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Die Pflicht zum Bericht: Wissensproduktion zwischen Antikolonialismus und europäischem Wiederaufbau

Als im Frühjahr 1948 die OEEC gegründet wurde, war das soziale und wirt-schaftliche Leben in Europa noch stark von den Ereignissen des Zweiten Welt-kriegs geprägt. Nebst unfassbaren menschlichen Verlusten − Tony Judt nennt die Zahl von 36,5 Millionen Personen, die zwischen 1939 und 1945 allein in Europa dem Krieg zum Opfer fielen − waren auch immense Schäden an Infrastruktur und Wirtschaft entstanden. Zerstörte Städte und Verkehrslinien mussten neu aufgebaut und die Industrieproduktion wieder in Gang gebracht werden. Von den Erfahrungen des Krieges gezeichnet, litten viele Menschen an Hunger und Krankheiten.1 Als US-Aussenminister George C. Marshall am 5. Juni 1947 die Errichtung eines amerikanischen Hilfsprogramms für Europa ankündigte, wurde dieser Schritt daher als wichtiges Mittel gegen eine mögliche Machtübernahme durch kommunistische Parteien in westeuropäischen Ländern verstanden.2

Nicht nur in Europa drohten aber in den Jahren nach 1945 soziale und poli-tische Konflikte. In vielen der Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent streik-ten nach dem Ende des Zweistreik-ten Weltkriegs Arbeiterinnen und Arbeiter, Bäuerin-nen und Bauern. Zurückgekehrte Soldaten, die im Namen ihrer Kolonialmacht gekämpft hatten, forderten im Gegenzug mehr politische Selbstbestimmung und soziale Absicherung. In den Strassen von Accra kam es im Februar 1948 zu Ausschreitungen, die zu landesweiten Unruhen führten. Das Eisenbahnwesen in Französisch-Westafrika stand zwischen 1947 und 1948 fünf Monate lang still und auch in weiteren Kolonien, etwa in Südrhodesien oder Sansibar, streikten die Mi-nen- und Hafenarbeiter.3 In Asien führten starke Unabhängigkeitsbewegungen sowie europäische Territorialverluste während des Krieges in den meisten Fällen zu einem baldigen Ende der kolonialen Herrschaft. Britisch-Indien zerfiel 1947 mit der Gründung der beiden Staaten Indien und Pakistan. Die Unabhängigkeit Burmas und Ceylons folgte im Jahr 1948.4 In Niederländisch-Indien hatte eine Nationalbewegung das im Weltkrieg von Japan besetzte Gebiet bereits 1945 für unabhängig erklärt. Nach einer partiellen militärischen Rückeroberung akzep-tierten die Niederlande die Unabhängigkeit Indonesiens Ende 1949 schliesslich offiziell.5 Diese und weitere Ereignisse in Asien führten jedoch, wie Frederick Cooper betont hat, bei europäischen Kolonialpolitikern keineswegs zu einem

1 Vgl. Judt, Tony: Postwar. A History of Europe Since 1945, New York 2005, S. 13–40.

2 Vgl. Milward, Alan S.: The Reconstruction of Western Europe, 1945–51, London 1984, S. 4.

3 Vgl. Cooper, Frederick: Africa since 1940. The Past of the Present, Cambridge 2002, S. 20–37;

siehe auch Cooper, Frederick: Labor, Politics, and the End of Empire in French Africa, in:

Colonialism in Question. Theory, Knowledge, History, Berkeley, Los Angeles, London 2005, S. 204–230.

4 Vgl. Jansen; Osterhammel: Dekolonisation. Das Ende der Imperien, 2013, S. 12–64.

5 Zur Bedeutung des Marshallplans für den niederländischen Rückzug aus Indonesien vgl. Eng,

Ende imperialer Ambitionen. Vielmehr sollten die Verluste in Asien über eine Intensivierung der kolonialen Herrschaft in Afrika wettgemacht werden.6 Da-bei befand man sich in einer Zwickmühle: Die Ereignisse im Zweiten Weltkrieg hatten den Kolonialismus zwar in seinen moralischen Grundmauern erschüttert, zugleich aber den Wert menschlicher und materieller Ressourcen aus den Kolo-nien eindrücklich bewiesen. Europäische Politikerinnen, Diplomaten und Ver-waltungsangestellte sahen sich daher in den Jahren nach 1945 dazu veranlasst, den Kolonialismus als Konzept gegen alle Widerstände neu zu sichern und zu legitimieren.7

