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Die Wissenspolitik von Pilotprojekten

Im Dokument Politik in der digitalen Gesellschaft (Seite 48-54)

Viele der vorweg beschriebenen Dynamiken von Pilotprojekten und Experimen-ten lassen sich an diesen schwedischen Smart-Grid-Beispielen nachvollziehen – die Bedeutung öffentlicher Demonstrationen für die Schaffung von Legitimität für diese Technologien, aber zugleich auch für die Wahrnehmung und das Image der jeweiligen Städte und Regionen als umwelt- und innovationsfreundlich; die Be-deutung von solchen Experimenten in der Verschiebung oder Verfestigung von Akteurs- und Machtkonstellationen, insbesondere die Positionierung der bisher etablierten Akteure in einem transformierten Energiesystem; die Bedeutung der Partizipation unterschiedlicher Akteur*innen in diesen Projekten, aber zugleich auch der Versuch, dieser Involvierung einen engen Rahmen zu setzen und nur ei-ne selektive Auswahl von Themen und Akteur*inei-nen zuzulassen. In diesem Sinn sind solche Tests ebenso ein Versuch sozio-materielle Verhältnisse zu rekonfigu-rieren und nicht nur die Anwendbarkeit von Technologien zu testen, wie sie ein wichtiges Element verändertercivic epistemologiesals institutionalisierte Praktiken der Wissensgenerierung und Legitimation darstellen.

In diesem Sinn lässt sich durchaus von einer Wissenspolitik bzw. allgemein einer Politik von Experimenten sprechen, da das Format von Experimenten Wis-sensgenerierung auf spezifische Weise prägt und spezifische Räume für Politik in diesem Prozess öffnet: die Temporalität von Experimenten etwa, mit dem Druck kurzfristig Ergebnisse und Erfolge zu generieren, die öffentlich bezeugt werden können; die Einbettung der Experimente in lokale Kontexte mit dem gleichzeiti-gen Anspruch (und Dilemma) einer Generalisierbarkeit der Ergebnisse; die Adres-sierung unterschiedlicher Öffentlichkeiten; die Generierung spezifischer Narra-tive durch Experimente; die Rahmung von Experimenten als öffentlich-privates Projekt, bei welchem kommerzielle Unternehmen nicht selten eine führende Rolle einnehmen; oder die Entpolitisierung der Wissenserzeugung durch ihre Fragmen-tierung in eine große Zahl neutraler Experimente im Gegensatz zu einer politisch motivierten (und anfechtbaren) Orientierung auf bestimmte infrastrukturelle Ver-änderungen. Wie auch Hodgson et al. (2019) feststellen, stellt die Projektifizierung der öffentlichen Verwaltung eine Möglichkeit dar, Verantwortung für Ergebnisse auf untergeordnete Ebenen zu delegieren, aber dabei implizit die politische Steue-rungsmöglichkeit und Kontrolle zu behalten. Aber auch die unhinterfragte Annah-me, dass eine Digitalisierung des Energiesystems zu mehr Nachhaltigkeit beiträgt, wird durch diese Experimente eher befestigt als getestet. Dem Experiment voran-gehende Wissensansprüche und Erwartungen werden performativ, wie auch van Oers et al. (2020) am Beispiel von ›smart mobility‹ Projekten argumentieren. Ex-perimente sind durch bestimmte institutionelle Bedingungen und soziale Prakti-ken der Wissenserzeugung gePrakti-kennzeichnet, die zur Festigung spezifischer Wis-sensordnungen beitragen (Jasanoff 2004), wie auch in anderen Feldern festgestellt

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wurde (siehe etwa Goldman 2001 über den Beitrag von Projektevaluationsmecha-nismen der Weltbank zur Entstehung bestimmtertruth regimes; oder wissenskon-figurierende Praktiken in städtischen Infrastrukturprojekten in Jensen et al. 2018).

Auf diese Weise werden bestimmte Elemente eines neuen Energiesystems sichtbar bzw. ›wissbar‹ gemacht, während andere im Hintergrund und unsichtbar verblei-ben.

Hochinteressant an den vorgestellten Smart-Grid-Experimenten ist aber auch, welche Unterschiede innerhalb dieser experimentellen Formatierung von Wissens-ordnungen sichtbar werden. Die Art von Wissen, die generiert wird, die Akteur*in-nen, die sich dieses Wissen in erster Linie zunutze machen, die Wege der Zirku-lation dieses Wissens durch bestimmte Netzwerke, unterscheiden sich zum Teil maßgeblich zwischen diesen Projekten.

Das Stockholm Royal Seaport Experiment als städtischer ›Innovation hub‹

zeichnet sich durch einen Fokus auf produkt-orientierte Wissensgenerierung durch private Firmen aus, die zu einer ökologischen und klimafreundlichen Stadtentwicklung beitragen und Stockholm zu einem Ort der Entwicklung und des Exports solcher Produkte machen sollen. Im Wesentlichen wird dieses Wissen privat angeeignet bzw. soll (z.B. in Form von kompetenten Arbeitskräften) in regionalen Firmen- und Innovationsnetzwerken (industrial districts) zirkulieren.

In Bezug auf eine Transition zu nachhaltigeren Infrastrukturen ist die Wis-sensgenerierung relativ fragmentiert und wenig zwischen Infrastrukturakteuren koordiniert. Neben dem Aufbau von Innovationsnetzwerken soll durch dieses Wissen zu Smart Grids vor allem das Image einer ökologischen und innovativen Stadt projiziert werden.

