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zeitgenössischen afrikanischen Literatur

Im Dokument Christoph Spehr (Seite 123-129)

Ich will dort anfangen – mit jenen Worten, die die Macht haĴ en, die Felder mit einem Steakmesser zu verführen oder ein Krokodil zu reiten oder die Morgen-röte. Am Anfang stehen die frühen Praktiker des Fantastischen: die Hüter der mündlichen Erzählungen, die von Mund zu Mund gingen, von Ritual zu Ritual, von Sprichwort zu Sprichwort, von Brauch zu Brauch. Diese Erzählungen/Ge-schichten wurden benutzt um die Jugend zu unterrichten; darüber, was gut ist was böse ist was heroisch was beschämend ist. Die Erzählungen zeichnen das Gute als stets siegreich über das Böse, die Tugend triumphierend über das Ver-brechen. Zum Vorrat dieser anleitenden Instrumente zähl’ Volkslieder hinzu, Legenden, die talking drums, Beschwörungen, Gebete, Rätsel. Diese mündlichen Erzählungen mit ihrem Vorrat an nicht-menschlichen Figuren – Vögel, Löwen, Schildkröten, Wälder, Ströme, Bäume, Hühner, Ziegen etc. – zielen auf die begründenden Merkmale des GesellschaĞ lichen wie: soziale Gerechtigkeit, Demokratie, vorbildliche ElternschaĞ , Respekt gegenüber Älteren, Arbeit, Reinlichkeit, Freundlichkeit. Ob erzählt oder gesungen oder als Sprechgesang, die nicht-menschliche Besetzungsliste dieser Allegorien/Erzählungen wird ver-menschlicht, personifi ziert, animiert mit den handlungstreibenden Spannungen von Familie/Dorf/Stadt. Diese Art von Literatur herrschte bevor die Europäer in Afrika herumstreunten. Bevor die Europäer über Afrika stolperten. Bevor die Europäer ihre Versuche aufnahmen Afrika zu kolonisieren und seine Kulturen zu Tode zu quetschen. Ohne großen Erfolg ... Prä-Gutenbergsche, anonyme Ge-schichten-Erfi nder, Darbieter, Visionäre, Unterhaltungskünstler, Philosophen, Erzieher, Redner, griots, die die Wirklichkeiten und Träume ihrer GesellschaĞ en auf Touren bringen: Pioniere des Fantastischen in der afrikanischen Literatur.

Sie feiern Salz, Staub, Ameisenhügel, Yam.

In den Fußstapfen der Pioniere folgen SchriĞ steller, deren Werke als Bücher publiziert wurden, nachdem europäische Missionare Druckerpressen und Or-thografi e einführten (das westliche Alphabet). Einige Mitglieder dieser Phase fantastischer Literatur sind – D.N. Achara, der Ala Bingo schrieb; Pita Nwana, derOnenuko verfasste; Amos Tutuola, dessen beide frühen Romane, The Palm Wine Drinkard und My Life in the Bush of Ghosts (geschrieben in „Yoruba Eng-lisch“) von furchtlosen Helden handeln, die aus den Dörfern in den Busch wandern und vielfältige übernatürliche Begegnungen erleben; D.O. Fagunwa, Autor von The Forest of a Thousand Demons, das Wole Soyinka aus dem Yoru-ba ins Englische übersetzte. Die SchriĞ en all dieser Autoren wurzeln in den volkstümlichen/mündlichen Erzählungen. Ihre Werke sind ganz buchstäblich Ausweitungen mündlich erzählter Geschichten und betonen die spirituellen, irrationalen und rituellen Überzeugungen der traditionellen afrikanischen Umwelt. Vorherrschend in dieser nicht-kartesianischen Ethik sind Geschich-ten, die dem Leser die Abenteuer von Gespenstern, Geistern, Ungeheuern etc. vor Augen führen, die in Pfl anzen, Hügeln, Bäumen, Flüssen, Strömen hausen. Sie zeichnen das Bild der physischen Einheit von Mensch und Huhn und Hund und Regen und Baum. Eine holistische Idee von Existenz setzt sich durch/herrscht vor.

Einige dieser Erzählungen werden oě ensichtlich erzählt, um Frauen zu kon-trollieren und sie davon abzuhalten, das Patriarchat herauszufordern – in Szene gesetzt werden Frauen dabei hauptsächlich als Hexe, Alte, Hure, MuĴ er.

