• Keine Ergebnisse gefunden

Ideale von Bürgerlichkeit

»Sie trauen mir sehr wenig zu«, notierte der angehende niederschlesi-sche Pastor Julius Meisner (1847-1919) nach einem mit befreundeten Familien verlebten Nachmittag im Januar 1870. Bei seiner anstehenden ersten Predigt müsse er sich deshalb »möglichst anstrengen«. Diesen Vorsatz nahm er ernst: Eine knappe Woche später bestieg er »die Kan-zel mit freudigen Gefühlen, weil ich die Predigt gut memoriert hatte«.

Auch in der folgenden Zeit beschrieb er sich als gewissenhaft arbeiten-den Kirchenmann. Wie im ersten Kapitel dargelegt, dürfte die Not-wendigkeit, einen Teil des Einkommens über seelsorgerische Dienst-leistungen zu bestreiten, eine wichtige Rolle bei diesen Bemühungen gespielt haben. Eines der wiederkehrenden Themen zu Beginn von Meisners Arbeitsleben war aber auch die Frage, ob er den Ansprüchen genügen werde. Dabei scheint es ihm weniger um das Erreichen per-sönlicher Ziele gegangen zu sein denn um die Anerkennung durch Familie, Bekannte und Pfarrgemeinde. »Es war das 1. Mal, daß mir der Vater seine Zufriedenheit aussprach. Sehr erfreut dadurch«, notierte er in diesem Sinne nach einer seiner ersten Predigten. Ebenso lässt sich die Bemerkung, dass er ein Kind »zur Zufriedenheit« begraben habe, nicht nur vor dem Hintergrund seiner finanziellen Abhängigkeit von seelsorgerischen Dienstleistungen verstehen, sondern auch ganz all-gemein als Feststellung, dass er seine vertraglichen und sozialen Pflich-ten gegenüber der Trauerfamilie und der Gemeinde erfüllt habe.1

Über diese ökonomischen und sozialen Aspekte hinaus lassen sich in Meisners Tagebüchern vor allem zwei Leitvorstellungen erkennen, an denen sich der junge Bildungsbürger bei seiner Arbeit orientiert zu haben scheint. Erstens vermitteln seine Notizen den Eindruck, dass er das Erwerben von Anerkennung und das Befriedigen seiner materiel-len Interessen nicht nur – und vielleicht nicht einmal hauptsächlich – als Ergebnis seiner individuellen Fähigkeiten und Anstrengungen betrachtete. Das Gelingen seiner Anstrengungen war abhängig von äußeren Faktoren, die er selbst nicht kontrollieren konnte: der Unter-stützung durch die familiäre Gemeinschaft oder dem göttlichen Willen.

1 DTA, Reg.-Nr.1166 I.2, 16.1., 22.1., 18.4. und 16.6.1876.

II

80 ARBEITSAMKEITU N DAMÜSEMENT

Dass sein Vorhaben »mit Gottes Hülfe« gelingen werde, war eine Hoffnung, die er vor allem in den ersten Monaten seines Vikariats immer wieder seinem Tagebuch anvertraute.2 Auch wenn Gott später nur noch sporadisch auftaucht, waren solche Bemerkungen keine reinen Floskeln. Sie verweisen vielmehr auf die religiöse Basis des bürgerlichen Arbeitsethos, auf eine »Alltagstradition des Glaubens«, die auch in anderen zeitgenössischen Quellen ein wichtiges Moment darstellt.3

Ein zentrales Bewertungskriterium für die alltägliche Arbeit Meis-ners war zweitens auch der Fleiß. Wenn der Vikar von einem Vor-gesetzten »für ›fleißig‹ befunden« wurde,4 sollte das nicht mit jener abwertenden Semantik heutiger Arbeitszeugnisse verwechselt werden, in denen auf diese Weise signalisiert wird, dass sich jemand zwar be-mühte, die Ergebnisse jedoch bescheiden blieben. In Meisners Welt stellte der attestierte Fleiß ein großes Lob dar. Auch seine Frau Olga geb. Gambke (1849-1909) beschrieb sich als arbeitsame Haushälterin:

»Leider wurde es mir heute nicht möglich, in die Kirche zu gehen, ich hatte den ganzen Tag fest zu thun, ehe ich einiger Maßen wieder Alles in Ordnung brachte.«5 Am Erfolg gemessene, individuelle Leistung und vergleichbare Begriffe hingegen spielen in den Tagebüchern der Eheleute kaum eine Rolle – auch wenn Julius mit sichtlicher Befriedi-gung feststellte, dass er gerade 1 Woche zum Umgraben des Gartens gebraucht habe. Stolz war er auch auf seine Bildung, wenn er etwa anlässlich einer Einladung mit der »Kenntniß imponierte, daß Podo-lien zwischen Bessarabien und Wolhynien läge«.6 Auch hier scheint es jedoch eher darum gegangen zu sein, den an einen Mann in seiner Position gestellten Ansprüchen zu genügen, denn um einen Leistungs-vergleich. Nicht zuletzt werden diese Aspekte von Meisners Selbst-verhältnis in der ebenfalls im ersten Kapitel zitierten Ansprache zum 57.  Geburtstag des Gerlachsheimer Pfarrers erkennbar. Auch dieser scheint vor allem den Erwartungen seines Umfelds entsprochen zu haben, wenn er mit großem Eifer und fleißigst früh u. spät studierte. Es ging darum, dem Vater keinen Verdruß zu bereiten. Individuelle Leis-tungsziele hingegen werden nicht angesprochen. Statt dessen wurde er bald Substitut an seinem Heimathsorte, wo er in des Vaters Fußstapfen 2 DTA, Reg.-Nr.1166 I.2, 13.1.1870.

3 Habermas 2000, 203. Vgl. Habermas 2000a, insbes. 170ff.; Linke 1996, 269, sowie Abschnitt 3.

4 DTA, Reg.-Nr.1166 I.2, 11.10.1875.

5 DTA, Reg.-Nr.1166 II, 4.4.1875.

6 DTA, Reg.-Nr.1166 I.2, 21.4.1870.

treten konnte. Und so erschloß sich ihm des Amtes Pforte eher, als dass er sie selbst öffnete.

Dem auf die Bedürfnisse der Gemeinschaft ausgerichteten Ethos der Arbeitsamkeit widmet sich ein zentraler Teil dieses Kapitels. Wäh-rend bisher die  – von verschiedenen sozialen Gruppen weitgehend geteilten  – Praktiken und Ideale der familiären Gefühls- und Wirt-schaftsgemeinschaft im Fokus standen, geht es nun um die Leitvorstel-lungen, mit denen dieser Alltag im Bürgertum der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerahmt wurde. Sie rechtfertigen es am ehesten, vom Bürgertum  – das es als klar definierbare sozial Gruppe allenfalls in kleinstädtischen Umgebungen gab  – als einem Kollektivsingular zu sprechen.7 Schon früh hat Lothar Gall argumentiert, dass bestimmte Ideen ein »Verbindungsglied zwischen den faktisch sehr unterschied-lichen Lebens- und Existenzformen« gebildet hätten und so ein »emphatischer« Begriff von Bürger und Bürgertum entstehen konnte.

Das »eigentliche Integrationsmoment« sei »die gemeinsame Teilhabe an der bürgerlichen Kultur« gewesen: das Teilen von Werten, Bildungs-inhalten, Verhaltens- und Lebensweisen.8 Auf der Basis solcher Arbeiten richtete sich die Aufmerksamkeit der Bürgertumsforschung zunehmend auf die Herausbildung und die Veränderungen eines »bürger lichen Wertehimmels«, eines Habitus der Bürgerlichkeit, beziehungsweise bürgerlicher Subjekte und Gefühlswelten. Dabei rückte zunehmend auch die performative Dimension von Bürgerlichkeit in den Blick der Forschung. Manfred Hettling und Stefan-Ludwig Hoffmann be-schreiben sie gar als eines der hauptsächlichen Merkmale: »Vom ›Bürger‹ zu reden bedeutete immer auch den Wunsch, ›bürgerlich‹ zu werden, sich bürgerliche Eigenschaften überhaupt erst anzueignen.«9

