• Keine Ergebnisse gefunden

Zielfeld: Lebensqualitätspolitik als Rahmen für Strukturpolitik

5 Ansatzpunkte einer zukunftsorientierten Politik für das Ruhrgebiet im Mehrebenensystem

5.5 Zielfeld: Lebensqualitätspolitik als Rahmen für Strukturpolitik

I Bedeutung für das Ruhrgebiet

In Zeiten eines durch Globalisierungsprozesse geprägten Wirt-schaftswandels müssen sich regionale institutionelle Settings stär-ker als früher dem Maßstab der Wettbewerbsfähigkeit unterord-nen. Regionen versuchen daher, sich im Vergleich zu anderen Standorten als attraktiv darzustellen. Dabei geht es darum, spezifi-sche Alleinstellungsmerkmale herauszustellen und eine Infrastruk-tur des lokalen Umfelds bereitzustellen, die sich im Standortwett-bewerb als vorteilhaft erweist. In diesem Sinne können Potenziale durchaus in einer Regionalisierung der Ökonomie und in einer Auf-wertung der Region als politisches Handlungsfeld gesehen wer-den, weil hier in räumlicher Nähe innovative Kooperationsbezie-hungen geknüpft werden können.

Wenn die Attraktivität des direkten Lebensumfeldes der Bewohner einer Region sinkt, kann dies zu einem Engpassfaktor für deren wirtschaftliche Entwicklung werden. Die von den bestehenden Un-ternehmen benötigten qualifizierten Ausbildungskandidaten, Fach-kräfte und auch Akademiker sind so schwer für eine Arbeit in der Region zu gewinnen. Auch für die Ansiedlung neuer Unternehmen droht sich dies zu einem dauerhaften Problem zu entwickeln. In diesem Sinne wird Lebensqualitätspolitik zu einem zentralen Standortfaktor. Für das Ruhrgebiet ist der im Vergleich zu anderen großstädtischen Ballungsgebieten bereits heute niedrige Anteil der Hochqualifizierten somit auch ein Ausdruck für die zuweilen nicht ausreichende Standortattraktivität für diese Arbeitskräfte. Die Ent-scheidung, sich in einer bestimmten Region anzusiedeln wird nicht nur durch den angebotenen Arbeitsplatz, sondern auch durch die Ausgestaltung des zukünftigen Wohnumfelds bestimmt. Daraus ist zu folgern, dass sich eine um Standortqualität bemühende Struk-turpolitik mit der Versorgung der Einwohner mit Freizeit-, Bildungs-, Wohn- und sonstigen Versorgungsangeboten des alltäglichen Le-bensbedarfs auseinandersetzt.

Eine gute Standort- und Lebensqualität besteht jedoch nicht ein-fach aus einer Reihung bestimmter Eigenschaften von Orten und Regionen, sondern sie entsteht aus spezifischen Konfigurationen dieser Eigenschaften, die zusammen für bestimmte Gruppen von Menschen ein sinnvolles Ganzes darstellen. Eine Lebensqualitäts-politik sollte nicht nur einzelne Dimensionen von Lebensqualität in den Kommunen des Ruhrgebiets verbessern, sondern sie sollte sich auf die Entwicklung von Milieus und Quartieren ausgerichtet sein, welche für qualifizierte Fachkräfte attraktiv sind. Versuche ei-nes solchen Ansatzes können in anderen Großstädten, wie z. B. in Hamburg beobachtet werden. Dort wird im Zusammenhang mit der Internationalen Bauausstellung versucht, den ehemals proletari-schen und heute überwiegend von Migranten und Transferleis-tungsempfängern bewohnten Stadtteil Wilhelmsburg für „kreative Milieus“ zu erschließen, ohne die ursprünglichen Bewohner zu ver-treiben. Ähnliche städte- und raumpolitische Maßnahmen waren auch Gegenstand der IBA Emscher Park, die jedoch unter ande-ren Voraussetzungen und Schwerpunktsetzungen gestartet und mit anderen Rahmenbedingungen konfrontiert war (vgl. Kapitel 4.1). Allerdings bilden qualifizierte Arbeitskräfte und die sogenann-ten Kreativen keine homogene Gruppierung mit einheitlichen Wer-ten, Einstellungen, Interessen und Ansprüchen. Qualifizierte Men-schen, die in urbanen Räumen leben, haben in mancher Hinsicht ganz andere Vorstellungen von Lebensqualität als diejenigen, die in ländlichen Räumen wohnen und arbeiten.