Ein Blick in eine Passage aus Amos TutuolasThe Palm Wine Drinkard gibt uns einen Eindruck vom Übernatürlichen:

„Als ich mit ihm eine Strecke von etwa zwölf Meilen zu diesem Markt zurückgelegt haĴ e, verließ der Herr die wirkliche Straße, auf der wir reisten und zweigte ab in einen endlosen Wald, und ich folgte ihm. Aber da ich nicht wollte, dass er sah, wie ich ihm folgte, benutzte ich einen Zauber der mich in eine Eidechse verwandelte. Nachdem ich mit ihm eine Strecke von etwa 25 Meilen durch diesen endlosen Wald zurückgelegt haĴ e, begann er sich all seiner Körperteile zu entledigen und gab sie ihren Besitzern zurück, und bezahlte dafür.“

(The Palm Wine Drinkard, S. 26)

Nach den großen Geschichtenerzählern betreten die zeitgenössischen afri-kanischen Fabulisten und Utopisten die Szene – Ben Okri,Kojo Laing,Syl Cheney Coker. Und so muss ich. Zur Quelle. Meines eigenen SchriĞ stellerle-bens. Gehen. Diese zeitgenössischen Word-Athleten lassen alle willkürlichen Grenzziehungen zwischen „Fantasy“ und „Realität“ hinter sich. Sie greifen aus in eine sehr universale Matrix. Jenseits des Ego. Jenseits des Stammes. Jenseits der Nation. Jenseits spekulativer Ideologien. Jenseits der korrupten Groteske.

Und ich kann nicht hinter die Schätze ihres Augenzwinkerns reichen. Ich breite

meine Verehrung und meine Furcht um ihre Schultern. Mit ihnen tanze ich die Dialoge ich tanze die Charaktere ich tanze die Beziehung ich tanze das Chaos ich tanze die Träume ich tanze die Krankheiten ich tanze das glücklichere Wohl-ergehen ich tanze die dunklen Verführungen ich tanze den Exzess. Umbauend, umdenkend, umgruppierend.

Ich rocke zu ihren textlichen und klanglichen Besessenheiten. Zu ihren Spiel-anleitungen fürs Aufgeben von Opferhaltungen. Zu den blauen braunen pink-farbenen Abdrücken der Gespenster von Pubertät Kindheit Erwachsensein. Mit ihren hingekritzelten LeidenschaĞ en begebe ich mich unter Deck und lege ab nach Wolkenkuckucksheim. Dahin, wo alles eins ist.

Ben Okri aus Nigeria ist die erste Station:

„Einer der Gründe warum ich nicht geboren werden wollte wurde mir deutlich, nachdem ich in die Welt gekommen war. Ich war immer noch sehr jung, als ich benommen sah, wie Dad von einem Loch in der Straße verschluckt wurde. Ein anderes Mal sah ich Mum von den Ästen eines blauen Baums hängen. Ich war sieben Jahre alt, als ich träumte, dass meine Hände mit dem gelben Blut eines Fremden getränkt waren. Ich haĴ e keine Ahnung, ob diese Bilder in dieses Leben gehörten, oder in ein früheres, oder in eines das noch kommen sollte, oder ob sie nur eine Armee von Bildern waren, die in den Geist aller Kinder einfallen.

Als ich sehr jung war, haĴ e ich eine klare Erinnerung an mein Leben, die sich auch auf andere Leben erstreckte. Es gab keine Unterscheidungen.“ (The Famished Road, S. 7)

Kostbar und golden ist die alternative Realität, die die labyrinthische Welt von Azaro wärmt – des Abiku-Kindes – eines Kindergeistes, der seine MuĴ er quält/

bestraĞ , indem er wieder und wieder stirbt und wieder geboren wird. Azaro – der Protagonist von The Famished Road – wandert hin und her zwischen Stra-ße und Busch/Wald und Madame Kotos Biersalon (Bar), zwischen spiritueller und menschlicher Welt, auf der Suche nach Wissen. Die Straße auf der Azaro geht, ist diejenige, die in den Dschungel führt, die westliche „Zivilisation“

und Technologie bringt, eine Bedrohung für die Geister, Hexen, Monster etc.

die dort herumtollen. Selbst Madame Kotos Bar ist ein Ort der Mutation, der Versuchungen, Abenteuer, wo sich Politiker, Gespenster, Auto, Grammofon und Abiku-Geister versammeln. Kein linearer Plot ordnet die Geschichte dieser Charaktere. Keine festgelegte Erzählzeit sperrt sie ein (die Zeit fl ießt hin und zurück zwischen Vergangenheit, Gegenwart, ZukunĞ ). Sie hausen in Welten der Transformation – alt und modern, vorsprachlich und sprachlich.

Wir nehmen Kurs auf die SchriĞ en von Kojo Laing aus Ghana, und ein anar-chistisches Universum von Witzen, Sprache, Charakteren, Gedanken, Visionen breitet sich aus. Ironische Zitate, Scherzfragen, ländliche und urbane Szenen, multiple Handlungsstränge, subversive Erzählkunst regieren seine Seiten.