Wie ich in den ersten beiden Abschnitten ausführe, muss die Frage nach den Gestirnen am bürgerlichen Wertehimmel zumindest teil-weise neu gestellt werden. Im Fokus steht dabei die kritische Aus-einandersetzung mit der älteren These, die Orientierung am individu-ellen Erfolg sei eine Leitvorstellung des Bürgertums gewesen. Wie ich am Beispiel Meisners bereits angedeutet habe, war das zentrale Ele-ment des Arbeitsethos der arbeitsame Dienst an der Gemeinschaft.

Das Streben nach dem Außerordentlichen und die Rede von den 7 Dass der Wunsch, Gemeinsamkeiten zu erkennen, oftmals über die empirische

Forschung triumphierte, kritisieren etwa Hettling 1999, 20; Sarasin 1997, 15.

Zu den Unterschieden vgl. Haupt/Crossick 1998, insbes. Einleitung; Sarasin 1997, insbes. 11ff.; zum kleinstädtischen Bürgertum Schulz 2014, 62ff.

8 Gall 1987, 612f. und 619, 9 Hettling/Hoffmann 2000a, 15.

82 ARBEITSAMKEITU N DAMÜSEMENT

eigenen Talenten scheinen zwar auf das moderne Leistungsdenken zu verweisen, doch meistens ging es dabei um die Einmaligkeit einer Tat oder angeborenen Gabe und nicht um einen systematischen Einsatz aller Kräfte oder gar um eine Orientierung am Ergebnis. Vor diesem Hintergrund frage ich im dritten Abschnitt nach den Spezifika des Arbeitsverständnisses von Bürgerinnen. Deutlicher als die männlichen Angehörigen dieser Klasse richteten sie ihr Handeln an der Leit-vorstellung des liebenden Dienstes aus, den sie mit einem am Jenseits orientierten Pflichtethos verbanden. Die Lohnarbeit ermöglichte es manchen bürgerlichen Erzieherinnen und Lehrerinnen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedoch zugleich, eine Art Berufsstolz zu entwickeln und diesen Rahmen vorsichtig auszuweiten.

Nicht weniger prägend als das Ethos der Arbeitsamkeit war ein allgemeines Mäßigungsdenken. Wie ich im vierten Abschnitt zeige, wurden auf seiner Basis nicht nur die Vergnügungen und der Genuss von Luxusgütern bewertet. Es diente auch als Korrektiv für die von mancher Seite erhobene Forderung nach unablässiger Tätigkeit. Wel-che Verhaltens- und Gefühlsskripte die konkreten Vergnügungs- und Luxuspraktiken des Bürgertums prägten, untersuche ich im abschlie-ßenden Abschnitt. Denn dass Bürgerinnen und Bürger gelegentlich auch ausgelassen feierten, lässt sich nicht bezweifeln. Das Amüsement, der Kunst- und Naturgenuss, die (Gottes-)Liebe und die Jugendlich-keit, so argumentiere ich, stellten ihnen einen Rahmen zur Verfügung, inner halb dessen sie die schönen Seiten des Lebens auskosten konnten.

Aus heutiger Perspektive lassen sich diese Skripte und die Arbeitsam-keit als Verhaltensanleitungen beschreiben, die für die Bereiche der Konsumtion beziehungsweise der Produktion jeweils spezifisch sind.