Im eben skizzierten, von wirtschaftlicher Not und politischen Unsicherhei-ten geprägUnsicherhei-ten historischen Kontext ist dieses Kapitel angesiedelt. Es befasst sich mit der Gedankenwelt und dem Aktionsradius einer kleinen Zahl von Mitarbei-tenden in den europäischen Kolonialministerien, die sich ab Oktober 1948 regel-mässig im Rahmen der OEEC in Paris trafen und dort einen Umgang mit den angesprochenen Entwicklungen zu finden suchten. Die Arbeit dieser Leute war wenig spektakulär. Den Herausforderungen ihrer Zeit versuchten sie in erster Linie mit dem Verfassen von seitenlangen Berichten beizukommen. Gerade der Blick in diesen betont technischen Raum des internationalen Austauschs bietet aber – so die These des Kapitels – wichtige Perspektiven auf historische Aus-handlungs- und Wandelprozesse.

Die folgende Analyse fokussiert insbesondere auf Diskussionen im briti-schen Kolonialministerium, dem Colonial Office, die anhand von Quellenma-terial aus den National Archives in Kew rekonstruiert werden. Im Mittelpunkt stehen dabei drei OEEC-Berichte, die in den beiden ersten Jahren des Bestehens der Organisation entstanden und die sich mit den europäischen Kolonialgebie-ten befassKolonialgebie-ten. Es sind dies ein im Herbst 1948 produzierter Zwischenbericht zur Rolle der Kolonien im europäischen Wiederaufbau, ein 1949 zuhanden von UNO-Generalsekretär Trygve Halvdan Lie verfasster Bericht über technische Hilfe sowie mehrere Teilstudien, die 1949 als Reaktion auf eine Anfrage des amerikanischen Amts zur Verwaltung des Marshallplans, der Economic Coope-ration AdministCoope-ration (ECA), erstellt wurden. Anhand der Entstehung dieser Dokumente sollen Funktionen und Effekte des Berichteschreibens im kolonialen Kontext der späten 1940er-Jahre beleuchtet werden. Das Argument ist, dass die Praxis des Berichteschreibens den Delegierten aus den europäischen Kolonialmi-nisterien einerseits eine Möglichkeit bot, das unter Druck geratene Konzept des Kolonialismus zu legitimieren, dass die Produktion von Berichten aber zugleich neue Konflikte und Problemfelder schuf. Diese hingen mit den

Herausforderun-Pierre van der: Marshall Aid as a Catalyst in the Decolonization of Indonesia, 1947–49, in: Le Sueur, James D. (Hg.): The Decolonization Reader, New York, London 2003, S. 121–138.

6 Vgl. Cooper, Frederick: Reconstructing Empire in British and French Africa, in: Mazower, Mark; Reinisch, Jessica; Feldman, David (Hg.): Post-war reconstruction in Europe. Internag-tional Perspectives, 1945–1949, Oxford, New York 2011, S. 199.

7 Vgl. ebd., S. 196.

gen des europäischen Wiederaufbaus sowie mit sich wandelnden Vorstellungen von kolonialer Herrschaft zusammen.

In einem ersten Schritt wird in der Folge der ideologische Kontext skizziert, in dem die OEEC-Arbeit zu den europäischen Kolonialgebieten vonstattenging.

Danach widme ich mich der Entstehung der drei genannten Berichte und un-tersuche die jeweils sehr unterschiedliche Bedeutung, die ihnen angesichts eines unter Druck stehenden Kolonialismuskonzepts zukam.

2.1 Afrika und der Wiederaufbau Europas

Aus heutiger Perspektive erscheint die Unterscheidung zwischen Europa und Af-rika trennscharf. Es dominieren die Kontraste zwischen den beiden Kontinenten, deren Aussengrenzen in der europäischen Wahrnehmung höchstens von als be-drohlich wahrgenommenen «Flüchtlingsströmen» infrage gestellt zu sein schei-nen.8 Gerade das gegenwärtige Bedürfnis, in diesem Kontext auch sehr reale und physische Schranken zu errichten, verweist aber auf einen gemeinsamen Raum der Begegnung und Aushandlung. Wie Martin W. Lewis und Kären E. Wigen gezeigt haben, ist die Imagination von klar definierten kontinentalen Grenzen und Einhei-ten ein historisch gewachsenes Konstrukt.9 In der Vergangenheit gab es denn auch Konzeptionen, in denen Europa und Afrika als übergreifender, gemeinsamer Raum wahrgenommen wurden. Eine solche spiegelt sich auch in der Arbeit der OEEC.

