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Fjodor Dostojewskij und Andreas Maier – eine Annäherung

Politische und ideologische Gesichtspunkte ziehen sich wie ein roter Faden bis in unsere Tage durch die Rezeption des Romans Böse Geister (Besy). Schon früh haben bedeutende Philosophen wie Nikolaj Berdjaev, Dmitrij Merežkovskij, und Lev Šestov den Roman als prophetische Voraussage der russischen Revolution und der totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts gesehen.

In eine ähnliche Richtung gingen auch die Ausgangsfragen auf dem Dresdner Symposium im November 1996 zum Thema Das Prophetische in Dostojewskijs Dämonen: „Und wer sind die Teufel? Die russischen Terroristen? Die Gangster der heutigen Verbrecherwelt?“1

In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts war es gerade dieser Roman, der die ersten Schritte auf dem Weg zur Perestrojka begleitete. Er wurde sowohl von den liberalen Kräften als auch von Vertretern nationalistisch-religiöser Ideen für sich in Anspruch genommen. So galt der Protagonist Petr Verchovenskij aus die-sem Roman als Hauptdämon, der auf die stalinistischen Verbrechen hinwies. Aus Sicht der Nationalpatrioten hingegen waren gerade die Dämonen die Reformer, die sich an Westeuropa orientierten und materielle Bedürfnisse verabsolutierten.

Allein der Begriff „Dämonen“ wurde zu einem Schimpfwort gegenüber dem je-weiligen politischen Gegner.2

In jüngster Vergangenheit war es Jan Philipp Reemtsma, der den Roman politisch instrumentalisierte. Er übertrug in seinem Vortrag Dämonen? Dostojewskij als Analytiker des modernen Terrorismus das Geschehen auf die RAF.3

Reemtsma geht davon aus, dass der Terrorismus im Normalfall Motive und Gründe hat. Seine These lautet: Genau wie bei Dostojewskijs Dämonen könne auch bei der RAF keine Rede von ernsthaften politischen Zielen oder Absichten sein.

Deshalb müsse auch keine Diskussion darüber geführt werden.

Einen anderen Ansatzpunkt wählt Andreas Maier in seinem Dostojewskij-Ver-ständnis aus.

1 Klappentext in: Olga Großmann, Roland Opitz (Hg.):Das Prophetische in Dostojewskijs Dämonen. Weimar 1998.

2 Karla Hielscher: Wer sind die „Dämonen“ heute? Zur aktuellen Instrumentalisierung von Dostojewskjs Roman. In: Ebd. S. 139-149.

3 Vortrag am 19.02.2007 in der Reihe: nachgedacht. Geisteswissenschaft in Hamburg.

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„Dostojewski hat das zaristische Russland ebenso wenig interessiert wie mich die Bundesrepublik. Uns geht es um Menschen, aber letztlich nicht um Menschen in einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort […].“4

Es geht also nicht mehr um gesellschaftliche Theorien oder politische Ideen in einer bestimmten historischen Situation. Maier fordert damit eine neue Lesart des Romans Böse Geister heraus.

Anhand seiner Äußerungen über Dostojewskijs Erzählhaltung in den Frankfur-ter Poetikvorlesungen sowie seiner beiden Romane Klausen und Kirillow möchte ich darlegen, ob und inwieweit Maier diesem Ansatzpunkt folgt und seiner Heraus-forderung gerecht wird. Erhalten wir durch Andreas Maier einen neuen, einen anderen Zugang zu Dostojewskijs Roman Böse Geister?

In meinen Ausführungen werde ich nur insoweit auf Dostojewskijs Roman ein-gehen, wie die Parallelen zu den Romanen Maiers deutlich werden.

Das Ziel des Erzählens von Maier ist die Auflösung von Gewissheiten. „[…] der Erzähler selbst, die auktoriale Stimme, ist holprig wie ein Mensch.“5 Mit dieser Er-zählhaltung bezieht sich Maier in seinen Poetikvorlesungen direkt auf Dostojewskij:

„Er hat das Objektive, den Sprecher von außen, weitestgehend getilgt. Alles Reden ist schwammig bei ihm, auch die einzelnen Personen zeigen Kohärenz eher da-durch, dass sie dauernd zerfallen in die verschiedensten Richtungen.“6

Die besondere Darstellungsweise in den Romanen Dostojewskijs hat Michail Bach-tin unter dem Begriff „Polyphonie“ gefasst.

