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Wirklichkeit wird von autopoietisch und selbstreferentiell agierenden Menschen emergent konstruiert

Vermehrte Berücksichtigung von Schülervorstellungen zu

Kernaussage 1: Wirklichkeit wird von autopoietisch und selbstreferentiell agierenden Menschen emergent konstruiert

Grundlagen zum methodischen Ansatz 54 Entscheidungen im Schulalltag herausgearbeitet. Dabei werden sowohl die Bedeutungen wichtiger Begriffe, wie z.B. Wirklichkeit und Wissen, aus konstruktivistischer Sicht erläutert als auch wich-tige übergreifende Argumentationsstränge9 der Konstruktivismusdebatte formuliert.

Zur Gliederung:

Die zu vier Kernaussagen zusammengefassten für didaktische Überlegungen relevanten Grundauf-fassungen des Konstruktivismus werden jeweils in Form einer These aufgeführt, kurz erläutert und anschließend durch Aussagen verschiedener Autoren belegt, die das Gedankengebäude des Konstruktivismus von unterschiedlichen Disziplinen her kommend stützen.

Wegen der inhaltlichen Nähe der vier Kernaussagen und bedingt durch den Umstand, dass viele Autoren in ihren Ausführungen sich übergreifend zum Konstruktivismus äußern und damit die hier vorgenommene Gliederung konstruktivistischer Gedankengänge in vier didaktisch relevante Kernaussagen nicht mittragen, sind in den folgenden Ausführungen Überschneidungen in Form von Vor- und Rückgriffen auf andere Kernaussagen unvermeidlich.

Kernaussage 1: Wirklichkeit wird von autopoietisch und selbstreferentiell agierenden

Grundlagen zum methodischen Ansatz 55 weltereignisse überhaupt auf das Nervensystem einwirken können, müssen diese Prozesse umge-wandelt werden (...)" (ROTH 1992). Diese Kernthese wird von MATURANA & VARELA (1987) in Bezug auf das Entstehen von Wissen (Erkenntnis) weiter ausgeführt: Unser Gehirn erfindet/erzeugt eigene Wirklichkeiten durch kognitive Tätigkeiten, wobei biographische Erfahrungen, Verwen-dungssituationen und "Viabilitätsüberlegungen" (vgl. Kernaussage 2) eine Rolle spielen. Kognitio-nen, die Prozesse des Wissenserwerbs durch Wahrnehmen, die Wissensrepräsentation durch das Erinnern im Gedächtnis und die Wissensanwendung beim Denken und Handeln (Problemelösen) erlauben dabei keine Repräsentation objektiver, ontischer Welten, keine Repräsentation von Rea-lität.

Ein weiterer wichtiger Aspekt für die Konstruktion von Wissen ist die generelle zirkuläre Organi-sation des menschlichen Gehirns im Sinne einer kybernetischen Maschine. Das Gehirn gleicht nach einem Vergleich von v.FOERSTER (1995) einer nicht-trivialen Maschine11, deren Ergebnis (hier Konstruktion von Wissen) nicht berechenbar, nicht determiniert und somit unbestimmt ist.

Lebewesen, so v.FOERSTER, sind vergangenheitsabhängig und aufgrund (z.T. dadurch bedingter)

"innerer Zustände" unvoraussagbar, sie sind gewissermaßen "undurchschaubar".

WYRWA (1996) differenziert "innere Zustände" aus: "Aufgrund der Vielzahl der daran beteiligten Faktoren, der Komplexität der Abläufe, der Vernetzungen der Abläufe, ihrer Abhängigkeiten von Tagesform, Stimmung, Erfahrungen, also von den

situationalen und temporären Bedingungen des betreffenden perturbierten12 Systems ist ein detail-lierter und differenzierter Einblick in die Trans-formationsprozesse nicht möglich." Das Ergebnis einer Wissenskonstruktion ist aus den genannten Gründen prinzipiell für das konstruierende Sub-jekt und einen Beobachter weder voraussagbar (deshalb der sogenannte Aha-Effekt, von dem der Lernende überrascht ist), noch ist es für den Be-obachter mit Bestimmtheit wahrzunehmen, da Wissens-anwendung nur eine Disposition von neu konstruiertem Wissen ist. Kognitive Prozesse werden deshalb als "emergent13" bezeichnet. Sie laufen in Lebewesen zumeist unbewusst ab (ARNOLD 1996). Die geschilderte Grundannahme