Das Smart-Grid-Experiment in Malmö ist im Gegensatz dazu wesentlich stär-ker von kooperativer öffentlich-privater und auf Infrastrukturentwicklung fokussierter Wissensentwicklung geprägt. Auch wenn die Wissensgenerierung und -aneignung im Smart-Grid-Experiment vor allem auf E.ON als privaten Infrastruk-turbetreiber beschränkt ist, gibt es eine enge Koordination mit kommunaler Um-weltpolitik und kommunalen Planungsprozessen, genauso wie über den Umwelt-kontrakt weitere Akteur*innen (z.B. Immobilienentwickler) in den Prozess inte-griert und auf kommunale Zielsetzungen verpflichtet werden. Auch die weitere Wissenszirkulation – die Ausweitung der smarten Fernwärmeversorgung auf be-stehende Stadtviertel – erfolgt in enger Abstimmung und Zusammenarbeit mit der Stadt Malmö. Über Malmö hinaus werden die neuen Entwicklungen vor allem innerhalb des Konzerns E.ON zirkuliert. Auch ist das Wissen, das in diesem Expe-riment entsteht, neben der Entwicklung der spezifischen Gebäudeschnittstellen, viel mehr systemisch auf die Entwicklung von smarten kommunalen Infrastruk-turplattformen hin orientiert.

Vor allem das Beispiel Västerås zeigt jedoch, dass Wissensgenerierung in Expe-rimenten völlig anders organisiert werden kann. Mit ETC als Sozialunternehmen

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und der starken Involvierung unterschiedlicher Akteur*innen, inklusive der finan-ziellen Beteiligung über Crowdfunding, zielt die Wissensgenerierung vielmehr auf die Integration unterschiedlicher Kompetenzen, auf die Entwicklung von Kollabo-rationsprozessen undsystem buildingab, aber auch auf die Herstellung ökologischer Milieus auf Gebäudeebene. Wissensentwicklung und Aneignung ist hier stärker als kollektiver Prozess organisiert und das entstandene Wissen soll weiteren inter-essierten Akteur*innen zur Verfügung gestellt werden. Wie in den obengenann-ten Beispielen ist die Art der Wissensgenerierung, -aneignung und -zirkulation eng mit den sozio-technischen Konstellationen und Akteursrelationen, zu deren Entwicklung das Experiment beiträgt, verbunden. Für solche alternativen experi-mentellen Konstellationen und damit verbundene Wissenspolitiken gibt es auch internationale Beispiele wie etwa Barcelona, wo durch einen Regierungswechsel die Konfiguration von Smart City Experimenten von einem neo-liberalen, Smart City-Branding vornehmlich zur Attraktion von Kapital und Investitionen hin zu von Stadtteil-Aktivismus geprägten Experimenten für neue Formen des Zusam-menlebens verschoben wurden (de Hoop et al. 2018).

›The promise of smart grids‹, wie Lovell (2019) einen Artikel tituliert, wird in der Praxis nur selten eingelöst, davon zeugt inzwischen auch eine reichhaltige Litera-tur zur Analyse der sozialen und politischen Konsequenzen der tatsächlich stattfin-denden Implementierung von Smart Grids und Smart Cities. Die Governance die-ser sozio-technischen Veränderung über Experimente kann in diesem Zusammen-hang durchaus als Strategie verstanden werden, mögliche Konflikte zu entschärfen und zu entpolitisieren. In diesem Sinn sind Experimente in hohem Maß kompa-tibel mit neo-liberalen Governancestrukturen, wo sich der Staat aus vielen Politik-feldern weitgehend zurückzieht und das Handeln etablierten ökonomischen Ak-teur*innen überlässt bzw. Verantwortung individualisiert, was nicht zuletzt durch einen Diskurs der Responsibilisierung von Individuen durch Smart Grids unter-strichen wird. Dennoch scheint es zu einfach, Experimente auf diese Dimension zu reduzieren, wie unsere Fallbeispiele zeigen. Angesichts der Herausforderung komplexer Umweltproblemen und ihrer Integration mit sozio-politischen Fragen scheint eine Rückkehr zu einer hierarchischen Politikimplementierung schwer vor-stellbar. Die Gestaltung solcher Veränderungsprozesse erfordert einen ergebnis-offenen Zugang, der Ausprobieren und Korrigieren,Bricolageund Tinkeringund das Lernen in Anwendungskontexten ermöglicht (Schmidt 2017). Experimentelle Zugänge scheinen mit unterschiedlichen sozio-politischen Governancekontexten kompatibel zu sein. Es geht also nicht nur darum, die Politik, die durch Experimen-te umgesetzt wird zu entpacken, sondern auch das Design von ExperimenExperimen-ten als politisches Terrain zu entdecken. Experimente bergen durchaus auch das Potential für eine Demokratisierung sozio-technischer Veränderungen. Dies erfordert eine neue Experimentalkultur (ibid.) und in diesem Zusammenhang eine mehr ›refle-xive Wissenspolitik‹ (Wehling 2004) als neue Form der politischen Gestaltung des

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sozialen Umgangs mit Wissen. Oder, wie Marres (2020) fordert, eine Umwidmung der Zwecke und Kontexte vonreal-world tests, um breitere soziale Themen und Dy-namiken auf den Prüfstand zu stellen, die durch den Einsatz neuer Technologien ans Licht gebracht werden.

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