Im polyphonen Roman würden gegensätzliche Positionen vertreten, zu denen der Autor keine Stellung bezieht. Dabei handelten die Personen oft im Wider-spruch zu ihrer Idee und sind dadurch nicht mit sich selbst identisch.

„Das wahre Leben eines Menschen erfüllt sich der künstlerischen Idee Dostojewskijs nach gleichsam im Punkt dieser Nichtidentität mit sich selbst.[…].“7

Diese Widersprüchlichkeit zeigt sich auch im Kommunikationsverhalten der Men-schen.

„Bei Dostojewskij reden die Menschen unablässig. Die großen späten Romane ...

bestehen weitgehend aus gesprochener Sprache […]. Was machen die Menschen im Reden bei Dostojewskij? Nun, zum einen breiten sie sich aus […]. Zum anderen verwirren sie sich dauernd. Es gibt bei Dostojewskij nie ein gelingendes Gespräch.

Alle reden im Grunde dauernd aneinander vorbei […] jeder befindet sich in seiner eigenen Welt.“8

4 Andreas Maier: Ich, Frankfurter Poetikvorlesungen, Frankfurt/M. 2006, S. 105.

5 Andreas Maier (2006), S. 112 6 Ebd., S.110

7 Michail Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs. München 1971, S. 67.

8 Andreas Maier (2006), S. 109.

Fjodor Dostojewskij und Andreas Maier – eine Annäherung 53 Der Grund für die Verwirrung, die auch das wesentliche Thema dieser beiden Romane Maiers darstellt, besteht darin, dass sich die Menschen einander ebenso wie sich selbst ständig widersprechen:

„Die Verwirrung als das eigentliche Thema, die Verwirrung unter den Menschen, also dass Wahrheit hier unter uns nicht möglich ist, sondern nur für den einzelnen.

Konkreter gesagt: dass ich Wahrheit für mich erreichen kann, dass es aber an der Wahrheit und an Gott vorbeigeht, wenn ich in der Menschenwelt, im Austausch mit anderen und im diskursiven Ausgleich Wahrheit möglich machen will.“9

Andreas Maier geht es um diese Wahrheit und er bezieht sich dabei auf das Mat-thäusevangelium, das die Wahrheit „wie eine Flaschenpost durch die Jahrtau-sende“10 geschickt hat.

Jeder Mensch könne nach Maier fast jede Handlung als richtig oder falsch er-kennen.

„Die Wahrheit ist ein Zaubermittel, und weil sie innerhalb einer Sekunde erlöst, weiß auch jeder, dass es sie gibt und was sie ist und was sie beinhaltet, denn sie ist das Einfachste von der Welt, darum gehen meine Bücher, von da haben sie ihren Wesenskern.“11

Für Maier ist Dostojewskij der Schriftsteller, der die Botschaft des Matthäus-evangeliums weiterträgt.

Welch eine Bedeutung die Wahrheit für Dostojewskij besaß, mag beispielhaft ein Zitat illustrieren. Der Protagonist im Traum eines lächerlichen Menschen (Son smešnogo čeloveka) sagt:

„Denn ich habe doch die Wahrheit gesehen, ich weiß: die Menschen können schön und glücklich sein, ohne dabei die Fähigkeit, auf der Erde zu leben, zu verlieren. […]

Ich habe die Wahrheit gesehen – nicht dass ich sie mit meinem Verstand erfunden hätte, nein, ich habe sie gesehen, gesehen. Und ihr lebendiges Angesicht hat meine Seele bis in alle Ewigkeit erfüllt..“12

Nach Maier ist der Höhepunkt jeder Massenszene in Dostojewskijs Romanen das Chaos, der Skandal. Besonders deutlich wird dieses in dem Roman Böse Geister.

