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B. DAS LESERGESPRÄCH ALS VERMITTLUNGSFORM

VI. „Grenze“ als Thema im interkulturellen Lesergespräch. Besprechung am

2. Zur Übertragbarkeit und transkulturellen Anschlussfähigkeit des Themas

exklusiv auf diesen einen, d.h. auch nicht auf den deutsch-nationalen Kontext allein bzw. überhaupt bezogen bleiben. Ob seines hohen Übertragungspotentials auf durchaus unterschiedliche Bereiche - es ist nicht auf einen geographischen noch zeitlichen Raum begrenzt, sondern verweist auf ein, wie im Folgenden noch aufgezeigt werden soll, deutlich breiteres Bedeutungsspektrum - hat das Thema der „Grenze“ ontologischen, ja universalen Gehalt. Es tangiert gleichsam alle Lebensbereiche des Menschen, erlaubt aber nichtsdestoweniger durch seine thematischen „Verzweigungen“ auch kulturrelative Zugänge und Bedeutungszuweisungen.

288 Vgl. Giordano, Ralph (2006): Sichtbares und Unsichtbares. Vorwort. In: Ullrich, Maren (Hrsg.):

Geteilte Ansichten. Erinnerungslandschaft deutsch-deutsche Grenze. Berlin, S. 13.

Für die Geschichte und Gegenwart der heutigen Bundesrepublik und der deutschsprachigen Kultur impliziert das Thema der Grenze, bzw. immanent das sich anschließende Netz von Sub- und Gegenthemen, genauso weitere Dimensionen und Bereiche (neben dem benannten historischen Kontext der Teilung), wie es im internationalen und kulturübergreifenden Zusammenhang vielfältige Komplexe berührt und aufruft. Chancen für einen interkulturellen Diskurs ergeben sich nicht nur, weil Mitglieder unterschiedlicher kultureller, nicht-deutscher Provenienz an Grenzen und Mauern im konkreten und materiellen Sinne anschließen können, wie z.B. aus Ungarn, dem heutigen Tschechien, Israel und Korea. Auch die Erfahrung mit Gewaltherrschaft, Repression, fundamentalistischer Ideologie und radikaler Politik ist eine gewissermaßen international geteilte und Bestandteil des (kulturellen) Gedächtnisses vieler Kulturen.

Darüber hinaus, ebenfalls für einen Dialog der Kulturen von Bedeutung, ist die Grenzthematik wiederum als Teil eines vielschichtigen Themengeflechts zu sehen und steht im Zusammenhang mit und in Relation zu anderen „großen“ Themen der interkulturellen Germanistik von zentraler Vermittlungsrelevanz und kultur-repräsentativem Wert, darunter Fremdheit und Heimat, Toleranz, Sprache, Erinnerung und Gewalt. Ein interessantes und für den interkulturellen Vermittlungskontext gut geeignetes Exempel für die Verbindung von (erinnerter) Gewalt und Grenze etwa stellt der Prosaband „Barfüßiger Februar“ von Herta Müller dar, den Pasewalck in ihrem Aufsatz bespricht. Die Autorin führt aus, dass die Subtilität und Unsichtbarkeit der Gewalt der Grenze bei Müller besonders darin besteht, dass sie „alle Bereiche durchdringt“.289 Auf Müllers Biographie bezogen, impliziert die

Grenze bzw. der Mechanismus der Grenze [sogar] eine dreifache Gewalt: erstens die des Nationalsozialismus, zweitens dessen latente bis offene Fortsetzung in der Dorfmentalität der Banater Schwaben und drittens die der Rumänischen Diktatur.290

Nicht nur in diesem Fall, sondern gleichermaßen bei einer auffälligen Mehrzahl der literarischen Verarbeitungen, die im Folgenden angesprochen werden, wie auch den beiden später exemplarisch analysierten Texten von Özdamar und Pehnt hat die Thematik der Grenze nicht nur poetischen und kulturrepräsentativen Wert, sondern zudem eine starke biografische Komponente.

289 Pasewalck, Silke (2004): Erinnerte Gewalt der Grenze - zu Herta Müllers Prosaband „Barfüßiger Februar“. In: Neumann, Bernd u.a. (Hrsg.): Literatur, Grenzen, Erinnerungsräume. Erkundungen des deutsch-polnisch-baltischen Ostseeraums als einer Literaturlandschaft. Würzburg, S. 359.

290 Ebd., S. 360. (Hervorhebung im Original)

Als weitere Beispiele für thematische Verknüpfungen des Themas „Grenze“, in denen transkulturelle Anschlussmöglichkeiten bestehen und die im Unterricht Anlass und Gegenstand von Diskursen darstellen können, lassen sich Grenzüberschreitungen, Grenz- und Fremdheitserfahrungen, Reise und Migration nennen.

