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Wirtschaften im Zeitalter der Industrialisierung

Die These, dass sich das »ganze Haus« der Vormoderne im Laufe des 19.  Jahrhunderts in seine Bestandteile aufgelöst habe, beschäftigte Generationen von Historikerinnen und Historikern. Wie die familien-geschichtlichen Forschungen der vergangenen Jahrzehnte jedoch ge-zeigt haben, bedarf sie in verschiedener Hinsicht einer Korrektur.1 Das Ideal der Kleinfamilie aus Eltern und Kindern konnte sich vor dem frühen 20. Jahrhundert höchstens ansatzweise durchsetzen. Und auch für spätere Zeiträume ist eine Differenzierung zwischen norma-tiven Vorstellungen und gelebtem Alltag angebracht. Ebenso kann für das 19.  Jahrhundert von einer weitgehenden Aufteilung zwischen männlicher Erwerbsarbeit einerseits und einem »klar abgetrennten

›privaten‹ Haushalt unter der Leitung der Frau« andererseits besten-falls für Teile des städtischen Bürgertums die Rede sein.2 Auch wenn manche zeitgenössischen Stimmen solche Tendenzen beschrieben, be-fürworteten oder befürchteten, wirkten sie sich auf das Leben der Bevölkerungsmehrheit nur am Rande aus. Anstatt von linearen Trans-formationen sollte man deshalb von den vielfältigen Einflüssen aus-gehen, denen Familien und Haushalte zu jeder Zeit unterliegen. Einem klaren Trend lassen sich viele davon nicht zuordnen. Für die Sattelzeit, also die Jahrzehnte um 1800, hat Joachim Eibach jüngst auf die kom-plexe Gleichzeitigkeit von Prozessen der »Verhäuslichung« und der

»partiellen Auslagerung von Funktionen aus dem Haus« hingewiesen.3 Bereits vor mittlerweile zwei Jahrzehnten nahm Rebekka Habermas eine vergleichbare Perspektive auf die Geschlechtergeschichte der bürgerlichen Familie in derselben Epoche ein.4

Im vorliegenden Kapitel orientiere ich mich an Forschungsarbeiten wie diesen, um nach dem alltäglichen Leben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu fragen. Aufgrund der Quellenlage fokussiere ich dabei vor allem jene beiden sozialen Gruppen, aus denen die meisten 1 Vgl. Eibach/Schmidt-Voges 2015; für die Kritik am Begriff des »ganzen

Hauses« nach wie vor Groebner 1995; Opitz 1994.

2 Bock/Duden 1977, 125.

3 Eibach 2015, 29.

4 Habermas 2000.

I

überlieferten Tagebücher stammen: das Bürgertum und das Hand-werk. Die Analyse bestätigt die These, dass die von der älteren For-schung beschriebenen Prozesse nur sehr zögerlich einsetzten und keineswegs linear verliefen. Weder waren Männer und Frauen aus-schließlich in getrennten Räumen tätig, noch unterschieden sich ihre Tätigkeitsfelder in jeder Hinsicht. Außer häusliches Arbeiten wurde bei den Männern zwar üblicher, doch basierte deren Lebensunterhalt weiterhin auch auf Tätigkeiten im Haus oder Garten. Ebenso wenig wie die Orte unterschieden sich die Zeiten des Alltags klar voneinander.

Eine Ausdifferenzierung von Arbeits- und Freizeit lässt sich noch kaum erkennen. Damit macht in diesem Zusammenhang auch die Unter scheidung von Praktiken der Produktion und der Konsumtion wenig Sinn. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein stand Konsumtion vor allem für den lebensnotwendigen Verbrauch von Gütern. Im Unter-schied zum heutigen Konsumbegriff wurden damit also keineswegs all jene Aktivitäten zusammengefasst, die außerhalb der Lohnarbeit statt-finden.5 Nicht durch solche binären Logiken wurde das damalige Leben strukturiert, sondern durch die Rhythmen und Bedürfnisse der Familie. Sie bestimmte die zeitliche und räumliche Struktur und die Praktiken des Alltags: die verschiedenen Formen des Lebensunter-halts und die gesellschaftlichen Verpflichtungen genauso wie das Ge-nießen von Luxusgütern oder den sonntäglichen Kirchgang.6

Welche unterschiedlichen Konturen diese familiäre Gefühls- und Wirtschaftsgemeinschaft annehmen konnte, beschreibe ich im Folgen-den. Das Tagebuch einer Fabrikantentochter aus dem badischen Lahr steht im Zentrum des ersten Abschnitts. Die familiäre Gefühls- und Wirtschaftsgemeinschaft manifestiert sich hier vor allem als häusliche Gemeinschaft. An ihr orientierten sich die vielfältigen Praktiken des Alltags – von der Arbeit über die Mahlzeiten bis zu den Vergnügun-gen. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich die junge Frau nicht auch für außerhäusliche Aspekte der familiären Ökonomie interessiert hätte.