Der Erzähler in Böse Geister hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Ereignisse in der Stadt aufzuklären, Klarheit in die Beziehungen Stavrogins zu der ihn umgeben-den Gesellschaft und in das Chaos um die Anschläge zu bringen. Er schränkt aber seine Aufgabe als Chronist von vornherein ein, indem er seine Unerfahrenheit be-tont. Er gehört einerseits dem Kreis der beteiligten Personen an, versucht jedoch andererseits die Ereignisse objektiv zu schildern. Wir finden hier auf den ersten

9 Ebd., S. 115 10 Ebd., S. 96 11 Ebd., S. 141

12 F.M. Dostojewski: Aus dem Dunkel der Großstadt. München 1925, S. 472 f.

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Blick alle Kennzeichen des auktorialen Erzählens. Nach Jochen Vogt beinhalten diese:

„[…] die Kommentarfunktion des Erzählers, die sich in Erzähleinmischungen, Anreden an den Leser, reflektierenden Abschweifungen ausdrückt...“ 13

Dazu kommen noch Hintergrundinformationen, Vor- und Rückgriffe.

Der Chronist berichtet allerdings nur scheinbar objektiv, zum Teil stellt er auch Hypothesen auf, vieles bleibt im Dunkeln. Es wird nicht klar, inwieweit er ge-nauere Kenntnisse hat.

In Böse Geister brodelt es ständig in der Gerüchteküche und der Erzähler ist mittendrin in dieser Gerüchteküche, trägt weniger zur Aufklärung als zur Ver-wirrung bei.

Schon um Nikolaj Stavrogin ranken sich die unterschiedlichsten Meinungen. Er bleibt letztlich undurchschaubar und gerade das erzeugt Mutmaßungen und Gerede. Auch das skandalöse Auftreten, als er Petr Gaganov, ein Vorstandsmitglied des Klubs, zunächst an der Nase durch den Saal zieht und bei der Entschuldigung ins Ohr beißt, bleibt unerklärlich und unaufgeklärt.

Der großsprecherische und emotionslose Petr Verchovenskij drängt sich ihm auf und will ihn als Führer des revolutionären Kreises gewinnen. Stavrogin jedoch begegnet ihm distanziert und mit Verachtung.

Für seine Zwecke benutzt Verchovenskij Aleksej Kirillov. Dieser hat mit seinem Freitod sein eigenes Ziel. Wer den Schmerz und die Angst überwindet, erreicht die vollkommene Freiheit. Er will mit seinem Opfer die Menschen von einem Leben befreien, das Betrug, Schmerz und Last ist.

Der Höhepunkt der Verwirrung und aller Gerüchte ist schließlich die Situation auf dem Fest beim Gouverneur von Lembke:

„Am Ende glaubte niemand mehr, der feierliche Tag könne ohne einen kolossalen Zwischenfall verstreichen ohne „die Lösung aller Rätsel“, wie manche […] es ausdrückten. Im Ganzen war das Gerede chaotisch, zusammenhanglos, trunken und unruhig, so dass es schwer war, sich einen Überblick zu verschaffen und irgend-welche Schlüsse zu ziehen. Gerüchte kamen auf. Die Tatsachen waren im all-gemeinen mehr oder weniger bekannt, aber es war offenkundig, dass außer den Tatsachen gewisse Ideen aufgetaucht waren, und zwar, was das Wichtigste war, unzählbar viele. Es war schlechthin unmöglich sich unter ihnen zurechtzufinden.“14 Maiers Annäherung an Dostojewskij bezieht sich auf die Erzählhaltung, die Per-sonendarstellung sowie auf bestimmte Ereignisse und Handlungsabläufe.

In dem Roman Klausen ist der Handlungsort eine Kleinstadt in der Nähe von Bozen. Der Protagonist des Romans ist Josef Gasser, ein Einheimischer, der in

13 Jochen Vogt: Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Roman-theorie. Opladen 1972, S. 58.

14 Fjodor Dostojewskij: Böse Geister., Zürich 1998, S. 649.

Fjodor Dostojewskij und Andreas Maier – eine Annäherung 55 Berlin studiert hat, jetzt zurückgekehrt und den Klausenern äußerst suspekt ist. Um ihn ranken sich die widersprüchlichsten Meinungen:

„Es wurde viel über ihn erzählt und später wurde noch mehr erzählt... der Eindruck, den Gasser in Klausen hinterlassen hatte, radikalisierte sich nach den Vorfällen im Gerede der Leute von Tag zu Tag. Eine Zeitlang hieß es, er sei in Deutschland Lehrer geworden oder Sozialarbeiter. […] Gasser wurde teils zu einem Gewalttäter, teils zu einer Art Widerstandsheld gemacht“15

Es geschieht Ungeheuerliches in dem Ort: Vogelschützer protestieren gegen die Lichtkanone einer Disco, eine Demonstration findet statt, Flugblätter tauchen auf und im Zentrum steht eine Bürgerinitiative gegen die Autobahnbrücke, ein An-schlag wird verübt, der aber tatsächlich gar keiner war.

Obwohl oder gerade weil Gasser nicht Stellung für oder gegen die Autobahn-brücke bezieht, hält man ihn nicht nur für arrogant, sondern für gefährlich.

Einer der angeblichen Rebellen ist auch Leopold Auer, ein Einheimischer, der Gedichte schreibt und sogenannte „pazzi“ (Fratzen) der Bewohner zeichnet. Er wird zu einem Katalysator des Geschehens, so der Aktion auf der Autobahnbrücke, gemacht, der den geistigen Nährboden für den Terror geliefert hat.

Er ist zwar an der Aktion beteiligt, hindert aber lediglich die Autos am Weiter-fahren.

Im Übrigen zieht er sich immer mehr zurück.

„Ab einem gewissen Stadium redet man nicht mehr, man ist vielmehr darüber hinaus, und ab diesem Stadium beginnen sich auch plötzlich solche Menschen wie Badowsky an einen zu hängen und selbst das Wort zu führen, das verselbstständigt sich immer mehr und am Ende geschehen irgendwelche Dinge nur auf Grund dieser Verselbstständigung, aber man selbst habe damit schon lange nichts mehr zu tun.“16 Dieser Badowsky erscheint irgendwann in Klausen und ist überall anzutreffen. Er ist es, der sich provozierend in ein Gespräch zwischen Professor Klein und seinem Assistenten einmischt und den Professor brüskiert.

„Hier Moment […] habe ich Sie nicht eben gefragt, ob Sie Professor sind? Für was sind Sie denn Professor?“17

Klein lässt sich auf dieses Gespräch ein, um dann auf seine Frage, ob er, Badowsky, sich im Unibetrieb auskenne, zu hören:

„Ich kenne mich überall aus, und vor allem natürlich kenne ich mich mit solchen wie Ihnen aus.“18

15 Andreas Maier: Klausen, Frankfurt/M, 2002, S. 13 ff.

16 Ebd., S. 170.

17 Ebd., S. 59.

18 Ebd.

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Schließlich spricht Badowsky von Gescheiterten und bezeichnet diejenigen, die nicht gescheitert sind wie z.B. die Professoren als das Erbärmlichste auf der Welt.

Auf der Demonstration ruft Badowsky zu den verrücktesten Dingen auf. Er schien das alles auswendig gelernt zu haben und nun mit großer Begeisterung nachzuplappern.

Die Parallelen dieser drei Protagonisten zu Nikolaj Stavrogin und Petr Vercho-venskij sind offensichtlich.

Die klarsten Gemeinsamkeiten im Handlungsablauf zeigen sich schließlich in der Darstellung der Versammlung in Klausen, die ebenso wie das Fest in den Bösen Geistern in einem Skandal endet.

„Viele redeten seit einigen Tagen in diesen ungewissen Formeln, sprachen von der ganzen Sache oder der Angelegenheit insgesamt, denn sie konnten nichts kon-kretisieren, sie erwarteten nur ständig etwas, wenn auch sicherlich nicht das, was dann eintrat. […] Alle riefen durcheinander, jeder nahm die verschiedensten Positionen ein, und niemand wusste, wovon überhaupt gesprochen wurde. […] Es blieb nicht aus, dass später unzählige Versionen berichtet wurden, an allen mög-lichen Orten. Je weniger man sagen konnte, woher (also von wem) dieses Gerücht eigentlich stammte, desto exakter wurde es.“19

Auch in Klausen haben wir es wie in den Bösen Geistern mit einem Chronisten zu tun. Er weiß ebenso wenig alles wie derjenige in Böse Geister. So bleibt vieles offen, wer z.B. das Flugblatt verfasst hat, wer letztlich für den sogenannten Anschlag auf die Autobahnbrücke verantwortlich ist. Es bleiben Zweifel und Unsicherheit. Und der Chronist trägt dazu bei. Das bevorzugte Stilmittel ist die indirekte Rede. Fast allen Gesprächen liegen Gerüchte zugrunde.