Witze? Nimm diesen:

„Ah, hier kommt Kwaku der Entenmeister, der durch regelmäßiges Baden die heiligen Enten von allen Läusen gereinigt hat! Oh, und der Metallmann folgt ihm! Nehmt Platz und genießt das kühlste Wasser aus unserem Gefrierschrank, der beständig unsere Hüh-ner bei lebendigem Leib einfriert, wenn sie sich auf der Suche nach unseren Kornvorräten einschleichen, wann immer unsere sorglosen Kinder die Türe oě enlassen und zu spät wieder schließen. Die Wege GoĴ es zeigen sich oĞ in den Mysterien gefrorener Federn!“

(Woman of the Aeroplanes, S. 35)

Kojo Laing ist nichts heilig. Er bricht gewohnheitsmäßig die Regeln des Romans und der klassischen Erzählung. Er jagt seine Charaktere durch sein poetisches, fabulierendes Werk, ohne sie groß einzuführen. Sie springen hinein und heraus, aus Handlungen und Ereignissen, die buchstäblich keine Verankerung in den Geschichten haben, die gerade erzählt werden. Die Einwohner von Tukwan in Ghana und von Levensvale in SchoĴ land sind Unsterbliche und zügellos im Umgang mit ihren wissenschaĞ lichen Erfi ndungen, ihrer spirituellen Promis-kuität, ihren Liebesaě ären, ihren GeschäĞ en. Im Zuge eines absurden Tausch-geschäĞ s erwirbt Pokuaa, der Bürgermeister von Tukwan (einer Stadt voller

„Ziegen, Elefanten, Enten, Seen, Latrinen und Rechtsanwälte“) zwei Flugzeuge von Levensvale, während die SchoĴ en mit ihren Tweedanzügen, Dudelsäcken, LuĞ fahrern, Mooren, ihren HeidelandschaĞ en und ihrem Rotdorn, Palmnüsse und Cassava erhalten von den lärmenden, von missionarischem Eifer beseelten Ghanaern. Ziemlich schräg!

In den mit leidenschaĞ lichem Mut zum Bizarren, Stilisierten, Gewagten er-zählten Szenen von Woman of the Aeroplanes läßt Kojo Laing eine verwirrende Phalanx von Rhythmen, Bildern, Sounds, Slangs, Tiraden auf den Leser los. Mit seiner brillanten Technik dehnt er das Bewusstsein des Lesers aus und befähigt ihn, in Unter- und Überwelten und dazwischen zu leben. Sein Stil ist der eines überbordenden Einfallsreichtums, wie der folgende Auszug zeigt:

„Befreit von der Tyrannei der ererbten, zu engen Beine, haĴ e Kwame AĴ a einen neuen Gang entwickelt: bei jedem vierten oder fünĞ en SchriĴ dachte man, seine Beine kämen zu-sammen und kreuzten sich miĴ en in der LuĞ , und dann kehrten sie in perfektem Rhythmus zurück auf die wartende, springende Erde. Und seine Hände waren Liebende: sie hielten einander eng umschlungen, und dann zogen sie die Stadt zusammen, schaufelten Fleisch, Feste und Asphalt in seinen Kopf um zu sehen was Neues dabei herauskommen würde, selbst über sein ausgeprägtes Kinn.“ (Woman of the Aeroplanes, S. 29)

In ihm ist Afrika, die Karibik, die beiden Amerikas: Syl Cheney-Coker – Dich-ter, Romancier, Journalist aus Sierra Leone. All diese Regionen spiegeln sich in ihm und in seinem multi-Generationen-, multi-historischen, multi-ethnischen RomanThe Last HarmaĴ an of Alusine Dunbar. (Der HarmaĴ an ist der

staub-führender Wind in den Wintermonaten an der westafrikanischen Küste.) Der Roman beginnt in Afrika, nimmt den Weg über die middle passage (die Sklaverei) nach Amerika und wendet sich dann wieder zurück nach Afrika. Er verwebt die Geschichten der Gründerfamilien von Malagueta – die Farmer-Brüder, die Cromantines, Thomas Bookerman, Phyllis Dundas, die Martins – alles Sklaven, die nach Afrika zurückkehren und dort den Ursprung einer neuen Enklave bil-den. Sie kämpfen, heiraten und handeln mit den ursprünglichen Einwohnern in dem Teil Westafrikas, der zu Sierra Leone werden sollte, und brachten so seine hybride Bevölkerung hervor – die Kreolen.