In der Convention for European Economic Co-operation, mit der am 16. Ap-ril 1948 die OEEC begründet wurde, sind die europäischen Kolonialgebiete ex-plizit erwähnt. Artikel 2 besagte, dass sich die unterzeichnenden Staaten individu-ell und gemeinsam mit aller Kraft für «the development of production» einsetzen würden, und zwar «through efficient use of the resources at their command, whether in their Metropolitan or Overseas Territories».10 Auf der Grundlage dieses Artikels beschloss das Executive Committee der OEEC am 4. Oktober 1948 die Gründung einer Arbeitsgruppe für Überseegebiete.11 Vertreten waren in diesem Gremium Belgien, Frankreich, Grossbritannien, die Niederlande und Portugal – also alle OEEC-Mitgliedstaaten mit Kolonialbesitz in Afrika,

8 Für historische Perspektiven auf europäische Afrikabilder siehe z. B. Menrath, Manuel (Hg.):

Afrika im Blick. Afrikabilder im deutschsprachigen Europa, 1870–1970, Zürich 2012; «Afrika-nische» Vorstellungen von Europa sind hingegen weniger gut untersucht. Ansätze gibt es bei Förster, Till: «Greener Pastures». Afrikanische Europabilder vom besseren Leben, in: Kreis, Georg (Hg.): Europa und Afrika. Betrachtungen zu einem komplexen Verhältnis, Basel 2010, S. 59–78.

9 Vgl. Lewis, Martin W.; Wigen, Kären E.: The Myth of Continents. A Critique of Metageogra-phy, Berkeley 1997.

10 OEEC (Hg.): Convention of European Economic Co-operation, Paris, 1948, www.cvce.eu/

obj/convention_for_european_economic_cooperation_paris_16_april_1948-en-769de8b7-fe5a-452c-b418-09b068bd748d.html [28. 9. 2015].

11 OECD-AR, «Terms of Reference of the Overseas Territories Working Group», CE(48)90, 4. Oktober 1948.

amerika, Asien oder der Karibik mit der Ausnahme von Italien und Spanien. Das ein UNO-Mandat zur Verwaltung von Somalia innehabende Italien wurde 1950 Mitglied des späteren OEEC-Komitees für Überseegebiete, Spanien mit seinen zwei nordafrikanischen Exklaven sowie den Kolonialgebieten in der Westsahara und Äquatorialguinea erst beim Beitritt des Landes zur OEEC im Jahr 1959.12

Im Rahmen der im Herbst 1948 gegründeten OEEC-Arbeitsgruppe für Über-seegebiete galten die europäischen Kolonien als selbstverständliche Bestandteile Europas. Unter Europa wurden dabei die Mitgliedstaaten der OEEC verstanden, was unter anderem den stillschweigenden Ausschluss Osteuropas aus der Imagi-nation dieses Kollektivs bedeutete.13 Auftrag der Arbeitsgruppe war es, die Rolle abzuklären, welche die Kolonialgebiete im europäischen Wiederaufbau einnehmen könnten. Dabei orientierte man sich hauptsächlich am wirtschaftlichen Problem der Dollarknappheit: Da die europäische Industrie stark vom Krieg geschädigt oder auf Kriegswirtschaft ausgerichtet war, mussten 1948 noch viele Güter aus den Vereinigten Staaten importiert und in Dollar bezahlt werden. In die Dollarzone ex-portieren konnte man hingegen kaum.14 Von den «Überseegebieten», wie die Ko-lonien auf internationaler Ebene mittlerweile genannt wurden, erhoffte man sich da entscheidende Impulse: Der Export von kolonialen Produkten in die USA sollte die dringend benötigten Dollars in die europäischen Kassen spülen. Zudem wollte man die europäischen Importe aus den Kolonien auf Kosten solcher aus den USA erhöhen und damit Dollars sparen. Zu diesem Zweck schien eine verstärkte Zu-sammenarbeit unter den Kolonialmächten nötig. Der Austausch von technischem Wissen sowie der Aufbau grenzüberschreitender Verkehrsinfrastruktur sollten eine Produktivitätssteigerung in den Kolonien befördern.15

Die Idee, wonach koloniale Kooperation in Afrika die Situation Europas verbessern sollte, war nach dem Zweiten Weltkrieg keineswegs neu. Sie schloss an Debatten an, die innerhalb der politischen und intellektuellen Eliten Europas bereits während der Zwischenkriegszeit geführt worden waren. Vor dem Hinter-grund der katastrophalen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs entstand damals die Vorstellung eines den europäischen und den afrikanischen Kontinent

12 Vgl. Schreurs, Rik: A Marshall Plan for Africa? The Oversesas Territories Committee and the Origins of European Co-operation in Africa, in: Griffiths, Richard T. (Hg.): Explorations in OEEC History, Paris 1997, S. 87 sowie Fussnote 4.

