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Zielsetzung, Anwendungsbereich und Adressaten

Depressive Störungen gehören zu den häufigsten Beratungsanlässen und Erkrankungen in der Versorgung [9]. Die Erforschung der Behandlungsmöglichkeiten hat in den vergangenen Jahren deutliche Fortschritte gemacht, dennoch bestehen in allen Bereichen der Versorgung von Patienten mit Depression Optimierungspotenziale, insbesondere hinsichtlich einer abgestuften und vernetzten Versorgung zwischen haus-, fachärztlicher und psychotherapeutischer Behandlung sowie der Indikationsstellung für ambulante und stationäre Behandlungsmaßnahmen und deren Abstimmung. Auf Seiten der behandelnden Akteure und der Patienten bestehen nicht selten Vorbehalte gegenüber evidenzbasierten Therapieverfahren, wie Pharmako- oder Psychotherapie, die eine suffiziente Behandlung erschweren [10].

Bei der Entwicklung von Leitlinien müssen die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung (Prinzipien der Evidenzbasierten Medizin) und Expertenwissen (klinische Erfahrung) mittels objektiver und nach-vollziehbarer Methodiken gleichermaßen berücksichtigt werden [11]. Leitlinien sind dynamische Handlungsempfehlungen, die kontinuierlich auf den neuesten Wissensstand aktualisiert werden müssen.

In den letzten Jahren ist weltweit eine große Zahl an Leitlinien und Behandlungsempfehlungen für depressive Erkrankungen entwickelt worden, die sich bzgl. ihrer Zielsetzung und ihres Umfangs, vor allem aber in ihrer methodischen Qualität deutlich unterscheiden [9; 12]. Daher stellt sich die Frage, warum für Deutschland eine spezifische Leitlinie erforderlich ist. Neben dem Aspekt, dass zur Erhöhung der Akzeptanz von Leitlinien der aktive Einbezug aller relevanten Akteure bei der konkreten Formulierung notwendig ist, lassen sich weitere Gründe anführen: unterschiedliche Gesundheitssysteme erfordern angepasste Maßnahmen und Empfehlungen, so dass der Einbezug nationaler Studien und Erkenntnisse notwendig ist, um gesellschaftliche und kulturelle Spezifika adäquat berücksichtigen zu können. Da die meisten versorgungsrelevanten Empfehlungen auf dem Konsens der relevanten Akteure basieren, ist es notwendig, die jeweilige Versorgungsstruktur explizit und systematisch einzubeziehen [13].

2003 wurde im Rahmen des Leitlinien-Clearingverfahrens Depression ein Maßnahmenkatalog zur Weiterentwicklung und Implementierung bereits publizierter Leitlinien formuliert [9]. Die in der vorliegenden Leitlinie angesprochenen Fragen und deren korrespondierende Empfehlungen orientieren sich an diesen im Clearingverfahren identifizierten Verbesserungspotenzialen.

Depressionsleitlinien in Deutschland

Für Deutschland waren die 1997 von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft für den hausärztlichen Bereich („Empfehlungen zur Therapie der Depression“) und die 2000 von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde für den fachärztlichen Bereich („Behandlungsleitlinie Affektive Störungen“; [14] herausgegebenen Leitlinien von Bedeutung. Beide Leitlinienpublikationen weisen allerdings Schwächen auf: a) kein systematischer Konsensprozess bei der Entwicklung; b) fehlende explizite Evidenzbasierung der Empfehlungen und c) Mangel an Umsetzungs-vorschlägen für die Praxis [12]. Eine grundlegend revidierte, evidenzbasierte Leitlinie der AkdÄ, die aber nicht im Nominalen Gruppenprozess (NGP) konsentiert wurde, liegt seit 2006 vor [15].

Für die ambulante Versorgung, insbesondere hausärztliche Versorgung, stehen seit 2003 die

„Versorgungsleitlinien zur Diagnostik und Therapie depressiver Störungen in der hausärztlichen Versorgung“

zur Verfügung [16]. Diese Versorgungsleitlinien entstanden im Rahmen des Kompetenznetzes Depression, Suizidalität in Modellprojekten zum ambulanten und stationären Qualitätsmanagement. Sie sind für die ambulante Versorgung auch wesentlicher Bestandteil des Anfang 2005 publizierten „Rahmenkonzept – Integrierte Versorgung Depression“, herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), und weiteren ärztlichen und psychologischen Fachgesellschaften bzw. Berufsverbänden [16].