Grenzen sind weiter nicht nur Begrenzungen definiter Areale und Territorien, sondern der Begriff birgt eine deutliche Ambivalenz. Schließlich ist die Grenze zugleich ein Symbol für Trennung und Teilung wie auch für Verbindung und Berührung. Grenzen sind Zonen des Austauschs schlechthin, gewissermaßen „kulturell neuralgische Zonen“.

Kulturkontakt findet und fand immer und in besonderer Intensität an Grenzen statt, wo nicht nur Angrenzung mit Benachbartem vorliegt, sondern sich vornehmlich auch Prozesse der Abgrenzung abspielen, wo die Differenzierung von Eigenheiten und Andersheiten ausgehandelt wird. Die Bestimmung, d.h. eindeutige Festlegung von Grenzen ist nicht einfach, wie z.B. die Erzählerin in Yoko Tawadas Geschichte „Wo Europa anfängt“ feststellen muss, die mit der Transsibirischen Eisenbahn eine Überfahrt von Asien nach Europa vornimmt und auszuloten versucht, an welcher Stelle Asien aufhört und Europa beginnt: „Europa fängt nicht erst in Moskau an, sondern schon vorher“, schreibt sie in einem Brief an ihre Eltern. Ein mitreisender Franzose lacht über diese Erkenntnis und begnügt sich mit der Stellungnahme, „Moskau sei NICHT Europa.“291 In diesem kleinen Beispiel deutet sich an, dass die Definition einer Grenze zwischen dem Eigenen und dem Anderen untrennbar zusammenhängt mit der Frage nach der eigenen Origo, d.h. der eigenen (geographischen und kulturellen) Verortung, und Kulturspezifik sich in starkem Maße in Wahrnehmungsdifferenzen manifestiert.

Entsprechend ist eine Grenze keineswegs als Linie aufzufassen, als akkurate Trennungsmarkierung, sondern definiert sie sich vielmehr immer als ein und über einen Raum, der sie umgibt bzw. säumt, und der per se nicht durch (kulturelle) Einfachheit und gar statische Homogenität, sondern im Gegenteil durch Dynamik und wechselseitigen Austausch, Hybridität und Heterogenität gekennzeichnet ist. Der Grenzraum ist also immer ein Begegnungs- und Zwischenraum, sozusagen eine Welt

„zwischen zwei Welten“, und der Übergang, das Über- und Durchqueren desselben, eine Reise. Grünbeins Gedicht „Kosmopolit“ spricht vom Reisen als einer Zeit, für deren Dauer der Reisende sich in einem „Transitraum“ aufhält, der für ihn sehr negative

291 Tawada, Yōko (2006): Wo Europa anfängt. In: Dies.: Wo Europa anfängt. Tübingen, S. 82f.

Eigenschaften hat, der quälend ist, nicht hier- und nicht dorthin gehört. Der Text beschreibt das Reisen als eine Phase des Wartens, des Ausharrens, des Überdauerns in der „Narkose“.292 So kann auch der Grenzraum bzw. die Zeit des Übergangs einmal eine Welt sein, in der nichts passiert, in der die Zeit gleichsam stillsteht und alle alltagsrealweltlichen Gesetze außer Kraft gesetzt sind, zum anderen eine, die sich in besonderem Maße durch Zerrissenheit und Gespaltenheit kennzeichnet. Gleichzeitig ist der Ort, an dem sich ein Grenzübergang befindet, wo Überschreitungen stattfinden, auch Ort des Neuanfangs bzw. immerhin des Anfangs von etwas Anderem, respektive Fremdem. Mit wachsender Entfernung von der Grenze löst eine Sprache die andere ab, eine Kultur die andere. Allmählich, unauffällig verändern sich die Nuancen und

„Mischungsverhältnisse“. Wer Grenzen übertritt, lässt mindestens vorübergehend Eines hinter sich und tritt in ein Anderes ein. Zwar ist ein Rückkehren i.d.R. möglich, der Übertritt selbst allerdings lässt sich nicht rückgängig machen, und auch Veränderungen nicht, die der Kontakt mit dem Anderen im „Übertretenden“ initiiert hat.293 Oftmals allerdings bleibt das Gefühl der Zweigeteiltheit und Zerrissenheit erhalten und verwächst sich in einer fortdauernden Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Zugehörigkeiten, wenn nicht gar Identitäten. Die eigene, die Herkunftskultur immer im Gepäck,294 erfährt der Heimatbegriff des Wandernden durch vollständig neue Dimensionen Erweiterung und verlieren Metaphern wie die der Verwurzelung an Treffsicherheit.

3. Beispiele literarischer Verarbeitung des Themas „Grenze“ und ihre