Wie ich im ersten Kapitel ausgeführt habe, lassen die Zeitstrukturen und Praktiken der familiären Gefühls- und Wirtschaftsgemeinschaft eine solche Unterscheidung jedoch nicht zu. Die Anwendung dieses Begriffspaars birgt deshalb das Risiko, die Spezifika dieses Alltags und seiner Leitvorstellungen zu übersehen  – seine Differenz zu den um 1900 aufkommenden konsum- und arbeitsgesellschaftlichen Struktu-ren und Werten, auf die ich im vierten bis sechsten Kapitel eingehe.

1. Arbeitsamkeit und Pflichtbewusstsein oder:

Die Suche nach dem »bürgerlichen Leistungsethos«

Die individuelle Leistung galt lange als einer der Leitbegriffe des Bürgertums.10 Dennoch spielt sie etwa in Albert Tanners monumenta-ler Geschichte des Berner und Zürcher Bürgertums lediglich eine marginale Rolle. Zwar habe sich diese Klasse »wie keine zuvor zur profitorientierten Konkurrenz- und Marktwirtschaft, zur individuel-len Leistung des einzelnen, zur Freiheit und zum Prinzip gleicher Rechte und Chancen für alle bekannt«, schreibt er in den einleitenden Bemerkungen zum Buchteil über die bürgerliche Lebensweise. Sie habe aber auf einer Institution gegründet, »die sich zu all dem in schroffem Gegensatz befand«. Die »Familie und nicht das Indivi-duum« sei als Grundpfeiler der sozialen Ordnung betrachtet wor-den.11 Ganz in diesem Sinne forderte der Nürnberger Weißgerber Johann Friedrich Rupprecht (*1775) von den Männern eine »hinrei-chende Portion Ehrgeiz«. Gleichzeitig ließ er jedoch nie einen Zweifel daran, dass dieser der Familie zugutekommen sollte.12 In ihrer Studie zum Alltag des Nürnberger Bürgertums in den Jahrzehnten um 1800 weist auch Rebekka Habermas darauf hin, dass »die These von einem genuin bürgerlichen Einstellungswandel in Richtung einer gesteiger-ten Hochachtung von Leistung differenziert werden« müsse. Wert-schätzung für individuelle Verdienste habe sich »weniger nach dem erwirtschafteten ökonomischen Kapital als nach dem erarbeiteten kulturellen Kapital« bemessen. Man habe »sich nicht des Geldes« ge-rühmt, sondern der Unermüdlichkeit, mit der »man seinem fast religi-ösen Auftrag zur Steigerung von Moral und Anstand nachkam«.13 An die Stelle ständischer Privilegien sollten »Verdienst und Tugend«

treten, fasste eine Basler Großbürgerin um 1800 diese Grundlagen bürgerlichen Selbstverständnisses in ihrem Tagebuch zusammen.14

Kaum anders äußerten sich die Diaristinnen und Diaristen der zweiten Jahrhunderthälfte. Meisners Stolz auf seine geografischen Kenntnisse verweist ebenso auf dieses Selbstverhältnis wie die noch

10 Vgl. u.a. Reckwitz 2010, 171; Voswinkel/Kocyba 2008, 22; Kocka 1999c, 233f.; Kocka 1988, 27; Budde 1994, insbes. 113ff.; Gall 1989, 76; im Zu-sammenhang mit diaristischem Schreiben Schikorsky 1990, 94f.

11 Tanner 1995, 159f. Vgl. auch Kühschelm 2010, 862f.; Goltermann 2000, ins-bes. 154ff.

12 Rupprecht 1805, 17.

13 Habermas 2000, 35f., 98, 122 und 397. Vgl. auch Graber 2017, 21ff.

14 Baur 2000, 114.

84 ARBEITSAMKEITU N DAMÜSEMENT

kurz nach dem ersten Weltkrieg formulierte Absicht von Anna Maria Jesse (*1900), Tochter eines Lübecker Armeebeamten, »aus sich einen möglichst vollkommenen Menschen [zu] machen«.15 Ein präg-nantes Beispiel ist auch der angehende Jurastudent Wolfgang Hampe (1877-1943) aus dem niederschlesischen Jauer (heute Jawor). Er wolle

»ein tüchtiger Mann werden aus eigenem Sinn und nichts an die Meinung anderer setzen«, erklärte er im April 1896 selbstbewusst.

