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B. DAS LESERGESPRÄCH ALS VERMITTLUNGSFORM

I. Lesen. Zum Leseverhalten im Zeitalter neuer Medien und Bedingungen der

2. Lese- und literarische Sozialisation: Einige Instanzen und Einflussfaktoren

2.3. Literarischer Kanon und Zensur als gesellschaftliche und (kultur-)

2.3.2. Zensur als Exempel politischer Einflussnahme auf literarische

Zensurmaßnahmen sind, wie erwähnt, nicht nur Beispiel für literarische Sozialisationsfaktoren, sondern sie bedingen auch eine Steuerung der literarischen Rezeption und somit eine kulturspezifisch unterschiedliche Rezeption mit. Es handelt sich bei der durch eine Institution, sei es Kirche oder Staat, oder durch eine soziale Gruppe verfügte literarische Zensur, d.h. die „planmäßig angelegte, mit polizeilichen oder rechtlichen Mitteln ausgeübte Kontrolle veröffentlichter bzw. zur Veröffentlichung

53 „‚Herta who?„, fragte in selbstgefälliger Ignoranz eine amerikanische Zeitung.“ (Hartwig, Ina (2009):

Die Gegenwart erfassen. Online verfügbar unter http://www.goethe.de/ins/lv/rig/wis/uef/de5221062.htm, zuletzt geprüft am 30.12.2009).

54 Moser, Doris (2004): Der Ingeborg-Bachmann-Preis. Börse, Show, Event. Wien, S. 17.

55 Vgl. ZDF: Frankfurter Buchmesse. Verleihung des deutschen Friedenspreises. Sendung vom 18.10.2009. Online verfügbar unter http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/862612/Verleihung-des-deutschen-Friedenspreises#/beitrag/video/862612/Verleihung-des-deutschen-Friedenspreises, zuletzt geprüft am 15.12.2009.

56 Vgl. Börsenverein des Deutschen Buchhandels (2009): Auf den Spuren der Friedensstifter: Ausstellung dokumentiert Stationen aus 60 Jahren Friedenspreis. Aktuelle Meldungen, 28.12.2009. Online verfügbar unter http://www.boersenverein.de/de/96864?mid=351376, zuletzt geprüft am 30.12.2009.

vorgesehener Äußerungen“,57 zu denen auch literarische Erzeugnisse zählen, um ein weltweites „Phänomen, das die Kulturgeschichte seit der Antike begleitet“58 und zum einen (durch seine Mitbestimmung über Erreichbarkeit und Verfügbarkeit literarischer Erzeugnisse bzw. deren Veränderung) deutliche Auswirkungen auf konkrete Rezeptionsbedingungen und damit Rezeptionsverhalten und -gewohnheiten von Lesern hat, indem sie primär den potentiellen „Horizont“ der Leser eingrenzt, auf diesem Wege jedoch auch, weiter reichend, kognitive Strukturen und soziale wie politische Haltungen der Bevölkerung mitprägen kann. Schließlich beschränkt sich die Zensurkontrolle z.B.

eines totalitären Regimes nicht auf den Schutz der Bevölkerung vor regimekritischen Stimmen durch die Festlegung und Verteidigung von Tabus oder das Anstreben einer vollkommen unpolitischen Literatur. Zudem wirkt sie auch in produzierender Form auf die Literatur ein, indem z.B. (propagandistische) Autorenapparate beschäftigt werden, um ideologiekonforme Publikationen auf den Markt zu bringen.59 In vielen Fällen werden außerdem nicht nur Schriften kontrolliert und zensiert, sondern werden Autoren, die gegen die Prinzipien und Ideologien der Regierung verstoßen und das freie Wort verteidigen, verfolgt und sind nicht selten gezwungen, das Land zu verlassen, um einer Inhaftierung zu entgehen. Im Kontext der gegenwärtigen deutschen Literatur, die unter den Bedingungen einer demokratischen Verfassung entsteht, die Meinungs- und Äußerungsfreiheit und Individualität als wichtige Prinzipien verteidigt, spielt literarische Zensur und daraus resultierende Unfreiheit und Determination des Geistes und des Wortes zwar eine deutlich geringere Rolle als in der Vergangenheit.