13 Zum Verschwinden «Osteuropas» aus der Wahrnehmung der Westeuropäerinnen und Westeu-ropäer siehe Judt: Postwar, 2005, S. 195 f.; sowie Wolff, Larry: Die Erfindung Osteuropas. Von Voltaire bis Voldemort, in: Kaser, Karl; Gramshammer-Hohl, Dagmar; Pichler, Robert (Hg.):

Europa und die Grenzen im Kopf, Klagenfurt 2003, S. 21–34.

14 Vgl. Asbeek Brusse, Wendy: Liberalising Intra-European Trade, in: Griffiths, Richard T. (Hg.):

Explorations in OEEC History, Paris 1997, S. 124.

15 Vgl. Cooper: Reconstructing Empire in British and French Africa, 2011; Schreurs: A Marshall Plan for Africa?, 1997; van der Eng: Marshall Aid as a Catalyst in the Decolonization of Indo-nesia, 1947–49, 2003; White, Nicholas J.: Reconstructing Europe through Rejuvenating Em-pire. The British, French, and Dutch Experiences Compared, in: Mazower, Mark; Reinisch, Jessica; Feldman, David (Hg.): Post-war Reconstruction in Europe: International Perspectives, 1945–1949, Oxford, New York 2011, S. 211–236.

den Raums namens Eurafrika, der als dritte geopolitische Kraft neben Asien und Amerika das Gleichgewicht der Welt wiederherstellen sollte. Afrika erschien in diesem Zusammenhang als natürlicher Teil von Europas Sphäre, als riesige land-wirtschaftliche Anbaufläche sowie als Reservoir für Bodenschätze und Wasser-kraft. Zudem versprachen die als menschenleer imaginierten Gebiete südlich des Mittelmeers die Lösung für ein als dringlich empfundenes Problem: jenes der europäischen Überbevölkerung.16 Der japanisch-österreichische Schriftsteller Richard Coudenhove-Kalergi, der mit seiner Paneuropabewegung während der 1920er-Jahre und darüber hinaus die Debatten um eine europäische Einigung entscheidend prägte, formulierte diese Hoffnungen in seiner Zeitschrift Pan-europa im Jahr 1929 wie folgt:

«Europa ist der Kopf Eurafrikas – Afrika dessen Körper. Die Zukunft Afrikas hängt davon ab, was Europa daraus zu machen weiss.

Afrika könnte Europa Rohstoffe für seine Industrie, Nahrungsmittel für seine Bevölkerung, Siedlungsraum für seine Überbevölkerung, Arbeitsmöglichkeit für seine Arbeitslosigkeit, Märkte für seinen Absatz bieten.

Europa aber könnte Afrikas Urwälder roden, seine Steppen bewässern, seine Bodenschätze heben, seine Seuchen ausrotten, seine Bevölkerung erziehen, seine Wasserkräfte ausbauen, sein Gebiet dem Weltverkehr erschliessen.

So bildet Afrika in vieler Hinsicht die natürliche und ideale Ergänzung Eu-ropas.»17

Die hier geäusserten Erwartungen basierten in entscheidender Weise auf der ko-lonialen Imagination von Afrika als einem passiven, leeren und geschichtslosen Kontinent, der europäische Bedürfnisse erfüllen konnte.18 Sie waren aber auch mit einer etwas ungewöhnlichen Konzeption von Kolonialismus verbunden: Das koloniale Projekt sollte hier nicht nur nationale Interessen befördern oder der Zivilisierung Afrikas dienen, sondern auch in entscheidender Weise die Zukunft Europas sichern.19 Im Sinne der Paneuropabewegung würde das gemeinsame Kolonisieren Afrikas die Grundlage bilden für eine verstärkte politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa.20

16 Vgl. Hansen, Peo; Jonsson, Stefan: Eurafrica. The Untold History of European Integration and Colonialism, London, New York 2014, S. 28.