Diese betrafen sie selbst und die gesamte Familie zu sehr, als dass sie gänzlich den männlichen Mitgliedern hätten überlassen werden können.

Was die Tochter eines sächsischen Rechtsanwalts und der Sohn eines Freiburger Kaufmanns zwischen dem Verlassen des Elternhauses und dem Gründen einer eigenen Familie erlebten, ist Gegenstand des

5 Vgl. auch Graeber 2011.

6 Vgl. aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive Habermas 2000, insbes. 39ff., 43ff. und 99ff.; am Beispiel von Familienunternehmen Budde 2011 sowie nach wie vor Kocka 1999b.

zweiten Abschnitts. Als Erzieherin in einem herrschaftlichen Haus-halt führte erstere ein Leben, das sich nicht grundlegend von jenem der Fabrikantentochter unterschied. Die emotionalen und materiellen Be-ziehungen, die sie in dieser Zeit gegenüber der Arbeitgeberschaft auf-baute, blieben nach der Heirat ein wichtiger Baustein ihres Alltags.

Auch der Kaufmannssohn musste für seine Lehrjahre die Heimat ver-lassen. Die Rückkehr nach Freiburg, die Übernahme des väter lichen Geschäfts und die Erweiterung der Herkunfts- durch eine eigene Familie stellten jedoch das unhinterfragte Ziel seiner Bemühungen dar. Die viel beschriebene bürgerliche Selbstständigkeit bestand folg-lich gerade nicht in einer Herauslösung des Individuums aus der Ge-meinschaft, sondern in dessen Beitrag zu dieser. Das galt für Männer wie für Frauen. Das Ideal, das dabei verfolgt wurde, war nach wie vor jenes der häuslichen Gefühls- und Wirtschaftsgemeinschaft.

Wie ein entsprechender Alltag aussehen konnte, beschreibe ich im dritten Abschnitt am Beispiel eines schlesischen Pastoren-Ehepaars.

Noch in den 1880er Jahren lässt sich bei diesen Angehörigen des länd-lichen Bildungsbürgertums keine klare Trennung von Berufs- und Hausarbeit oder von Arbeits- und Freizeit erkennen. Abgesehen vom größeren sozialen und kulturellen Kapital dürften sich zentrale Aspekte ihres Lebens deshalb kaum vom bäuerlich geprägten Umfeld in der Pfarrgemeinde unterschieden haben. Ähnliches lässt sich für den Alltag von Wandergesellen feststellen, auf deren Tagebücher ich zu Beginn des vierten und letzten Abschnitts eingehe. Für sie war die familiäre Gefühls- und Wirtschaftsgemeinschaft ein wichtiger emotio-naler und materieller Bezugspunkt während der Reise. Und nicht an-ders als die bürgerlichen Lehrlinge verfolgten viele das Ziel, in die Heimat zurückzukehren und den familiären Haushalt und die Werk-statt weiterzuführen. Diese Leitvorstellungen auch tatsächlich um-zusetzen, war jedoch keineswegs allen möglich. Im 19.  Jahrhundert stellte die außerhäusliche Lohnarbeit zunehmend eine alternative Form des Lebensunterhalts dar. Ähnlich wie in Teilen des Wirtschafts-bürgertums und im städtischen Bildungsbürgertum verlor der Haus-halt damit auch in den Unterklassen langsam an Bedeutung als Rah-men der familiären Gefühls- und Wirtschaftsgemeinschaft.