So heißt es am Ende des Romans:

„Kurzum: Niemand wusste eigentlich recht, was an diesem Tag passiert war, was aus Zufall geschehen, was vorsätzlich vonstattengegangen war. Aus der Nähe betrachtet, löste sich das Geschehen in einem Kosmos von Möglichkeiten auf.“20 Der letzte Satz in Klausen lautet: „Lasst mich eine Fratze malen, eine Fratze mit aufgerissenem Mund!“21 Er steht mehrfach unterstrichen auf einem Zettel, der in der Kammer Leopold Auers hängt.

Damit zitiert Maier direkt die Worte Aleksej Kirillovs. Dem Roman Kirillow dient dieser Satz auch als Leitwort.

Schauplatz der Handlung ist in Maiers Roman Frankfurt/M. und am Ende Gorleben.

Der Schriftsteller schildert eine Gruppe von Studenten, zu denen auch einige junge Leute aus Russland gehören, in ihrer Suche nach Sinn und Wahrheit sowie

19 Ebd., S. 190 ff.

20 Ebd., S. 214.

21 Ebd., S. 215.

Fjodor Dostojewskij und Andreas Maier – eine Annäherung 57 nach Aktionen. Die Gruppe trifft sich vor allem in Kneipen. Es wird diskutiert, gefeiert, getrunken und es werden Aktionen geplant. Am Ende fährt die Gruppe nach Gorleben, um gegen die Atommüll-Transporte zu demonstrieren.

Im Mittelpunkt stehen der Politikersohn Julian Nagel und der Student Frank Kober.

Andrej Kirillow wird von Anton Kolakow, einem der jungen Leute aus Russland, erstmals aufgrund der Ähnlichkeit mit Kober erwähnt. Dieser wirkt verschlossen.

Er hat seine chaotischen Zeiten hinter sich und ist unauffällig geworden ebenso wie Andrej Kirillow.

Dieser stammt aus einem Dorf bei Chabarovsk. Er wird als merkwürdige Gestalt bezeichnet, sei oft sehr still, habe aber früher verrückte Dinge getan. Von ihm existiert ein Manifest, das die Gruppe von Kolakow erhält. Dieses Manifest be-inhaltet folgende Aussagen:

„..das ganze Unglück (komme) dadurch, dass die Menschen […]... nach ihrer Glückseligkeit streben oder nennt es meinetwegen auch Bequemlichkeit. ... Der Handwerker des einundzwanzigsten Jahrhunderts […] fährt zwei- oder dreimal im Jahr in Urlaub, kauft Unterhaltungselektronik, er beansprucht Autos, Banken ... er benötigt riesige Flughäfen, […] er braucht ein monströses Verkehrsnetz, er setzt riesige Autofabriken voraus, die Stromwirtschaft, die Nahrungsmittelwirtschafts-konzerne […]. Er ist vernetzt und verfangen in einem riesigen kollektiven System, das allein ...funktioniert durch Abermillionen Menschen, die genauso sind wie er.

Das ist das Kirillowsche Gesetz.“22

Es gebe keine dunkle Macht, es gebe nur die Menschen.

Das Manifest wird auch als „Traktat über den Weltzustand“ bezeichnet.

In Julian Nagel, einem der Wortführer der Studentengruppe, verbinden sich jugendlicher Protest, Idealismus und blinder Aktionismus. Er ist es, der andere Menschen brüskiert und Skandale auslöst.

So wirft er einem Beamten vor, dass dieser für all die Fragen, die er den Be-suchern der Behörde stellt, keinerlei Verantwortung übernimmt, dass ihm letztlich alles egal ist.