17 Coudenhove-Kalergi, Richard Nikolaus: Afrika, Paneuropa 5/2 (1929), S. 3.

18 Vgl. Hansen; Jonsson: Eurafrica, 2014, S. 43.

19 Vgl. Coudenhove-Kalergi: Afrika, 1929, S. 4.

20 Vgl. Hansen; Jonsson: Eurafrica, 2014, S. 31, 41. Jüngere Forschungsliteratur hat in der Asso-ziierung von französischen Überseegebieten durch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Laufe der 1950er-Jahre eine Konkretisierung dieser Vorstellungen gesehen, vgl. etwa Dimier: Bringing the Neo-Patrimonial State back to Europe, 2008; Hansen, Peo; Jonsson, Ste-fan: Bringing Africa as a Dowry to Europe, Interventions. International Journal of Postcolo-nial Studies 13 (2011), S. 443–463. Die Eurafrika-Idee überzeugte dabei aber nicht nur europä-ische Politiker, sondern auch Exponenten der afrikaneuropä-ischen Elite wie beispielsweise Léopold Sédar Senghor, vgl. Atlan, Catherine: A l’aube de la francophonie. Senghor et l’idée d’Euraf-rique, o. D., www.cercle-richelieu-senghor.org/index.php?option=com_content&view=ar-ticle&id=63 [10. 12. 2016]; Senghor, Léopold Sédar: Place de l’Afrique dans l’Europe unie.

Dis-Die Eurafrika-Vorstellungen der Zwischenkriegszeit hatten bisweilen uto-pische Qualität. Am offensichtlichsten war dies beim Atlantropa-Projekt des deutschen Architekten Herman Sörgel. Mit grossem Ernst und Einsatz warb er für die Idee, bei der Meeresenge von Gibraltar sowie zwischen Sizilien und Tripolis zwei gigantische Dämme zu bauen und damit den Mittelmeeresspiegel längerfristig je nach Gebiet um 100 bis 200 Meter abzusenken. Dadurch sollten enorme Flächen für die Landwirtschaft gewonnen werden. Wasserkraftwerke an den Mündungen aller grossen Flüsse hätten ganz Europa mit Energie versor-gen sollen. Mit der überzähliversor-gen Energie wollte Sörgel zudem das Wasser aus dem Kongofluss über ein Kanalsystem in den Tschadsee pumpen, um damit die Sahara zu bewässern. Eine Eisenbahnverbindung von Berlin bis Kapstadt sowie eine auf dem neugewonnenen Land im Mittelmeer erbaute Stadt sollten dem Projekt schliesslich die Krone aufsetzen.21

Wie Peo Hansen und Stefan Jonsson festgehalten haben, war die nach dem Zweiten Weltkrieg wiederauflebende Konzeption von Eurafrika weit weniger vi-sionär und utopisch. Sie ging in die Hände von neu gegründeten internationalen Organisationen wie der NATO, dem Europarat, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle- und Stahl oder eben der OEEC über, wo sie in betont problemorien-tierter Atmosphäre anhand wissenschaftlicher Studien weiterverfolgt wurde. Die eurafrikanische Idee habe es ermöglicht, meinen Hansen und Jonsson, logische Verbindungen zwischen der Notwendigkeit von kolonialer Kooperation und spezifischen Herausforderungen wie etwa dem westeuropäischen Dollardefizit zu ziehen.22 Trotz der pragmatischeren Herangehensweise waren ideologische Aspekte aber auch in der Nachkriegszeit von Bedeutung; etwa die Idee, dass eine Zusammenarbeit der Kolonialmächte in Afrika ein politisches und wirtschaftli-ches Gegengewicht zu den USA schaffen würde. Zugleich stieg die Bedeutung der USA als politischer und wirtschaftlicher Partner der europäischen Staaten.

Entsprechend argumentiert John Kent in seiner Studie zur Internationalisierung des Kolonialismus, dass sich europäische Politiker in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg typischerweise zweifach in der Welt verorteten: einerseits im koloni-alen Grossraum Eurafrika, der Europa und Afrika vereinte, und andererseits als Teil eines Europa und die USA umfassenden Westens.23 Im Spannungsfeld dieser beiden globalen Referenzrahmen bewegte sich auch die frühe koloniale Arbeit der OEEC.

cours à l’assemblée nationale, séance du 9 juillet 1949, in: Liberté 2. Nation et voie africaine du socialisme, Paris 1971, S. 60–64.