1. Im Familienkreis: Der Alltag einer Fabrikantentochter Im Zentrum des Lebens junger Bürgerinnen und Bürger stand die Familie – die »Annehmlichkeiten eines ruhigen, von treuer Elternliebe geleiteten Familienlebens«, wie es in der Autobiographie des Zürcher Gymnasiasten Karl Lehmann (*1858) heißt.7 Es ist deshalb kein Zu-fall, dass die knapp zweiundzwanzigjährige Frieda Bader (*1844) gleich im ersten Eintrag bemerkte, dass sie das Jahr 1864 »im l[ieben]

Familienkreis angefangen« habe. Mit ähnlichen Worten blickte die Tochter eines Zigarrenfabrikanten aus der badischen Kleinstadt Lahr am Silvesterabend auf die vergangenen zwölf Monate zurück: »Nur noch eine halbe Stunde u. wir treten in ein neues Jahr ein, o  Gott, wirklich schöne Erinnerungen bleiben uns aus dem Jahre 1864, wie oft konnte ich mich so von Herzensgrund meiner Jugend freuen u. wie glücklich war ich im trauten Familienkreise.«8

Dieses Glück hatte Bader im Verlauf des Jahres immer wieder be-schrieben. Damit verweist das Tagebuch der jungen Wirtschaftsbürge-rin auf einen wesentlichen Aspekt der bürgerlichen Familie: Eltern, Geschwister und  – bei den älteren Diaristinnen und Diaristen  – Ehefrau oder Ehemann und Kinder stellten eine Emotionsgemein-schaft dar, deren Kristallisationspunkt das häusliche Leben war. Dieser soziale und örtliche Rahmen machte es möglich, dass in einer Welt, in der so viel Leid herrschte, das Glück einkehren konnte.9

Entsprechend belastete Bader die konfliktgeladene Beziehung zur Mutter sehr, wie sie immer wieder notierte. In diesem Zusammenhang finden sich auch einige der seltenen Stellen, an denen eine gewisse Distanz zu Mitgliedern der Familie erkennbar wird. Schon in »aller Frühe« sei ihr »gleich wieder die freudige Stimmung von gestern weg-genommen« worden, beklagte sich die junge Frau an einem Abend im Januar 1864. »Schon das Spätaufstehen ärgerte Mama, u. bekam ich dafür schon genug, dann noch das Vergessen des Mehl’s etc. denn es sollten Kränze gemacht werden o sie zankte mich so sehr, daß ich hätte mögen in den Boden schlüpfen.« Wenn sie ihren »liebreich[en]«

Papa nicht hätte, bemerkte sie in den Monaten danach mehrmals, wäre dieses Leben unerträglich.10 Als umso glücklicher beschrieb sie sich, wenn das Verhältnis zur Mutter sich wieder entspannt hatte.

Nach-7 DTA, Reg.-Nr.9Nach-72 I.2, o.D. (Transkript: Nach-7).

8 DTA, Reg.-Nr.1116 I.2, 1.1.1864.

9 Vgl. Tanner 1995, 159ff.; Hausen 1976, 378ff.

10 DTA, Reg.-Nr.1116 I.2, 20.1. und 16.4.1864.

dem ihr ein Verehrer »allerlei Vorstellungen gemacht« hatte, berich-tete sie etwa:

Seit letzten Montag konnte ich vor großer Betrübniß nicht wieder hier hineinschreiben. Und was hätte ich auch aufzeichnen sollen, daß mein Herz mit Kummer überladen war, u. ich keine Ruhe fin-den könnte für das verzagte u. wunde Herz. Immer u. immer wollte ich der l. Mama Alles sagen, aber die Worte wollten nicht heraus, es war mir, wie wenn der Hals zugeschnürt wäre. Heute nun, als ich vom Kochen u. Bügeln recht müde nach Haus kam, war Mama ge-rade im Garten. Ich entschloß mich also, ihr mein Herz zu öffnen, es ist geschehen, sie weiß Alles, ich habe ihr gesagt, was mich drückte, u. nun bin ich wieder glücklich. Der Herr hat mein Bitten gehört u. Alles zum Besten geführt. Mama tröstete mich wie einen eine Mutter tröstet, nun werde ich wieder froh sein können, im Herrn will ich mich freuen.11

Nicht einmal das Tagebuch hatte ihr helfen können. Drei Tage davor hatte sie das Geschehene zwar relativ ausführlich geschildert, doch hatte sie zugleich geschrieben, dass sie »diesem Buche nicht an-vertrauen« könne, was der Verehrer alles gesagt habe. »[I]ch habe es empfunden u. in meinem Herz u. Gedächtniß ruhen die Worte.« In dieser Situation war das Gespräch mit der Mutter der einzige Ausweg.