Generell ist diese Feststellung auch in der Bundespolitik angekom-men. Der aktuell initiierte Zukunftsdialog der Bundesregierung stellt folglich auch die Frage, was Lebensqualität für die Individuen in der deutschen Gesellschaft bedeutet und welche Konsequenzen sich hierdurch für politische Strategien ergeben. Dieser Weg des offenen Dialogs ist insbesondere in Bezug auf Themen wie Le-bensqualität notwendig, da jedwede „Festschreibung“, was unter Lebensqualität zu verstehen ist, die große Heterogenität innerhalb der Bevölkerung unterschätzt. Ebenso wie auf Bundesebene stellt sich auch für das Ruhrgebiet die Frage nach einer adäquaten und auf die gesellschaftlichen und individuellen Bedarfe abgestimmten Lebensqualitätspolitik. Die Gegenstände derartige Politiken diver-gieren jedoch stark zwischen und gar innerhalb verschiedener so-zialer Milieus, da individuelle Lebensqualität stets sehr subjektiv definiert wird. Weitere öffentliche Debatten und wissenschaftliche Untersuchungen hierzu sind daher zu begrüßen und können einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, bedarfsgerechte Strategien und Politiken zu etablieren.

Neben der oben angesprochenen Gruppe hochqualifizierter Be-schäftigter haben insbesondere die Analysen zur demografischen Entwicklung Handlungsbedarf signalisiert (vgl. Kapitel 3.1). Hierzu ist zu bemerken, dass das Ruhrgebiet auf Grund seiner Bevölke-rungsstruktur und den damit verbundenen Alterungsprozessen

Versorgungsformen angewiesen ist. Gerade in den Kernstädten des Reviers und in vielen weiteren Teilen der Region liegt der Altenquotient höher als im Landesdurchschnitt. Dies beschreibt ei-nen sich fortsetzenden Trend. Bei insgesamt schrumpfender Be-völkerung wird sich die Zahl der über 65-Jähringen und insbeson-dere die Zahl der Hochaltrigen über 85 Jahre bis 2030 mehr als verdoppeln. Die weiter oben präsentierten internationalen Fallbei-spiele haben in Bezug auf die Region Manchester im Vereinigten Königreich gezeigt, dass nicht alle altindustriellen Ballungsräume mit einer vergleichbaren Alterung der Bevölkerung konfrontiert sind, was wiederum auch andere Strategien nach sich zieht. Im Ruhrgebiet jedoch zeigt sich diesbezüglich eine weitaus stärkere Dynamik von gesellschaftlichen Alterungsprozessen und es spricht wenig dafür, dass sich dies in den kommenden Jahren und Jahr-zehnten grundlegend anders darstellen wird. Kurzum: Das Ruhr-gebiet ist gut beraten, nicht auf eine demografische Trendwende zu hoffen, sondern sich (pro-)aktiv mit den demografischen Verän-derungsprozessen auseinanderzusetzen. Hierzu gehört auch, der-artige Entwicklungen nicht ausschließlich als Standortnachteil und Defizit zu betrachten, sondern neue innovative Wege zu finden, um derartige Wandlungsprozesse gestaltbar zu machen.

Lebensqualitätspolitik kann daher ergänzende Funktionen in Be-zug auf eine klassische, regionale Strukturpolitik einnehmen.