21 Vgl. Gall, Alexander: Das Atlantropa-Projekt. Die Geschichte einer gescheiterten Vision. Her-man Sörgel und die Absenkung des Mittelmeers, Frankfurt am Main 1998; Hansen; Jonsson:

Eurafrica, 2014, S. 60–63; Laak, Dirk van: Detours around Africa. The Connection between De-veloping Colonies and Integrating Europe, in: Badenoch, Alexander; Fickers, Andreas (Hg.):

Materializing Europe, Basingstoke 2010, S. 32 f.

22 Vgl. Hansen; Jonsson: Eurafrica, 2014, S. 74 f.

23 Vgl. Kent, John: The Internationalization of Colonialism. Britain, France, and Black Africa, 1939–1956, Oxford 1992, S. 169.

2.2 Kolonialismus legitimieren: Der Interim Report von 1948

Am 12. Oktober 1948 fand im Pariser Quai d’Orsay Nummer 53, einem Art- déco-Gebäude in unmittelbarer Nähe zum französischen Aussenministerium, die erste Sitzung der OEEC-Arbeitsgruppe für Überseegebiete statt. Als Prä-sident der Gruppe eröffnete der Franzose Georges Peter das Treffen mit einer längeren Ansprache und beschwor in eindringlichen Worten einen europäischen

«ésprit colonial»:

«Nous disons en France que les coloniaux forment une grande famille et je pense qu’il est assez exact de dire que les Européens qui ont servi sous les Tro-piques ou sous l’Equateur ou qui ont la charge des populations vivant sous ces latitudes constituent également un groupe d’hommes préoccupés par les mêmes soucis, animés du même idéal et ayant une façon de comprendre ces problèmes qui les rapproche sur un plan de camaraderie et je dirai même d’amitié.»24

Diese verwandtschaftlichen Bande, die kameradschaftlichen und freundschaftli-chen Gefühle unter den Kolonialherren seien bitter nötig, führte Peter aus, denn die Arbeitsgruppe stehe vor grossen Aufgaben. Das Bemühen, im Rahmen der OEEC die Kooperation unter den Kolonialmächten zu zentralisieren, stehe in direktem Widerspruch zu Entwicklungen in den Überseegebieten, denen zuneh-mend politische, wirtschaftliche und finanzielle Kompetenzen übertragen wür-den.25 Angesichts der wachsenden Autonomie in den Kolonien sei ein verstärk-tes Zusammenstehen der Kolonialmächte zugleich besonders wichtig wie auch besonders heikel. Keinesfalls dürfe etwa die gemeinsame Arbeit in der OEEC als «exploitation commune des territoires d’outre-mer» oder als «nouvel impéri-alisme colonial» 26 aufgefasst werden. Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, dass bei der kolonialen Kooperation die Bedürfnisse der europäischen Metropolen im Vordergrund stünden. Vielmehr müsse der Fokus, so Peter, auf den Interessen der Überseegebiete liegen:

«Nous devons, au contraire, tenir le plus grand compte des intérêts des terri-toires d’outre-mer et envisager les programmes à long terme dans le but d’amé-liorer la richesse et le progrès économique et social de leurs populations et en même temps d’apporter une contribution efficace à l’équilibre économique de l’Europe et du monde. Une économie viable en Europe ne peut être obtenue que si les territoires d’outre-mer réalisent eux-mêmes leur équilibre.»27

Peters Aussagen machen deutlich, dass sich die in der OEEC zusammenkommen-den Mitarbeitenzusammenkommen-den der europäischen Kolonialministerien unter Beobachtung fühlten. Nicht nur wuchs in den Kolonien und den Metropolen der antikoloniale Widerstand, auch in internationalen Gremien wie der UNO- Generalversammlung

24 TNA CO 537/3172, «Groupe de Travail des Territoires d’Outre-Mer, Compte rendu de la 1ère Séance, 12 octobre 1948», OTWG/Misc(48)2, 12. Oktober 1948, S. 2.

25 Vgl. ebd.

26 Ebd., S. 3.

27 Ebd.

wurden nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend moralische Einwände gegen den Kolonialismus geäussert.28 Die Angst, als kolonialer «White Man’s Club»

wahrgenommen zu werden, bestimmte dementsprechend die Aktivitäten der

wahrgenommen zu werden, bestimmte dementsprechend die Aktivitäten der