Zugleich zeigen diese Bemerkungen einer Neunzehnjährigen, wie wenig Liebesbeziehungen eine ausschließlich individuelle Angelegen-heit waren. Nicht Baders eigene Empfindungen waren für ihre Ent-scheidungen maßgeblich, sondern die Tatsache, dass es »nicht Recht«

gewesen wäre: »Ach, er ist so sehr gut, u. doch kann u. darf es nicht sein«. Auch in der letzten Begegnung ein Jahr später habe der junge Mann nicht verhehlt, »daß er mich leidenschaftlich gern gehabt u. bei meinem Sehen immer wieder neu gehofft hätte«. Auch sie habe ihm ihre »Herzensmeinung« ausgesprochen »u. wir schieden nun auf ewig unvereinbar, mit heimwehigem Herzen kam ich zurück«.12

Was die Gründe für die Unvereinbarkeit der beiden waren, geht aus Baders Tagebuch nicht hervor. Es ist jedoch gut möglich, dass sie in einem Zusammenhang mit der familiären Ökonomie standen. Wie Albert Tanner in seiner Studie zum Bürgertum in Zürich und Bern schreibt, stellten »gegenseitige Zuneigung und Liebe […] unter den Motiven und Gründen, aus denen in der bürgerlichen Klasse im 11 DTA, Reg.-Nr.1116 I.2, 23.4.1864.

12 DTA, Reg.-Nr.1116 I.2, 20.4. und 23.4.1865.

19. Jahrhundert Ehepartnerinnen und Ehepartner tatsächlich ausgewählt wurden, weiterhin meist nur einen Faktor unter anderen« dar. Die materiellen und weiteren familiären Vorstellungen seien immer mit bedacht worden.13 In dieser Hinsicht dürfte Baders späterer Mann den Vorstellungen der Eltern durchaus entsprochen haben: Auch er war im Tabakgeschäft tätig.14 Und der Kaufmannssohn Carl Emil Werner (*1877) aus dem benachbarten Freiburg schrieb über einen frisch ver-liebten Freund: »Zu seinem Geschmack habe ich ihm gratuliert, ich war oft selbst von ihrer Schönheit bezaubert u. hätte sie immer an-sehen können, dazu ein gescheidter Kopf, schöner Charakter, musika-lisch wie er selbst u. last not least einzige Tochter reicher Eltern.«15

Auf die Gleichzeitigkeit von Liebessemantik und familiären Absich-ten verweist auch Habermas in ihrer Untersuchung der Geschlechter- und Familienverhältnisse im Nürnberger Bürgertum des späten 18. und frühen 19.  Jahrhunderts. Auch wenn man auf Hochzeiten die von materiellen Interessen unberührte Seelenverwandtschaft der Eheleute beschworen und die Ehe zur Privatsache erklärt habe, seien Eheschlie-ßungen »von der familiären Öffentlichkeit diskutiert und letztlich auch bestimmt« worden.16 Damit nimmt sie die Kritik an den zen-tralen Thesen der älteren Familiengeschichte auf, wie sie etwa Hans Medick und David Sabean schon früh formuliert haben.17 Da Familien-beziehungen auch in früheren Gesellschaften durch eine Kombination aus Emotionen und materiellen Interessen geprägt gewesen seien, argu mentiert Habermas, könne von einer Emotiona lisierung der Paar- wie der Eltern-Kind-Beziehung seit dem späten 18. Jahrhundert nicht die Rede sein. Erkennen könne man hingegen qualitative Veränderun-gen innerhalb der bürgerlichen Familie. Ins besondere sei die GeVeränderun-gen- Gegen-seitigkeit der Beziehungen zwischen Eltern und Kindern durch eine elterliche Identität der bedürfnislosen, »altruistischen Fürsorge« er-setzt worden.18 Als liebreicher Papa und tröstende Mama spiegelt sich diese Haltung in Baders Tagebuch. »Keine Ermüdung« habe die Mutter davon abhalten können, »meine Aufgaben zu durchgehen, meine Exer-citien zu korrigieren, meine Aufsätze zu verbessern, mich für die Style vorzubereiten«, bemerkte Werner am Ende des Jahrhunderts.19 13 Tanner 1995, 160ff. (Zitat: 175). Vgl. auch Habermas 2000, 279.