Deutschland hat jedoch lange Jahre der Diktatur und staatlichen Kontrolle hinter sich, und die Auswirkungen derselben sind nach wie vor präsent und werden zusätzlich bewusst „wachgehalten“.60 In anderen Ländern ist die „Kontrolle von Produktion, Distribution und Rezeption von Literatur“61 durchaus ein aktuell relevantes Thema und

57 Löffler, Dietrich (2006): Literarische Zensur. In: Franzmann, Bodo u.a. (Hrsg.): Handbuch Lesen.

Baltmannsweiler, S. 329.

58 Gauch, Sigfrid; Claudia C. Krauße (2009): Editorial. In: Dies. (Hrsg.): Ein Regen aus Kieseln wird fallen. Texte aus dem Exil. Das Writers-in-Exile-Programm des P.E.N. Frankfurt am Main, S. 9.

59 Zum Fall China vgl. das Interview mit dem in Deutschland lebenden chinesischen Exilautor Shi Ming:

ZEIT Online (2009): PEN-Club kritisiert Autoren-Situation in China. In: ZEIT online, 15.10.2009.

Online verfügbar unter http://pdf.zeit.de/kultur/literatur/2009-10/pen-kritik-china.pdf, zuletzt geprüft am 10.12.2009.

60 Deutschland erfreut sich heute einer lebhaften Erinnerungskultur, die sich nicht zuletzt in einer Vielzahl von Fernsehdokumentationen niederschlägt und damit in unterschiedlichen Massenmedien lebendig ist, in den gedruckten gleichermaßen wie in den audiovisuellen und im Internet.

61 Löffler (2006), S. 331.

hat bedeutenden Einfluss auf die Konstitution und Entwicklung des literarischen Marktes und die Rezeption der Bevölkerung. Anlässlich der Frankfurter Buchmesse im Oktober 2009 wurden das Ausmaß und die Aktualität dieser Problematik auf internationaler Ebene besonders deutlich. Die Volksrepublik China als Gastland führte im öffentlichen Diskurs zu einer ausgeprägten Debatte über Themen wie Autorenrechte und -freiheiten, politische Verfolgung und Inhaftierung von regimekritischen Schriftstellern, über Prinzipien von Demokratie und Gleichberechtigung als wichtige Maximen einer Gesellschaft auf der einen und Menschenrechtsverletzung und Freiheitsbeschneidung auf der anderen Seite. Es ist anzunehmen, und das lässt sich als für den hiesigen Kontext relevant festhalten, dass die Bevölkerung freies und kritisches Denken, Handeln und Urteilen umso eher verinnerlichen und praktizieren kann, je liberaler und offener ein politisches und soziales System ist.62

Wie gesehen, spielen die Aspekte von Kanon und Zensur neben den oben ausgeführten Faktoren literarischer Sozialisation auch für die (früh geprägte) Wahrnehmung von und den Umgang mit Anderen/m und Fremden/m eine entscheidende Rolle, und in diesem Sinne auch für die Rezeption und das Verstehen literarischer Texte. Weitere Vorprägungen, wie z.B. eine „Gewöhnung“ an bestimmte narrative Textstrategien oder die wiederkehrende Begegnung mit bestimmten Figurentypen in gewissen literarischen Gattungen, tragen zur Ausbildung kulturspezifisch differenter Leserperspektiven und Lektüren bei. Dies wird besonders in interkulturellen Bildungskontexten eklatant, wo Leser mit fremdsprachigen und fremdkulturellen Texten konfrontiert und ihre Verstehensroutinen nicht mehr wie gewohnt anwendbar sind. Auf diese Zusammenhänge wird in den Abschnitten „Lesen in der Fremdsprache. Problem oder Chance der interkulturellen literarischen Rezeption und Interpretation?“ und „Fremde Literatur verstehen. Zur interkulturellen Hermeneutik und ihrer Rolle für die Vermittlungspraxis interkultureller Deutschstudien“63 noch im Einzelnen einzugehen sein.

62 Vgl. z.B. Heidenreich, Gert (2007): Vorwort. In: Ders. (Hrsg.): Schreiben in einer friedlosen Welt.

Berlin, S. 10. Dass die demokratische und liberale Verfasstheit einer Gesellschaft jedoch nicht zwingend und unbedingt zu Selbstbestimmtheit und Kritikfähigkeit der Bevölkerung führt, ist selbstverständlich.

63 Abschnitte III.1 und III.2

II. Zum Akt des Lesens unter kognitionspsychologischer und