»Mein Herz soll eine Welt für sich sein. Gesund an Seele und Körper.

Offen für das Gute u. Schöne.« Einige Wochen später jedoch begann er sich zu fragen: »Was ist denn nun eigentlich das, was ich will u.

soll?« Erstens gelte es, den Erwartungen der Familie nachzukommen:

»Ich möchte so gerne alle meine Examina ordentlich bestehen u. so den Eltern Freude machen.« Zweitens sei ihm

jetzt auch klar geworden, daß mein einziges, mir wirklich bestimm-tes Ziel ist und bleibt, dem Schönen, Guten u. Wahren immer nach-zujagen […]. Der wissende Mensch ist gut – in dem Sinne möchte ich recht viel lernen, in dem Sinne auch die Freiburger Zeit be-nützen.16

Bildung und Moral  – das waren die zentralen Orientierungslinien dieses bildungsbürgerlichen Selbstverhältnisses. Als Verfechter Letz-terer tat sich Meisner hervor, wenn er sich »sehr gründlich gegen die Falschheit im geselligen Verkehr aussprach«. Sein immer wieder thematisiertes Streben nach Geld hingegen stellte keinen Selbstzweck dar. Es verweist auf seine Verpflichtungen gegenüber der Familie und auf die Notwendigkeit, für das Alter vorzusorgen.17

Der zentrale Orientierungspunkt ökonomischen Handelns sei im Bürgertum des 18. und frühen 19.  Jahrhunderts das langfristig ge-sicherte Auskommen der familiären Wirtschaft gewesen, schreibt auch Habermas. Die Angehörigen der älteren Generation hätten sich als Haushalterinnen und Haushalter über anvertraute Güter verstanden, die ihre Aufgaben »nur im Rahmen vielfältiger Abhängigkeiten« inner-halb wie außerinner-halb der Familie erfüllen konnten. Ebenso hätten die jüngeren Familienmitglieder noch weitgehend »am frühneuzeitlichen Ideal des selbständigen Handwerkers und des Kaufmanns« festgehal-ten, selbst wenn sie durchaus stolz auf die eigenen Leistungen gewesen

15 DTA, Reg.-Nr.2189.3, 27.9.1919. Zu Jesse vgl. Bänziger 2015, insbes. 189ff.

16 DTA, Sig.3460.3, 10.4. und 17.5.1896.

17 DTA, Reg.-Nr.1166 I.2, 15.5.1870. Vgl. dazu auch das erste Kapitel, Ab-schnitt 3.

seien. Entsprechend seien ein Gewinnstreben, das unkalkulierbare Risiken eingeht, und das Anhäufen von immer größeren Reichtümern verpönt gewesen. Den industriellen Kapitalismus, seine Klassengegen-sätze und die damit einhergehende Verarmung breiter Bevölkerungs-schichten habe man abgelehnt.18 Explizit gesellte auch die Lahrer Fabrikantentochter Frieda Bader (*1844) den »Ehrgeiz« als Sünde des Erwachsenenalters neben die »heimliche Lust« der Jugend und den

»Sorgengeist« des Alters.19 Zugleich beschrieb sie die Brüder im Aus-land weniger als ihres eigenen Glückes Schmiede denn als Reisende, die dem unvorhersehbaren Lauf des Lebens ausgesetzt sind: »Jacques weilt eben in Amerika, ob er dort sein Glück findet od. recht herum-geworfen wird auf des Lebens Wegen, wird man erst später sehen – Adolph schreibt wenig, er macht seine Geld-Erfahrungen. Gottlob, daß man etwas Höheres kennt!« Wie ich im ersten Kapitel beschrie-ben habe, waren die »Geldaffairs« des ältesten Bruders Adolph (1838-1878) auch danach immer wieder Anlass zu größter Sorge:

»[W]ie tief wird der l. Bruder geführt, an den Rand der Verzweiflung u. nur um des schändlichen Gewinnes willen«, schrieb Bader im März 1876.20

Für Bürgerinnen wie Bader war klar: Speculationen an der Börse und anderswo gehörten nicht zu den Praktiken, aufgrund derer die familiäre Ökonomie florieren konnte. Es drohte nicht nur der persön-liche Ruin, sondern auch Not und Gram für alle Kinder.21 In diesem Sinne warnte ein namenloser »Waldschulmeister«  – wie Jeremias Gotthelf, der Verfasser der Uli-Romane,22 stammte er aus dem Emmental – die Leserschaft der Schweizer Familie noch kurz nach der Jahrhundertwende vor den Gefahren der Börse. Der Sohn eines wohl-habenden Sägereibesitzers, so ist in einem mehrteiligen »Bild aus dem Volksleben« zu lesen, spielte auf Anraten eines vermeintlichen

18 Habermas 2000, insbes. 3, 93ff., 99ff. und 135. Für die Gegenüberstellung von Gewinnstreben und Gemeinwohl in einem zeitgenössischen Tagebuch vgl. Baur 2000, 112f. Am Beispiel von Kaufleuten aus dem französischen Lille argumentierte schon Hirsch 1991, insbes. 385 und 425, dass deren For-derung nach Selbstregierung und Gewerbefreiheit nicht als Individualismus missverstanden werden sollte. Ich danke Pierre Eichenberger für diesen Hin-weis.

19 DTA, Reg.-Nr.1116 I.2, 21.7.1864. Zur Problematisierung von (männ-lichem) Ehrgeiz im Bürgertum vgl. Verheyen 2018, 41ff.; Kessel 2000.

20 DTA, Reg.-Nr.1116 I.3, 24.10.1875 und 27.3.1876.

21 Für den zeitgenössischen Börsen- und Spekulationsdiskurs vgl. Engel 2016;

Engel 2014; Langenohl 2013; Schößler 2013; Stanziani 2012; Stäheli 2007.

22 Vgl. das dritte Kapitel, Abschnitt 1.

86 ARBEITSAMKEITU N DAMÜSEMENT

Freundes »nicht nur in der Lotterie«, sondern betätigte sich auch »mit namhaften Summen, welche er sich mit Hülfe des getriebenen Agen-ten auf den Kredit seines Vaters zu verschaffen wußte, an der Börse«.

Doch dem »unerfahrenen« jungen Mann vom Lande war »das Ge-triebe an diesem Geldmarkt fremd«, und so hatte »sein schlauer Ver-führer« ein »um so leichteres Spiel«. Am Ende verlor auch diese Fami-lie beinahe Haus und Betrieb und musste ihr »Besitztum mit einer großen Hypothek belasten«. Sie »erfuhr die Wahr heit des Sprich-wortes: Bürgen bringt Bürden.«23 Erst die im späten 19. Jahrhundert aufkommenden modernen Geschäftsbanken sollten externe Kredit-vergaben zur Regel machen. Bis dahin dominierten Vertrauens-beziehungen innerhalb des Familien- und Bekannten kreises.24 Sie be-durften einer guten moralischen und monetären Er ziehung in der Kindheit und einer engen Kontrolle im Erwachsenenalter.25

In ihren Arbeiten zum Leistungsdenken um 1900 argumentiert auch Nina Verheyen, dass sich die Erzählung vom linearen Aufstieg des Leistungsethos nicht halten lasse. Als Leitvorstellung sei individu-elle Leistung überhaupt erst im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahr-hunderts aufgekommen. Unabhängig vom Geschlecht habe im Bürger-tum noch lange ein Arbeitsethos dominiert, das »stark religiös fundiert« war: »Unermüdlicher Fleiß aus Verpflichtung gegenüber Gott, Zufriedenheit durch ständige Tätigkeit, das war bürgerliches Arbeitsethos.«26 Gegenstand zeitgenössischer Debatten sei deshalb in erster Linie die allgemeine Einstellung gegenüber der Arbeit gewesen.

