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Zahlen zur Entwicklungshilfe zwischen Statistik und Politik

Vom Umgang mit handelspolitischen Konflikten während der Dekolonisation

8 Zahlen zur Entwicklungshilfe zwischen Statistik und Politik

Crumbs from the rich men’s table: Unter diesem plakativen und bildhaften Titel berichtete The Economist am 2. November 1968 über die aktuellen Aktivitäten des Entwicklungshilfekomitees der OECD. Beim DAC handle es sich um «one of those obscure committees where important decisions are taken», so die Ein-schätzung zu Beginn des Artikels; um einen «club where the rich discuss the plight of the poor».1 Mit der bisherigen Arbeit des DAC ging die Zeitschrift hart ins Gericht. Bezüglich einer Erhöhung der Entwicklungshilfe habe das Ko-mitee nicht einmal die bescheidenen Ziele erreicht, die es sich selbst gesetzt habe.

Begleitet war der Text von einem Säulendiagramm, in dem die Hilfsvolumina der einzelnen DAC-Mitgliedstaaten – gemessen an ihrem jeweiligen Bruttosozi-alprodukt – untereinander verglichen wurden (vgl. Abb. 5). Auf der Höhe von einem Prozent war in Grossbuchstaben «THE UNCTAD TARGET» markiert.

Einzig Frankreich und ganz knapp die Niederlande erfüllten demnach das Ziel, ein Prozent ihres Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfe aufzubringen. An-hand von Schraffierungen wurde in der Grafik zudem zwischen «öffentlicher»

und «privater» Entwicklungshilfe unterschieden.

Am Beispiel dieses Zeitungsartikels und der darin verwendeten statistischen Darstellung werden drei Punkte sichtbar, die für das vorliegende Kapitel rele-vant sind. Erstens ist der Artikel an sich Ausdruck einer zunehmend kritischen Stimmung gegenüber den Entwicklungshilfeaktivitäten in der OECD, die sich gegen Ende der 1960er-Jahre auch aus der Zivilgesellschaft heraus bemerkbar machte. Zweitens zeigt er exemplarisch, inwiefern solche Kritik anhand nume-rischer Indikatoren formuliert wurde: Der Artikel kritisierte, dass die allermeis-ten Geberstaaallermeis-ten das UNCTAD-Hilfsziel in der Höhe von einem Prozent des Bruttosozialprodukts nicht erreicht hätten. Anhand des Säulendiagramms wurde diesbezüglich Klarheit und Übersicht suggeriert. In ihrer Kritik an der OECD stützte sich The Economist – und das ist der dritte und letzte Punkt – ausgerech-net auf die statistischen Erzeugnisse ebendieser Organisation.

In diesem Kapitel geht es also um die Bedeutung von zahlenförmigen Ar-gumenten im Kontext des Nord-Süd-Konflikts. Es spannt einen Bogen von den späten 1950er- bis Mitte der 1970er-Jahre und folgt dabei einem spezifischen Thema: der Entstehung eines internationalen Zielwerts für Entwicklungshilfe.

Damit unterscheidet sich die Analyse von den bisherigen Kapiteln dieser Arbeit.

Während bislang einzelne, zeitlich lose aufeinander aufbauende Fallbeispiele aus der Geschichte der OEEC und der OECD behandelt wurden, handelt es sich im

1 Crumbs from the rich men’s table, The Economist, 2. November 1968, S. 78.

Folgenden um einen historischen Längsschnitt durch etwas mehr als eine De-kade. Dadurch sollen bereits behandelte Themen nochmals aus neuer Perspektive beleuchtet, miteinander verknüpft und um theoretische Tiefe erweitert werden.