14 Vgl. DTA, Reg.-Nr.1116 I.3, 21.1.1878.

15 DTA, Reg.-Nr.1798.1, 9.2.1900.

16 Habermas 2000, 294.

17 Medick/Sabean 1984.

18 Habermas 2000, 261ff. Vgl. auch Eibach 2015, 22ff.

19 DTA, Reg.-Nr., 1798.1, 10.12.1898.

Die gemeinsame »Sorge um das kindliche Wohl«, schreibt Haber-mas weiter, sei eine »wichtige Grundlage« des bürgerlichen Familien-verständnisses gewesen. Sie sei von Frauen und Männern geteilt worden. Nicht nur dadurch werde die von der älteren Literatur auf-gestellte Behauptung widerlegt, dass es im Bürgertum zu einer geschlechts spezifischen Trennung von privaten und öffentlichen Räumen und zu einer klaren Unterordnung der Frau unter den Mann gekommen sei. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts lasse sich auch eine allgemeine Aufwertung der Häuslichkeit als »gemeinsame[m]

Bildungsraum« und Ort der Emotionen erkennen, an der Männer wie Frauen gleichermaßen beteiligt waren.20 Man habe sich auf einen kleinen Kreis von Familienmitgliedern und Freundschaften zurück-gezogen, innerhalb dessen man einen intensiven Austausch pflegte.21 Anne-Charlott Trepp spricht treffend von einer »familienzentrierte[n]

Geselligkeit« als einem der zentralen Charakteristika der bürger- lichen Gesellschaft.22 Darauf dürfte Werner noch am Ende des Jahr-hunderts angespielt haben, wenn er sich beklagte, dass sein »Ideal«

aufgrund des frühen Todes der Mutter und der Tatsache, dass sein Vater seine Zeit lieber mit Freunden als mit der Familie verbracht habe, »nie zur Ausführung« ge kommen sei: »[A]bends nach vollende-ter Arbeit gemütlich beisammen zusein, sich mit irgend etwas An-regendem u. Bildendem, sei es nun Litteratur oder Musik oder was sonst, zu beschäftigen und all die Kleinlichkeiten des Lebens un-berührt zu lassen.«23 Ein nur leicht anderes Ideal der Geselligkeit beschrieb die Leipziger Großbürgerin Martina Limburger von Hoff-mann (1869-1956):

Für mich giebt es nichts Schöneres als eine Unterhaltung bei ähn-licher Gesinnung und guter Verständnisfähigkeit. Mögen da die Ansichten noch so verschieden sein, gerade das fördert uns, zwingt uns unsere eigenen Ansichten zu klären. Das sollte die Grundlage der Geselligkeit sein, nicht aber Verwandtschaft, geschäftliche oder noch viel unwichtigere Rücksichten. So wie die Geselligkeit hier getrieben wird ist sie zu einem bloßen Spiel der Eitelkeit und Übel-nehmerei und Mittel letzteres zu vermeiden geworden. […] Der

20 Habermas 2000, 265. Vgl. auch Trepp 1996, Zweiter Teil, insbes. 220; zu den Unterschieden in den Bildungspraktiken Habermas 2000, 326ff., insbes. 363f.;

in der Kindererziehung ebd., 365ff.

21 Habermas 2000, 315ff. Vgl. auch Eibach 2015, 33f.

22 Trepp 1996, 399.

23 DTA, Reg.-Nr.1798.1, 21.1.1897.

Aufwand an Kräften, Zeit, Geld steht in keinem Verhältnis zum erzielten Genuß, wenn es überhaupt einer ist.24

Weder die Familienzugehörigkeit noch sonstige Verpflichtungen und Interessen durften in ihren Augen den bürgerlichen Bildungsraum be-stimmen. Das bedeutete jedoch nicht, dass die Familie nicht dessen Kern bilden konnte und sollte. In der weiteren Biografie der Großbürge-rin wie der Fabrikantentochter sollte die familiäre Häuslichkeit denn auch eine Leitvorstellung bleiben. Letztere heiratete am 2. September 1871. Ein Jahr später bezogen die Eheleute ein ebenfalls in Lahr gelege-nes, neu erbautes Haus. »Seit acht Tagen wohnen wir im neuen schönen Heim, das wir im ersten Jahr unserer Ehe bauen durften u. das herrlich ausgefallen ist; von dem Jedermann entzückt ist u. man sagt, es sei ein bijou, ein Feennestle«, notierte sie im Oktober 1872. Sie seien »so glücklich in unsrem seligen Heim, haben einander so innig lieb u. ver-schönern uns das Leben!« Am Einweihungsfest habe der Dekan eine

