzsche und Trakl. In: Rémy Colombat (Hg.): Frühling der Seele. Pariser Trakl-Symposion. Innsbruck 1995, S. 81–121.

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Horst-Jürgen Gerigk hat in seiner wegweisenden wirkungsästhetischen Analyse gezeigt, wie genau Dostojewskij offensichtlich die Wirkung seiner Romane kalkuliert hat.32 Er unterstellt ihm sogar eine „machiavellistische Poetik“, mit der er das Interesse der Zuhörer bzw. Leser „erzwingen“ wolle.33

Als thematische Wirkungsfaktoren nennt Gerigk etwa die konstante Verwen-dung – und charakteristische Vermengung – der fünf Themenbereiche Ver-brechen, Krankheit, Sexualität, Religion und Politik. In allen großen Romanen Dostojewskijs kreist die Handlung um das Thema des Verbrechens, genauer des Mordes – was ja auch, wie eingangs zitiert, Prousts Albertine nicht entgangen war.

Häufig sind Verbrechen und Sexualität verbunden, etwa im Lustmord Rogoschins an Nastassja Filippowna im Roman Der Idiot.

Der zweite Wirkungsfaktor, das Thema der Krankheit, wird von Dostojewskij wiederum mit Verbrechen und Schuld verbunden: Für Dostojewskij dienen körperliche und psychische Ausnahmezustände, wie Gerigk herausstellt, als Kennzeichen eines „falschen Bewusstseins“.34 So fällt der Mörder Raskolnikow aus Schuld und Sühne nach seinem Mord in Krankheit und Delirium – was als Rebellion seines Gewissens verstanden werden kann.

Gerigk bemerkt außerdem, dass Dostojewskij die Sexualität – den dritten Wirkungsfaktor – in seinen Romanen stets „mit dem Stigma des Verbotenen“

versehe und zum „Zwillingsbruder des Verbrechens“ stilisiere.35 Dabei verwende er häufig sadistische Elemente. An diesem vierten Wirkungsfaktor stellt Gerigk den Effekt des „Fremdartigen, ja Abartigen und oftmals Exotischen, immer aber Extra-vaganten“ heraus.36 Er entsteht durch die Verbindung der Religion mit anderen Themenkreisen, etwa mit dem Verbrechen oder der Sexualität. Illustrieren mag dies exemplarisch die Szene der Lazarus-Lesung in Schuld und Sühne, in der die

‚heilige Dirne‘ Sonja versucht, den Mörder Raskolnikow durch die gemeinsame Bibel-Lektüre zu bekehren:

Der Lichtstumpf begann in dem schiefen Leuchter auszugehen und beleuchtete trübe in diesem armseligen Zimmer den Mörder und die Dirne, die so sonderbar beim Lesen des ewigen Buches zusammengekommen waren. (IV, 4)

Auch Trakl erweist sich vor diesem Hintergrund als idealtypischer Dostojewskij-Leser: In manchen Gedichten erzeugt er – durch vergleichbare Motivkombi-nationen – eine spezifische Stimmung, die an Dostojewskijs Romane erinnert: Als frühes Beispiel sei die dritte Strophe von Trakls Romanze zur Nacht aus der Sammlung Gedichte (1913) angeführt:

32Horst-Jürgen Gerigk: Die Gründe für die Wirkung Dostojewskijs. In Dostoevsky Studies 2 (1981), S. 3-26.

33Ebd., S. 4.

34Vgl. ebd., S. 10-13.

35Ebd., S. 14.

36Ebd., S. 16.

Zur Dostojewskij-Rezeption in Georg Trakls Lyrik 39 Der Mörder lächelt bleich im Wein,

Die Kranken Todesgrausen packt.

Die Nonne betet wund und nackt Vor des Heilands Kreuzespein.37

Die spezifische Verbindung von Verbrechen, Rausch, Krankheit, Religion und Sexualität erzeugt genau jene Atmosphäre, die um 1900 die Wirkmacht der Romane Dostojewskijs ausmachte. Doch Trakls Rezeption erschöpft sich nicht in Stimmung und Effekt, sondern lässt eine konzeptionelle Auseinandersetzung mit Dostojewskijs Werk erkennen. Die folgende intertextuelle Interpretation kann zeigen, wie sich in Trakls Rezeption die Faszination durch Dostojewskijs düstere Romanwelt und seine religiöse Erneuerungsutopie mit einer unüberwindbaren Skepsis mischt. Dabei wird zu zeigen sein, dass er diese Skepsis – die bis zum Widerruf der Utopie reicht – in der Dostojewskij-Lektüre spiegeln kann. Denn auch Dostojewskij selbst ist nicht so eindeutig, wie manche seiner Rezipienten behauptet haben.

Nun komme ich zu dem spezifischen Dostojewskij-Bild Georg Trakls und beginne mit dem ersten Beispiel: dem Sonja-Gedicht Die Verfluchten. Ich werde zunächst die formale und inhaltliche Struktur des Gedichtes analysieren, erste Interpretationsansätze formulieren und erst dann, auf dieser Grundlage, den Dialog mit Dostojewskij rekonstruieren.38

›Die Verfluchten‹

DIE VERFLUCHTEN

1

Es dämmert. Zum Brunnen gehn die alten Fraun.

Im Dunkel der Kastanien lacht ein Rot.

Aus einem Laden rinnt ein Duft von Brot Und Sonnenblumen sinken übern Zaun.

Am Fluß die Schenke tönt noch lau und leis. 5 Guitarre summt; ein Klimperklang von Geld.

Ein Heiligenschein auf jene Kleine fällt, Die vor der Glastür wartet sanft und weiß.

37HKA I, S. 16.

38Mit dieser Methode einer ‚parallelen Lektüre‘ orientiere ich mich an der rezeptionsästheti-schen Intertextualitätstheorie von Peter Stocker: Theorie der intertextuellen Lektüre. Modelle

38Mit dieser Methode einer ‚parallelen Lektüre‘ orientiere ich mich an der rezeptionsästheti-schen Intertextualitätstheorie von Peter Stocker: Theorie der intertextuellen Lektüre. Modelle