Darüber hinaus liegen seit 2004 die Behandlungsleitlinien der World Federation of Societies of Biological Psychiatry (WFSBP) in deutscher Übersetzung vor. Die Leitlinie „Biologische Behandlung unipolarer depressiver Störungen“ richtet sich primär an Ärzte und enthält insbesondere Empfehlungen zu psychopharmakologischen und anderen biologischen Maßnahmen in der Akut- und Erhaltungstherapie sowie zur Rezidivprophylaxe. Die Behandlungsempfehlungen sind evidenzbasiert und wurden im Konsensverfahren von einer Gruppe von 46 internationalen Wissenschaftlern und Klinikern verabschiedet.

Für die psychotherapeutische Versorgung wurden einerseits von der Fachgruppe Klinische Psychologie und Psychotherapie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) „Evidenzbasierte Leitlinien zur Psychotherapie affektiver Störungen“ erstellt [17]. Andererseits wurden gemeinsame Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM), der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT), des Deutschen Kollegiums Psychosomatische Medizin (DKPM) und der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie (AÄGP), die primär die psychotherapeutische Behandlung von depressiven Erkrankungen beschreiben, publiziert. Letztere ist allerdings nicht mehr aktualisiert bzw. gültig. Beide Leitlinien haben einen Entstehungsprozess durchlaufen, der Stufe zwei der methodischen Empfehlungen der AWMF entspricht.1

Entwicklung der S3-Leitlinie Depression

Nach Abschluss des Leitlinien-Clearingverfahrens und der Arbeit mehrerer Fachgesellschaften an Depressionsleitlinien mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung war eine zentrale Aufgabe, einen Konsens verschiedener Akteure im Gesundheitswesen für Leitlinien zur Diagnostik und Therapie depressiver Erkrankungen herzustellen. Zu diesem Zweck koordinierte die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) seit Anfang 2005 ein Projekt zur Erarbeitung von S3-Leitlinien2 nach den Richtlinien der AWMF mit allen hierfür notwendigen ärztlichen und psychologischen Gruppierungen (Fachgesellschaften und Berufsverbänden) sowie Angehörigen- und Patientenverbänden.

Insgesamt waren 28 Fachgesellschaften bzw. Berufsverbände beteiligt.

Zentrales Anliegen der vorliegenden Leitlinie war die Bearbeitung des Maßnahmenkataloges aus dem Clearingbericht und die Entwicklung einer von Fachgesellschaften und Berufsverbänden gemeinsam abgestimmten evidenzbasierten Leitlinie „Unipolare Depression“. In diesem Zusammenhang wurden auch Empfehlungen hinsichtlich einer abgestuften und vernetzten Versorgung zwischen haus- und fachärztlicher

1 Nach AWMF Entwicklungsstufe 2: Formale Evidenzrecherche oder formale Konsensfindung = S2. Leitlinien werden aus formal bewerteten (evidence level) Aussagen der wissenschaftlichen Literatur entwickelt oder in einem der bewährten formalen Konsensusverfahren beraten und verabschiedet.

2 Nach AWMF Entwicklungsstufe 3: Leitlinie mit allen Elementen systematischer Entwicklung = S3. Die Leitlinienentwicklung der 2.

Stufe wird auf folgende fünf Komponenten erweitert: Logik, Konsensus, "Evidence-based Medicine", Entscheidungsanalyse, Outcome-Analyse.

sowie psychotherapeutischer Versorgung und der Indikationsstellung für ambulante, teilstationäre bzw.

stationäre Behandlungsmaßnahmen sowie für Implementierungs- und Evaluationsstrategien entwickelt.

Der Entwicklungsprozess dieser S3-Leitlinie war eng mit dem Programm für Nationale Versorgungs-Leitlinien (NVL) verknüpft, das von der Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) 2003 initiiert wurde. Im Rahmen des NVL-Programms werden auf der Basis evidenz- und konsensbasierter Leitlinien Empfehlungen formuliert, die für die Versorgungskoordination und eine nahtstellenübergreifende Evaluierung der Versorgungsqualität relevant sind. Die gleichzeitige Erstellung dieser S3-Leitlinie und der korrespondierenden NVL für Deutschland stellt ein Novum dar. Durch diese enge Kooperation sollen Synergien genutzt und soll eine optimale Verbindung zwischen evidenzbasierten Grundlagen und Praxisanforderungen erzielt werden [13].