Diese Familien stehen in Verbindung zum Hauptprotagonisten – dem enigma-tischen Sulaiman der Nubier, auch bekannt unter dem Namen Alusine Dunbar – einem Wanderer mit übernatürlichen KräĞ en, der die nomadischen, magi-schen, altertümlichen Ereignisse/Details des Romans vorhersieht. Ebenso mäch-tig und übernatürlich veranlagt ist seine Tochter, FatmaĴ a. Nach Norden und Süden eilt ihnen der Ruf ihrer Heldentaten voraus, ihrer Verfolgungen, ihrer Reisen zu Land und zu Wasser, ihres Inzests. Illusionen und Entzauberungen treě en aufeinander; Rechtschaě enheit kämpĞ gegen Tyrannei; anti-koloniale Kämpfe brechen aus gegen die Briten und die Araber; die Rückkehrer und die in Afrika Gebliebenen schlagen aufeinander ein, weil sie einander nicht trauen.

Ein utopisches Verteilungssystem, das von den Rückkehrern aufgebaut wird, wird zerstört durch die Gräuel des Kolonialismus. Am Ende des Unabhängig-keitskampfes übernehmen Afrikaner die Regierung/Macht. Gegen Ende des Buches werden die korrupten Afrikaner von der Elite der Gründerfamilien Malaguetas beiseitegefegt und eine „neue zivile Regierung“ wird installiert.

Aber die Tyrannei ist noch nicht besiegt, auch nicht unter der Regierung von Präsident Sanka Maru.

In diesem Gebräu aus Heldenlegenden an einem Ort, der an Freetown erinnert – heterogene Chraktere, Ex-Sklaven – belebt der Mythos die Geschichte, die Realität durchdringt die Sage, bilden Romantik und Missgeschick eine Einheit.

Politik und Prophetie ranken ineinander. Comic-artige Einsprengsel würzen die Meta-Erzählung:

„Als die Lichtstrahlen der Leuchthoden in dem dunklen Raum aufgingen, sah Alusine Dun-bar in den entfernten Rändern des umgebenden Waldes einen großen, einäugigen Mann, fl ankiert von einer schönen Frau und einem jungen Mann mit dem schmalen Gesicht eines Poeten. Hinter ihnen stand eine starke Gruppe schwer bewaě neter Männer. Und er sah im Staubwind einer anderen Zeit den Staub, den diese Leute aufgewirbelt haĴ en, als sie ihre Reise nach Malagueta begonnen haĴ en.“ (The Last HarmaĴ an of Alusine Dunbar, S. 305)

Es ist die großartige KraĞ der Farce, in die sich dieses fragmentierte, verwir-rende, subalterne, angsterfüllte Buch Syl Cheney-Cokers hüllt.

Als demjenigen, der zwischen den drei zuletzt vorgestellten Autoren steht, sei mir gestaĴ et, noch einmal die utopischen Züge hervorzuheben, von denen ihre Werke durchwirkt sind. Auf dass die hervorspringenden utopischen Eigen-schaĞ en und Leistungen ihrer idiosynkratischen, vielschichtigen Erzählwerke nicht im Unklaren bleiben:

xVorherrschaĞ von Paradox, Zweideutigkeit, Zweifel, Widerspruch x Lächerlichmachen des Staatsapparats und korrupter Politiker

x Werben für eine ZukunĞ des Friedens zwischen den Ethnien, der Gemein-samkeit, der Liebe

x Appell an die GesellschaĞ , KraĞ aus ihren Unsauberkeiten und ihren Rän-dern zu ziehen

x Spielerische Transformation – Humor, Farce, Gelächter x Entgrenzung von Personalität und Raum

x Freiheit, sich Ausdruck zu verschaě en – sozial, künstlerisch, politisch, spi-rituell

x Glaube an eine nicht-nationalistische Ethik x Streben nach oě enen Grenzen

x Neufassung traditioneller Erzählungen/Geschichten als machtvolle Instru-mente der Dekolonisation

x Eine gemeinsame AĜ nität zur lateinamerikanischen Literatur x Erzählerische Dissidenz.

Auch wenn sie keine nahtlose Einheit bilden, wirken die Elemente des Uto-pischen und Fantastischen in der zeitgenössischen afrikanischen Literatur als Instrumente und Schauplätze von Widerstand, gegen HerrschaĞ sansprüche einheimischer wie kosmopolitischer Natur. Es sind subversive Puzzles, Schach-züge gegen die einfachen Antworten.

Bibliografi e

Cheney-Coker, Syl: The Last HarmaĴ an of Alusine Dunbar. Heinemann Edu-cational Books, 1990.

Laing, Kojo: Woman of the Aeroplanes. William Heinemann Ltd., 1988 Okri, Ben: The Famished Road. Vintage, UK, 1992.

Tutuola, Amos: The Palm-Wine Drinkard. Faber and Faber Ltd., 1971

Cooper, Brenda: Magical Realism in West African Fiction. Routledge, London, 2001

Übersetzung: Christoph Spehr

Im Dokument Christoph Spehr (Seite 123-129)