Der internationale Zielwert für Entwicklungshilfe ist eine bis heute wirk-same Forderung, wonach die reichen Länder der Welt einen gewissen Prozent-satz ihres Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfe aufbringen sollten. Diese Vorgabe entstand im Lauf der 1960er-Jahre. Sie schuf eine moralische Erwar-tungshaltung, an der die einzelnen Geberländer, aber auch der Westen als imagi-niertes Kollektiv, fortan gemessen werden konnten.2 Die Entstehung eines sol-chen numerissol-chen Zielwerts strukturierte die Nord-Süd-Debatten während der 1960er-Jahre massgeblich, denn seine Höhe und Berechnungsgrundlagen waren Themen, über die im Rahmen von internationalen Organisationen hervorragend in wissensbasierter Form gestritten werden konnte. Mehrere Aspekte des Ziel-werts für Entwicklungshilfe – heute liegt die Vorgabe der UNO bei 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens3 – sind kulturhistorisch untersuchbar. Für ein

2 Vgl. Speich Chassé, Daniel: Streit um den Geldsack. Zahlen als politische Kommunikati-onsform über Entwicklungshilfe in der Schweiz, WerkstattGeschichte 58 (2011), S. 83; Pohl, Katharina; Speich Chassé, Daniel: Gut im Vergleich. Spannungen im norwegischen und im schweizerischen Entwicklungsdiskurs, in: ders.; Elmer, Sara; Kuhn, Konrad J. (Hg.): Hand-lungsfeld Entwicklung. Schweizer Erwartungen und Erfahrungen in der Geschichte der Ent-wicklungsarbeit, Basel 2015, S. 149.

3 Siehe beispielsweise den folgenden Artikel zur Evaluation der Schweizer Entwicklungshilfe durch das DAC für das Jahr 2012, Schöchli, Hansueli: Note 5 für Schweizer Entwicklungshilfe, Neue Zürcher Zeitung 35, 12. Februar 2014, S. 12. Darin wird festgehalten, dass die Schweiz Abb. 5: Ungenügende Hilfeleistung: The Economist stellte den DAC-Mitgliedstaaten mit dieser Darstellung 1968 ein schlechtes Zeugnis aus. Crumbs from the rich men’s table, The Economist, 2. November 1968, S. 78.

entscheidendes Element, das Bruttonationaleinkommen beziehungsweise das bis Ende der 1990er-Jahre geläufige Bruttosozialprodukt, hat dies Daniel Speich Chassé bereits ausführlich getan. Das Konzept der volkswirtschaftlichen Ge-samtrechnung entstand demnach in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und wurde in der Nachkriegszeit zu einem universellen Gradmesser für wirtschaftli-chen Wohlstand. Der Erfolg dieses Konstrukts hatte weniger mit seiner wissen-schaftlichen Raffinesse als mit seiner politischen Nützlichkeit zu tun. Gerade im Zuge der Dekolonisierung und der dabei in einem neuen Licht erscheinenden Ungleichheit zwischen Ländern des Südens und des Nordens war das Brutto-sozialprodukt ein äusserst wirksames Mittel, um in einer verworrenen Situation Komplexität zu reduzieren und Handlungsfähigkeit zu suggerieren.4

Im vorliegenden Kapitel steht die Geschichte der beiden anderen Kompo-nenten des Zielwerts für Entwicklungshilfe im Vordergrund: Wie entstand die Prozentzahl, die den für Entwicklungshilfe aufzubringenden Anteil am Brut-tosozialprodukt markiert? Und wie einigte man sich darauf, was überhaupt als Entwicklungshilfe gemessen werden sollte? Bis heute ist das Bereitstellen von Statistiken zum Volumen und zur Qualität von Entwicklungshilfe eine der Kern-aufgaben des Development Assistance Committee. In einem von der OECD herausgegebenen historischen Rückblick wird die Definition dessen, was in den Statistiken des Komitees als sogenannte «official development assistance», kurz ODA, angegeben werden darf, als «one of the major achievements of the DAC»5 bezeichnet. Geschichtswissenschaftlich erforscht ist dieser Vorgang hin-gegen kaum. In den letzten Jahren sind zwar mehrere Arbeiten aus der Feder von heutigen OECD-Mitarbeitern erschienen, diese beschreiben jedoch in erster Linie eine institutionelle Erfolgsgeschichte und geben vor allem einzelne Aus-handlungsschritte während der Definitionsfindung minutiös wieder.6 Auch die Entstehung eines numerischen Zielwerts für Entwicklungshilfe ist historisch bis-her wenig erforscht. Philipp H. Lepenies etwa untersucht in einem Aufsatz zur

«Politik der messbaren Ziele» zwar die Versuche, im Rahmen von OECD und UNO den Erfolg von Entwicklungshilfe anhand der Millennium Development Goals (MDG) statistisch mess- und in der Form von Zielvorgaben darstellbar zu machen, er interessiert sich jedoch nicht für die diesen Debatten vorgelagerten

zwar «gute Entwicklungshilfe» leiste, dass es aber noch mehr sein könnte. Mit einem Anteil von 0,45 Prozent am Bruttonationaleinkommen liege die Schweiz auf Rang 10 und nach wie vor un-ter dem Ziel der UNO von 0,7 Prozent.