Ziele

Ziele dieser Leitlinie sind:

 die Erkennung, Diagnostik und Behandlung von Depressionen in Deutschland zu verbessern;

 Schlüsselempfehlungen zu prioritären Versorgungsproblemen zwischen allen an der Versorgung beteiligten Gruppen unter Einbeziehung von Patienten- und Angehörigenvertretern abzustimmen, darzulegen und zu implementieren;

 die Empfehlungen entsprechend dem besten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse unter Berücksichtigung der Kriterien der Evidenzbasierten Medizin zu formulieren und zu aktualisieren;

 durch Einbeziehung aller an der Versorgung beteiligten Disziplinen, Organisationen und Patienten sowie dem darauf beruhenden umfassenden Konsens eine effektive Verbreitung und Umsetzung der Empfehlungen zu ermöglichen;

 die Versorgungsabläufe für depressive Erkrankungen über die verschiedenen Bereiche darzustellen, die dabei entstehenden Entscheidungssituationen zu benennen und das jeweilige Vorgehen der Wahl zu definieren;

 spezifische Empfehlungen hinsichtlich der Abstimmung und Koordination der Versorgung aller beteiligten Fachdisziplinen und weiteren Fachberufe im Gesundheitswesen zu geben;

 Besonderheiten des deutschen Gesundheitswesens zu identifizieren und darin begründete Prozessempfehlungen unter Berücksichtigung internationaler Literatur zu formulieren;

 Barrieren der Umsetzung der Leitlinien-Empfehlungen zu identifizieren und Lösungswege aufzuzeigen;

 auf die systematische Berücksichtigung der im Rahmen des Programms erstellten Empfehlungen in der Aus-, Fort- und Weiterbildung und in Qualitätsmanagementsystemen hinzuwirken.

Adressaten und Anwendungsbereich

Der Geltungsbereich dieser Leitlinie bezieht sich auf unipolare depressive Störungen, d. h. depressive Episoden (F32), rezidivierende depressive Störungen (F33), anhaltende affektive Störungen (hier nur:

Dysthymie, F34.1) und sonstige affektive Störungen (hier nur: rezidivierende kurze depressive Störung, F38.1) ab einem Behandlungsalter von 18 Jahren.

Die Empfehlungen der Leitlinie richten sich an:

 alle Berufgruppen, die mit der Erkennung, Diagnostik und Behandlung von Patienten mit unipolarer Depression befasst sind: Hausärzte (Fachärzte für Allgemeinmedizin bzw. hausärztlich tätige Fachärzte für Innere Medizin, praktische Ärzte), Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie bzw. Nervenheil-kunde, Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Ärzte mit Zusatzbezeichnung Psychotherapie und Psychoanalyse, Psychologische Psychotherapeuten, Kinder- und Jugendlichen-psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendpsychiater (sofern eine Behandlung vor dem 19. Lebensjahr begonnen wurde), behandlungsergänzende Fachberufe (z. B. Ergotherapeuten und Sozialarbeiter/

Sozialpädagogen/Soziotherapeuten);

 Fachkrankenhäuser und Fachabteilungen für Psychiatrie, Psychotherapie, Akut- und Rehabilitations-kliniken für psychosomatische Medizin sowie andere Rehabilitationseinrichtungen;

 an unipolaren depressiven Störungen erkrankte Erwachsene und deren Angehörige;

 Entscheidungsträger im Gesundheitswesen;

 die Öffentlichkeit zur Information über gute diagnostische/therapeutische Vorgehensweisen.

Darüber hinaus richtet sie sich zusätzlich auch an:

 die Vertragsverantwortlichen von „Strukturierten Behandlungsprogrammen“ und „Integrierten Versorgungsverträgen“ sowie

 die medizinischen wissenschaftlichen Fachgesellschaften und andere Herausgeber von Leitlinien, deren Leitlinien ihrerseits die Grundlage für NVL bilden.

Bei dieser Leitlinie handelt es sich – ebenso wie bei jeder anderen medizinischen Leitlinie – explizit nicht um eine Richtlinie im Sinne einer Regelung des Handelns oder Unterlassens, die von einer rechtlich legitimierten Institution konsentiert, schriftlich fixiert und veröffentlicht wurde, für den Rechtsraum dieser Institution verbindlich ist und deren Nichtbeachtung definierte Sanktionen nach sich zieht [3; 4].

Eine Leitlinie wird erst dann wirksam, wenn ihre Empfehlungen bei der individuellen Patientenversorgung Berücksichtigung finden. Sie muss vor ihrer Verwendung bei einem individuellen Behandlungsfall hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit auf regionaler oder lokaler Ebene überprüft und gegebenenfalls angepasst werden.

Die Entscheidung darüber, ob einer bestimmten Empfehlung gefolgt werden soll, muss unter Berücksichtigung der beim individuellen Patienten vorliegenden Gegebenheiten und der verfügbaren Ressourcen getroffen werden [3; 4].