„[…] diese Verhaltensweise ist es, die die Welt täglich in den Abgrund stürzt. ... Sie mein lieber Herr […], Sie mit ihrer ganzen Grundlosigkeit[…]. Sie sind das Unglück dieser Welt, und zwar höchstpersönlich.“23

Auf einer Party seines Vaters mit hochrangigen Landespolitikern beschimpft Julian einen der Gäste, der sich in ein Gespräch zwischen Julian und seinen Freunden einmischt als „verdammten kleinen sekttrinkenden Wichser“.24

22 Andreas Maier: Kirillow. Frankfurt/M. 2005, S. 136 f.

23 Ebd., S. 61.

24 Ebd., S. 98.

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Zu einer Eskalation und einem Skandal kommt es nur nicht, weil Frank Kober dazwischen geht und sich mit einem abgebrochenen Sektglas in Unterarm und Hand schneidet und damit vom Streit ablenkt.

Julian erscheint hier als unmittelbarer Nachfolger Nikolaj Stavrogins. Julian ist es auch, der das Traktat begeistert aufgreift. Er sucht die Praxis zu Kirillows Theorie.

Beim Anblick von Jesus am Kreuz bemerkt er, dass Jesus durch alle hindurch-schaut.

„Da hängt die Wahrheit, sagte Julian.“25

Dieses Hindurchschauen sieht er in der Sprache des Glaubens verkörpert: Sie sei das einzige ohne Richtung, Fortschritt und Wachstum, die ansonsten in der Welt herrschten.

Dieses Durchschauen ist ein Durchschauen der weltlichen Verstrickung, die Julian so beschreibt:

„Die Katastrophe war elementar. Sie steckte in jedem Schuh, in jedem Meter Straße, in jedem Auto, in jeder Jacke, in jedem Gramm Mehl ...“26

Für Julian gibt es nur eine Lösung, um sich aus dieser Verstrickung zu befreien:

sich selbst zu töten.

Bei Julian führt diese Idee zu einem blinden Aktionismus. In Gorleben rast er mit einem Traktor auf eine Polizeikette zu. Er wird angeschossen und aus dem Führerhaus geschleudert. Beim Zurücksetzen des Traktors durch einen Polizisten wird Frank Kober überfahren. Sein Tod ist ein unglücklicher Zufall.

Am Ende knüpft Maier noch einmal eine Verbindung zu seinem Roman Klausen.

Kurz vor der Aktion mit dem Traktor sagt Julian:

„Manchmal komme ich mir vor wie eine Fratze, und wenn ich mir so vorkomme, dann möchte ich meine Zunge herausstrecken, der ganzen Welt ... nein, nicht der ganzen Welt, sondern bloß den Menschen, also, das heißt […] eigentlich bloß mir.“27 In Kirillow finden sich ebenfalls auf den ersten Blick die genannten Merkmale auktorialen Erzählens. Aber auch hier bleibt der Erzähler in vielen Punkten unwissend. So wird das Geschehen um die Gullideckel-Aktion (Gullideckel werden nachts auf parkende Autos geworfen) nie aufgeklärt. Auch die genauen Umstände des Todes von Frank Kober werden nicht weiter verfolgt. Gespräche werden häufig nicht zu Ende geführt oder mit der Formel „etc.“ abgebrochen.

Thomas Steinfeld hält Maiers Roman für misslungen, da es nur zwei Möglich-keiten gebe, Dostoevskijs Besy für die Gegenwart neu zu schreiben. Man könne sie entweder zitieren, dann müsse man ihren weltanschaulichen Ernst übernehmen, oder aber parodieren, dann müsse der Autor das historische Modell verkleinern.

25 Ebd., S. 203.

26 Ebd., S. 215.

27 Ebd., S. 345 f.

Fjodor Dostojewskij und Andreas Maier – eine Annäherung 59 Nach Steinfeld sind die Personen Dostoevskijs „Sendboten als ausführende Organe einer höheren, theoretischen Gewalt“.28

In die gleiche Richtung geht die Kritik von Tilman Krause.

„Für Dostojewskij gilt: Seine Nöte gehören in seine Zeit. In eine repressive

„Für Dostojewskij gilt: Seine Nöte gehören in seine Zeit. In eine repressive