4 Vgl. Speich Chassé: Die Erfindung des Bruttosozialprodukts, 2013.

5 Hynes, William; Scott, Simon: The Evolution of Official Development Assistance. Achieve-ments, Criticisms and a Way Forward, OECD Development Co-operation Working Paper 12, Paris 2013, S. 2.

6 Die Verabschiedung einer Recommendation on Financial Terms and Conditions durch das DAC im Jahr 1965 beschreibt Simon Scott bspw. als «formidable achievement», vgl. Scott, Simon: The accidental birth of «official development assistance», OECD Development Co-operation Working Paper 24, Paris 2015; siehe auch Hynes; Scott: The Evolution of ODA, 2013; OECD (Hg.): Measuring Aid, 2011.

Diskussionen rund um das Entwicklungshilfevolumen.7 Die Ökonomen Michael A. Clemens und Todd J. Moss wiederum nähern sich in einem Aufsatz von 2007 der Entstehung des Zielwerts für Entwicklungshilfe aus betont kritischer Pers-pektive, bedauern dabei aber vor allem dessen heutige Inadäquatheit. Sie weisen darauf hin, dass der Zielwert auf veralteten Entwicklungstheorien basiere und dennoch als Basis für aktuelle Debatten diene.8

Der Fokus in diesem Kapitel liegt nun auf den vielfältigen kommunikativen Funktionen, die der Zielwert für Entwicklungshilfe innerhalb des Nord-Süd-Konflikts erfüllte sowie auf den Effekten dieser Art des Sprechens in internatio-nalen und natiointernatio-nalen Räumen. Von besonderem Interesse ist dabei das Verhält-nis numerischer Indikatoren zu Vorstellungen von Faktizität: Wer konnte oder wollte anhand der im Zielwert enthaltenen Zahlen Objektivität und Wahrheit für sich beanspruchen und wann wurde dieser Anspruch in Zweifel gezogen?9 Und wie gestaltete sich dabei in der Wahrnehmung der Akteurinnen und Ak-teure die Beziehung zwischen Statistik und Machtpolitik? Zur Beantwortung dieser Fragen blickt die Analyse in einem ersten Schritt auf die Produktion frü-her Entwicklungshilfestatistiken im Rahmen der OEEC. Anschliessend verfolgt das Kapitel die Entstehung eines numerischen Zielwerts für Entwicklungshilfe ab Ende der 1950er-Jahre, um sich im Anschluss der 1969 vom DAC verabschie-deten Definition von Official Development Assistance zu widmen. Zwei weitere Unterkapitel drehen sich um internationale Debatten zwischen 1970 und 1975, in denen der Zielwert für Entwicklungshilfe als Orientierungspunkt und Kom-munikationsmedium diente. Der Fokus liegt auf der damals noch im Entstehen begriffenen Schweizer Drittweltbewegung.

Für die frühe Phase der 1960er-Jahre arbeite ich in diesem Kapitel vor allem mit Quellen aus den britischen National Archives. Es handelt sich dabei um Kor-respondenz der Treasury und des Colonial Office. Für die Jahre zwischen 1968 und 1970, in denen sich das Komitee für Entwicklungshilfe um eine Definition von ODA bemühte, konzentriere ich mich auf Dokumente, die in den Beständen des Delegierten für technische Zusammenarbeit im Schweizerischen Bundesar-chiv überliefert sind. Gegen Ende beziehe ich mich schliesslich auf einen von Hans K. Schmocker und Michael Traber verfassten Bericht zu einer Drittwelt-konferenz, die im März 1970 in Bern stattfand.

7 Vgl. Lepenies, Philipp H.: Die Politik der messbaren Ziele. Die Millennium Development Goals aus gouvernementalitätstheoretischer Sicht. Lehren aus der Fixierung globaler Entwicklungsin-dikatoren, in: Müller, Franziska; Sondermann, Elena; Wehr, Ingrid; et al. (Hg.): Entwicklungs-theorien. Weltgesellschaftliche Transformationen, entwicklungspolitische Herausforderungen, theoretische Innovationen, Baden-Baden 2014, S. 200–224.