All dies lasse sich nicht zuletzt an der Geschichte des Begriffs »Leis-tung« selbst ablesen, der im 19. Jahrhundert noch weitgehend über das Erfüllen einer sozialen oder vertraglichen Pflicht gegenüber anderen definiert worden sei.27 Ein Blick ins Deutsche Wörterbuch bestätigt diese Einschätzung. In den um 1879 verfassten Lemmata »leisten« und

»Leistung« steht die Bedeutung »einer verpflichtung nachkommen, etwas schuldiges thun oder erfüllen« im Vordergrund. Noch in jenen Beispielen, wo stärker »die fähigkeit des subjects betont wird«,

domi-23 »Waldschulmeister« im Emmental 1903b, 147 und 163.

24 Vgl. Frevert 2013, insbes. Kap. V; Frevert 2010a, 100ff.; Berghoff 2004, ins-bes. 149ff.; Habermas 2000, 103ff.

25 Zur Gelderziehung vgl. Maß 2017; 2017a.

26 Verheyen 2014, 48 (Hervorh. i.O.). Vgl. Verheyen 2018, Kap.4; Verheyen 2014a; Verheyen 2012; zur Bedeutung der Religion ferner Habermas 2000, insbes. 96, 103 und 107.

27 Verheyen 2014, 49. Vgl. auch Verheyen 2012, 385.

niert dieser Aspekt.28 In diesem Sinne schrieb Bader einmal über die offensichtliche Unfähigkeit junger Kinder, die nach dem Tod des Vaters anfallenden Aufgaben »auszuführen«. Ein anderes Mal er-wähnte sie die »Leistungen unseres Singvereins«, die von ihrer Schwester sehr gelobt worden seien. Meistens allerdings gebrauchte sie das Wort als Teil des Ausdrucks »Gesellschaft leisten«.29

Letzteres gilt auch für das Tagebuch des Freiburger Kaufmanns-sohns Carl Emil Werner (*1877). Im Sinne einer formelhaften Ver-pflichtung verwendete der junge Kaufmann den Begriff hingegen im Januar 1901 in London, als »der neue König Edward VII« kam, »um den Eid zu leisten & den des Parlamentes entgegen zu nehmen«. Bei anderen Gelegenheiten wollte er »sich etwas leisten«  – sei es eine Badehose oder einen Witz. Und im letzten Tagebuch schrieb er über seine zwischenzeitliche Verlobte Friedel Rassiga, dass sie nach der Verhaftung ihres Geliebten in New York City »selbst unfähig« ge-wesen sei, »etwas zu leisten«. Auch wenn er es nicht explizit ansprach, ging es dabei nicht zuletzt darum, der Sorgepflicht für den kleinen Sohn nachzukommen. Ein anderes Mal notierte er über eine längere Aussprache mit ihr, dass er am nächsten Morgen »froh an die Arbeit«

gegangen sei. »Froher denn seit langem, wo ich mich immer nur mit aller Macht zwingen mußte, etwas zu leisten«.30 Auch hierbei ging es wohl vor allem um das Erfüllen seiner Pflicht. Einzig über den ersten Tag in Brüssel, wo er auf dem Weg von Paris nach London einen Zwischenstopp einlegte, bemerkte Werner: »Das war die Leistung meines ersten Tages, jedenfalls nicht zu verachten.«31

Da diese Begrifflichkeit in den untersuchten Tagebüchern all gemein selten vorkommt, sind solche im engeren Sinne begriffsgeschicht-lichen Analysen von beschränkter Aussagekraft.32 Im Vergleich zu

Da diese Begrifflichkeit in den untersuchten Tagebüchern all gemein selten vorkommt, sind solche im engeren Sinne begriffsgeschicht-lichen Analysen von beschränkter Aussagekraft.32 Im Vergleich zu