»herrliche Ansprache« gehalten, »worin er dem Herrn dankte für das Beendigen des Heims u. Ihn einlud, der Schrein u. Hort des neuen Heims zu werden, u. daß Elternliebe u. Eltern- Segen den Kindern Häuser baut«. Wie aus dem restlichen Eintrag hervorgeht, war Bader damals schon schwanger und hoffte auf ein »herziges Kindelein«.25

Sie lebten nun, erklärte sie ein paar Monate später, »recht vergnügt, genießen unser Glück u. leben still u. ruhig dahin, unbekümmert um das, was die Außenwelt trübt!« Explizit grenzte sie dieses familiäre Idyll gegenüber größeren Gesellschaften ab: »[F]erner habe ich zwei Gesellschaften absolvirt u. steht mir nun eine dritte bevor«, notierte sie eineinhalb Monate nach der Hauseinweihung, »dann wird ein stilles, seliges Leben im Herrn geführt u. soll mich weder Eitelkeit noch Neid, noch Kränkung verletzen!«26 Mit der Geburt der beiden Söhne ver-stärkte sich diese Ausrichtung auf die eigene Familie; neben dem eige-nen Gesundheitszustand und dem allgemeieige-nen Befinden handeln große Teile des Tagebuchs in den Jahren danach von deren Kindheit und Jugend. Auch viele weitere Diaristinnen aus dem gesamten Untersuchungs-zeitraum wurden im Laufe von Ehe und Mutterschaft zu Chronistinnen ihrer Familie.

Wie die Forschung gezeigt hat, bedeutet die rhetorische Abwendung von der Gesellschaft jedoch nicht, dass sich das Bürgertum vollständig auf das Kleinfamilienleben zurückgezogen hätte. Das Häuslichkeits-24 DTA, Reg.-Nr.2153.4, 11.3.1897.

25 DTA, Reg.-Nr.1116 I.3, 3.10.1872 (Hervorhebung i.O.).

26 DTA, Reg.-Nr.1116 I.3, 16.2.1873 und 18.11.1872.

ideal war eine Seite des Alltags, die gesellschaftlichen Verpflichtungen eine andere.27 Die emotionalen und die materiellen Interessen galt es auch in dieser Hinsicht in Einklang miteinander zu bringen. Entspre-chend fragte sich Bader im Frühjahr 1878, »ob ich alles Gesellschaft-liche fahren lassen soll u. mich ein puppen mit den Kindern u. in der engern Familie od. ob man seiner Stellung u. Bildung halber mit der Welt verkehren muß, mit denen man doch nicht harmonirt«. Zur glei-chen Zeit fand aber auch ihre »längstprojectirte Thee gesellschaft«

statt, die, wie sie anmerkte, »sehr nett ausfiel«.28

Jenseits dieser ambivalenten Haltung gegenüber gesellschaftlichen Verpflichtungen beschränkte sich auch das Familienleben nicht auf das Feennestle. Als Verheiratete und Mutter nahm Bader weiterhin lebhaft Anteil am Schicksal ihrer Brüder, die in nah und fern ihr Glück versuchten. Es besteht deshalb kein Anlass für die Vermutung, dass sie mit der engern Familie die heutige Kernfamilie meinte; dass sie A bschied von ihrer früheren Ansicht genommen hätte, »ein großer Familienkreis« sei etwas Schönes und Wohltuendes. In diesem Sinne

27 Zur Öffentlichkeit der bürgerlichen Privaträume vgl. Eibach 2015, insbes.

31ff.; Conrad et al. 2014, 11ff.; Egli 2014, insbes. 217f. und 219f.; Mettele 1996.

28 DTA, Reg.-Nr.1116 I.3, 15.3.1878. Vgl. auch Reg.-Nr.1116 I.2, 3.6.1866.

Abb. 1.1: Das Gasthaus zur Sonne in Lahr, wo Bader das Kochen lernte (um 1830).

hatte sie im Sommer 1865, als ihr Elternhaus »voller Besuche« und alle

hatte sie im Sommer 1865, als ihr Elternhaus »voller Besuche« und alle