8 Vgl. Clemens, Michael A.; Moss, Todd: The Ghost of 0.7 Per Cent. Origins and Relevance of the International Aid Target, International Journal of Development Issues 6 (2007), S. 3–25.

9 Vgl. hierzu auch Rottenburg; Merry: A World of Indicators, 2015, S. 12–15.

8.1 Erste Definitionsversuche: das Entwicklungsland und die Entwicklungshilfe

Im März 1961 und somit wenige Monate vor dem Übergang der Organisation zur OECD veröffentlichte die OEEC eine Studie mit dem Titel The Flow of Fi-nancial Resources to Countries in Course of Economic Development, 1956–1959.

Sie war während des Vorjahres im Rahmen der Development Assistance Group, der institutionellen Vorgängerin des DAC, vorbereitet worden. Der Ökonom Angus Maddison, der Anfang der 1960er-Jahre für ebendieses Gremium als Se-kretär arbeitete, erinnert sich in seinen Memoiren wie folgt an die Entstehung des Dokuments:

«I became the secretary of the Development Assistance Group, a forerunner of the development aid activities to be carried out by the new organisation.

The first task was to set up a comprehensive statistical monitoring system to measure the flow of different categories of financial resources to developing countries […]. Most of the countries had no comprehensive view of such flows.

We could get a rough aggregate cross-check from balance of payments statistics but we had to go to central banks, finance ministries, export credit agencies, the World Bank and IMF to break down the different categories. […] This first report (The Flow of Financial Resources to Countries in Course of Economic Development) was carried out at breakneck speed and published in April 1961.

It set the main guidelines which the Development Assistance Committee still uses for collecting data from its Member countries.»10

Maddison stellt die Entstehung des OEEC-Berichts im Rückblick als eine hektische Mess- und Sammelaktion dar, die eine systematische Übersicht über grundsätzlich bereits Bestehendes schaffen sollte. In nationalen Ministerien und internationalen Institutionen bereitliegende Informationen – so die Erzählung – wurden anhand eines eigens dafür erarbeiteten statistischen Rasters erhoben. Das Resultat waren Tabellen, in denen der Fluss von finanziellen Ressourcen aus den reichen Staaten in die Entwicklungsländer in Form von einstelligen Zahlen reprä-sentiert war. Sie wurden in der Studie von 1961 abgebildet und erlaubten erstmals einen direkten numerischen Vergleich zwischen den Hilfszahlungen der einzel-nen Geberländer (vgl. Abb. 6). Separate Tabellen für jedes Jahr von 1956 bis 1959 gaben zudem einen Eindruck der zeitlichen Entwicklung.11

10 Maddison, Angus: Confessions of a Chiffrephile, Banca Nazionale Del Lavoro Quarterly Re-view 189 (Juni 1994), S. 138 f. Die Studie erschien bereits im März 1961 und wurde Mitte dieses Monats in der Presse rezensiert, vgl. hierzu auch die Einleitung dieses Buchs. Als offizieller Er-scheinungsmonat gilt aber der April 1961.

11 Vgl. OEEC (Hg.): The Flow of Financial Resources to Countries in Course of Economic De-velopment, 1961, S. 12 f.

Die in der OEEC-Studie abgebildeten Statistiken vermitteln einen Eindruck der Übersicht und Ordnung. Der Blick ins britische Nationalarchiv zeigt jedoch, dass hinter den hier sauber aufgelisteten Zahlen, die in «halsbrecherischer Ge-schwindigkeit», wie Maddison im Rückblick schreibt, zusammengetragen wor-den waren, viele Unklarheiten und auch einiges an Konfliktpotenzial steckten.