Wenngleich derartige Ansätze selbstredend ihre Berechtigung ha-ben, so muss es neben den „klassischen“ Pfeilern strukturpolit-scher Bemühungen auch um neue Wege gehen, die strukturverän-dernd Rahmenbedingungen gestalten können und so eine Abkehr von der Fokussierung auf einige wenige Projekte darstellen. Er-gänzend zu den Bemühungen, durch die Förderung von innovati-ven Projekten und der Fokussierung auf wirtschaftliche Zukunfts-felder Impulse zu setzen, tritt der Versuch, Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass sich kreative Milieus und Innovationsfelder entwickeln und sich selbst tragende Innovationsprozesse in Gang kommen. Dies knüpft an Erkenntnissen Richard Floridas an, dass die traditionelle Standortpolitik, die auf die Attrahierung von Unter-nehmen sowie auf die Bildung von Produktionsclustern zielt, unzu-reichend sei. Seine Theorie verdeutliche (vgl. Florida 2005), dass die Stadt- und Regionalpolitik vielmehr darauf fokussieren sollte, für kreative Menschen ein attraktives Milieu der Offenheit und To-leranz zu schaffen („jobs follow people, not people follow jobs any-more“). Im Folgenden sollen daher Felder einer Lebensqualitäts-politik aufgezeigt werden. Die nachfolgend präsentierte Auswahl der Handlungsoptionen im Bereich Gesundheit und Wohnen sind dabei nicht als erschöpfend zu verstehen, sondern sollen exempla-risch Optionen einer solchen Politik skizzieren.

Problemlösendes Wachstum

Es ist wichtig zu betonen, dass unserem Verständnis nach Le-bensqualitätspolitik nicht ausschließlich auf weiche Standortfakto-ren bezogen (etwa Kultur- und Freizeitangebote, Naherholungsge-biete etc.), sondern vielmehr als Antwort auf individuelle und sozi-ale Herausforderungen gesehen werden muss, aus der auch wirt-schaftliche Impulse erwachsen können (vgl. Heinze/

Naegele/Schneiders 2011). Dies setzt jedoch die Bereitschaft vo-raus, weniger die Defizite gesellschaftlicher Wandlungsprozesse (im Ruhrgebiet etwa der Wegzug junger hochqualifizierter Arbeit-nehmer und die kollektive Alterung der Bevölkerung) als vielmehr mögliche Gestaltungsoptionen zu betonen. Hierbei darf nicht ver-gessen werden, dass oft auch Probleme und Schwächen einer Re-gion wichtige Innovations- und Wachstumspotenziale nach sich ziehen können. Möglich ist dies, wenn derartige Problemlagen durch starke Innovationen gelöst werden und die neuen Produkte und Dienstleistungen überregional handelbar sind sowie einen Vorbildcharakter für andere Städte und Regionen mit ähnlichen Herausforderungen darstellen. Es geht also in der Konsequenz da-rum, eine Strategie des problemlösenden Wachstums zu etablie-ren (vgl. Bogumil et al. 2012). Angemerkt sei an dieser Stelle, dass dies in den 1970er und 1980er Jahren schon einmal im Ruhrgebiet gelang, als der damalige Bundeskanzler Brandt forderte, der Him-mel über der Ruhr müsse wieder blau sein. Die sich hieraus entwi-ckelnden Strategien einer zukunftsorientierten Umweltpolitik haben damals nicht nur dazu geführt, dass Schadstoffbelastungen und andere negative Umwelteinflüsse reduziert und hiermit die Lebens-qualität in der Region gesteigert werden konnte, sondern auch zu spürbaren ökonomischen Impulsen geführt – sei es direkt durch eine expandierende Umweltindustrie oder indirekt durch eine hö-here Standortattraktivität (vgl. Brüggemeier et al. 2012).

Attraktivitätssteigerung des Wohn- und Lebensumfeldes für gut und höher qualifizierte Beschäftigte

Im Hinblick auf die Anforderungen an Arbeits- und Lebensbedin-gungen von gut qualifizierten Beschäftigten aus der gesellschaftli-chen Mitte sind dem Ruhrgebiet zum Teil Defizite und Imageprob-leme zu attestieren. Auch wenn diese Problemlagen teilweise auf überzeichnende Erzählungen über die „Malocher-Tradition“ des Reviers, die schon länger nicht mehr die realen Verhältnisse wi-derspiegeln, zurückgeführt werden können, sind die Auswirkungen eines so transportierten Bildes dennoch spürbar. Mangelnde Urba-nität und Lebensqualität führen dazu, dass qualifizierte Menschen aus dem Ruhrgebiet abwandern oder erst gar nicht herkommen.

Historisch begründet gab es im Ruhrgebiet hinsichtlich des Woh-nungsangebots sowie der Siedlungs- und Infrastruktur eine eher schwach ausgeprägte Orientierung an den Bedarfen bildungsna-her Mittelschichtsfamilien. Dies ist insofern problematisch, als dass