So mussten etwa in einem ersten Schritt die Länder definiert werden, die über-haupt als Empfänger von solchen Finanzflüssen infrage kamen. Dazu stellte eine Arbeitsgruppe der Development Assistance Group im August 1960 eine nach Kontinenten aufgeteilte «List of Under-Developed Countries» zusammen, die anschliessend den einzelnen OEEC-Mitgliedstaaten zur Prüfung vorgelegt wurde. Wie das Schreiben eines Treasury-Mitarbeiters an das Colonial Office zeigt, sorgte die Liste in London für Klärungsbedarf:

«As you know, there is a proposal afoot for the regular reporting […] of assis-tance given […] to under-developed countries. Such countries are shown in a draft list […]. I attach a copy of this list and should be glad if you would let me have Colonial Office comments; e. g. (1) Gibraltar obviously will have to be added to Europe, (2) is there any likelihood of development assistance being Abb. 6: Übersicht in Zahlen: Diese Tabelle zeigte erstmals das Total aller

Hilfszahlungen aus den OEEC-Staaten zugunsten von Entwicklungsländern.

OEEC (Hg.): The Flow of Financial Resources to Countries in Course of Economic Development, Paris 1961, S. 12.

provided for Gough, Inaccessible or Nightingale, (3) would you prefer that the territories in the Federation of Rhodesia and Nyasaland are not listed sepa-rately, (4) have any other Colonial territories in receipt of assistance (or which might in the future receive assistance) been omitted, etc.»12

In seinem Antwortschreiben wog W. A. Ward, der zuständige Mitarbeiter im Co-lonial Office, die Einordnung und Benennung der einzelnen KoCo-lonialterritorien vorsichtig ab. Neben jedes der britischen Territorien setzte er entweder ein Häk-chen oder – wenn ihm etwas unklar oder erklärungsbedürftig schien – ein Aus-rufezeichen oder Kreuzchen. Dem fügte er schriftliche Erklärungen hinzu, wo-nach etwa Gough, Inaccessible und Nightingale von der Liste gestrichen werden sollten. Wie der Name «Inaccessible» andeutet, sind die mitten im atlantischen Ozean liegenden Inseln nur schwer erreichbar und, wie Ward in seinem Schrei-ben klarstellte, unbewohnt. Bezüglich der Föderation Rhodesien und Njassaland verwies er die Treasury an das Commonwealth Relations Office.13 Streitbar er-schien die Liste aus der Perspektive des Kolonialministeriums vor allem in Bezug auf Britisch-Kamerun. Dort wäre, so Ward, auch eine separate Aufführung als

«Northern Cameroons and Southern Cameroons»14 denkbar gewesen, doch hielt er es unter den gegebenen Umständen für vorteilhafter, eine solche Trennung nicht vorzunehmen. Mit seiner Bemerkung verwies Ward auf die aktuelle Situa-tion im von Grossbritannien verwalteten UNO-Treuhandgebiet in Zentralafrika, in dem ein wegweisender Volksentscheid bevorstand. Die vormals deutsche Ko-lonie Kamerun war während des Ersten Weltkriegs von französischen und briti-schen Kolonialtruppen eingenommen und danach in zwei unterschiedlich grosse Völkerbunds-Mandatsgebiete aufgeteilt worden. Vier Fünftel des Gebiets gingen an Frankreich, der Rest an Grossbritannien. In den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kämpften nationalistische Bewegungen, etwa die 1955 ver-botene Union des populations du Cameroun (UPC), für die Unabhängigkeit und Wiedervereinigung Kameruns. Im Februar 1961, ungefähr ein halbes Jahr nach der hier untersuchten Korrespondenz zwischen Treasury und Colonial Office, entschied sich die mehrheitlich muslimische Bevölkerung im nördlichen Teil Bri-tisch-Kameruns per Plebiszit für einen Beitritt zu Nigeria, während sich der süd-liche Teil mit der aus Französisch-Kamerun hervorgegangenen Republik Kame-run zusammentat.15 Die Zurückhaltung von Colonial-Office-Mitarbeiter Ward im August 1960 ist vor diesem politisch brisanten Hintergrund zu verstehen. Die separate Auflistung eines nördlichen und eines südlichen Teils Kameruns in ei-nem international verfügbaren Dokument wäre einer politisch potenziell heiklen Aussage gleichgekommen. Das Beispiel deutet einmal mehr an, dass die durch

12 TNA CO 852/1922, Treasury (J. C. Drown) an Colonial Office (W. A. Ward), 23. August 1960.

13 Siehe hierzu auch Kapitel 3.2 dieser Arbeit.

14 TNA CO 852/1922, Colonial Office (W. A. Ward) an Treasury (J. C. Drown), 25. August 1960.

15 Vgl. Torrent, Mélanie: Diplomacy and National-Building in Africa. Franco-British Relations and Cameroon at the End of Empire, London, New York 2012; Awasom, Nicodemus Fru: The Reunification Question in Cameroon History. Was the Bride an Enthusiastic or a Reluctant One?, Africa Today 47/2 (2000), S. 91–119.

internationale Zusammenarbeit notwendig werdende Benennung von territori-alen Grenzen mitten im Dekolonisierungsprozess eine diffizile Angelegenheit war, in welcher der zur Verfügung stehende Spielraum umsichtig genutzt wurde.

Auch im OEEC-Rat sorgte die «List of Under-Developed Countries» für Verwirrung. So sah sich der türkische Delegierte an einer Sitzung vom 8. Juli 1960 zur Nachfrage veranlasst, ob sein Land als Mitgliedstaat der OEEC denn tatsächlich zu den Entwicklungsländern gezählt werde, was von J. Flint Cahan, dem stellvertretenden Generalsekretär der Organisation, bejaht wurde.16 Wie Kapitel 4 dieser Arbeit gezeigt hat, sorgte die durch die Entwicklungsidee entste-hende konzeptuelle Nähe zwischen aussereuropäischen und europäischen Ge-bieten in der OEEC Anfang der 1960er-Jahre für Unbehagen.17 Die Frage, welche Staaten als Entwicklungsländer gelten sollten, blieb aber auch in späteren Jahren umstritten. So hiess es etwa in einem DAC-Dokument von 1968, dass es ein positives Signal aussenden würde, wenn gelegentlich ein Land von der offiziellen OECD-Liste der Entwicklungsländer gestrichen werden könnte. Zwar diene die Liste in erster Linie «statistischen Zwecken», sie habe aber auch «politische Im-plikationen». Wenn nun Länder von der Liste wegfielen, könne dies signalisieren, dass man Fortschritte erzielt habe und dass «Entwicklung» zwar eine langfris-tige, nicht aber eine unendliche Aufgabe sei.18 Ebenfalls für eine Überarbeitung sprach, dass die UNO-Institutionen für ihre Statistiken andere Listen verwende-ten als die OECD, was zu Verwirrung und Missverständnissen führte.19 Eine Re-vision schien der zuständigen DAC-Arbeitsgruppe grundsätzlich möglich, denn die OECD-Liste unterlag, wie im Dokument des Komitees festgehalten wurde, keinen präzisen Kriterien, sondern war «rather pragmatically»20 zusammenge-stellt worden. Dennoch entschied sich das DAC im Jahr 1968 gegen eine Überar-beitung. Zu gross seien die «statistical, conceptual and political difficulties»,21 die eine Revision mit sich bringen würde, hiess es.

In Hinblick auf die 1961 veröffentliche OEEC-Studie gab es allerdings noch ein weiteres, mindestens so kontroverses Problem wie die Bestimmung der soge-nannten Entwicklungsländer. Es stellte sich nämlich die Frage, was in der Studie über die «financial resources to countries in course of economic development»

inhaltlich eigentlich überhaupt gemessen wurde. In einem Dokument des Colo-nial Office vom September 1960 hiess es dazu:

16 Vgl. TNA CO 852/1922, «Council, Minutes of the 474th Meeting held on 8th July 1960», C/M(60)18(Prov.), 19. Juli 1960, S. 11.

17 Siehe auch Schmelzer: A Club of the Rich to Help the Poor?, 2014, S. 175.

18 CH-BAR E2005A#1980/82#1267*, t.831-2 Band II, «The Geographic Coverage of ‹Less-veloped Countries›. DAC Ad Hoc Group on Statistical Problems», DAC/STAT(68)6, 31. De-zember 1968, S. 2.

19 Konkret ging es um mehrere europäische Staaten (Zypern, Griechenland, Malta, Spanien, die Türkei und Jugoslawien), welche die OECD als Entwicklungsländer aufführte, die UNO aber nicht, vgl. ebd., S. 3.

20 Vgl. ebd., S. 4.

21 Ebd. S. 2.

«[…] the object of the study is to show clearly and comprehensively what ‹aid›

«[…] the object of the study is to show clearly and comprehensively what ‹aid›