des Konstruktivismus, dass die Wirklichkeit ein Konstrukt des Gehirns darstellt, lässt ROTH (1995, vgl. Abb. 3-6) zwischen einer objektiven, bewusstseinsunabhängigen, transphänomenalen Realität und der Wirklichkeit, die unser Gehirn konstruiert, unterscheiden: ROTHs Begriff der "Realität" ist dabei gleichzusetzen mit Kants "Ding an sich": Nach Kant existieren die Dinge in der uns

11 Von FOERSTER (1993) unterscheidet, um herauszustellen, was Lernen heißt, unter Bezug auf den britischen Mathematiker TURNING, zwischen "trivialen" und "nicht-trivialen" Maschinen. Eine triviale Maschine ist durch eine festgelegte Input-Output-Beziehung (einen Algorithmus) gegenzeichnet, während bei einer nicht-trivialen Maschine der Output durch den Input und den internen Zustand der Maschine bestimmt ist. Diese Zustände sind von der Vergangenheit abhängig und haben Auswirkungen auf die Transformationsregeln.

12 Der Begriff "Perturbation" stammt laut SIEBERT (1999) von MATURANA & VARELA (1987) und bedeutet so viel wie

"Anregung von außen" und kennzeichnet eine "als relevant empfundene Störung unserer Mensch-Umwelt-Beziehung"

(SIEBERT 1996).

13 Nach KÜPPERS & KROHN (1992) bezeichnet Emergenz "das plötzliche Auftreten einer neuen Qualität, die jeweils nicht erklärt werden kann durch die Eigenschaften oder Relationen der beteiligten Elemente, sondern durch eine jeweils beson-dere selbstorganisierende Prozeßdynamik.".

Abb. 3-6: ROTHs (1995) Begriff der Realität Der Körper konstruiert "seine" Wirklichkeit, bestehend aus Umwelt, Körper und Ich.

Grundlagen zum methodischen Ansatz 56 benden Welt nur als Bewusstseinsinhalte. Wie die Dinge "wirklich" beschaffen sind, kann der Mensch niemals erkennen, da seiner Wahrnehmung Grenzen gesetzt sind. Dennoch haben die

"Dinge an sich" einen Einfluss, indem sie die menschlichen Sinne erregen. Dadurch kommt es zu einer Vielzahl von ungeordneten Empfindungen. Damit diese zu Bewusstseinsinhalten werden können, durchlaufen sie nach Kant einen Ordnungsprozeß des Verstandes. Dabei werden An-schauungsformen (Raum und Zeit) und Verstandesbegriffe (Einheit, Vielheit, Wechselwirkung und Notwendigkeit) wirksam. Diese Kategorien sind dem Menschen angeboren, frei von jeder Erfahrung und deshalb "rein". Sie gehören für Kant zum Bewußtsein und nicht zur Welt "an sich"

(vgl. v. GLASERSFELD 1997). "Das "Ding an sich" ist für die menschlichen Erkenntnisse uner-reichbar; vielmehr sind die Dinge in der Wirklichkeit immer nur für uns." (KRÜSSEL 1995).

Die Konstruktion von Wissen auf der Basis der physikalischen Welt ist von einem bestimmten Punkt an abgeschlossen (vgl. WYRWAR 1995). Uneinigkeit besteht darin, ob nach KANT die Wahrnehmungen und Vorstellungen mit Hilfe von im Bewusstsein a priori vorhandenen An-schauungsformen und Verstandesbegriffen geordnet werden oder ob diese ordnenden Strukturen zum Aufbau von Wissen von jedem Individuum erst neu konstruiert werden müssen (Aussage zu KANT vgl. STORCK 1995; Diskussion zur KANTschen Position vgl. Diskussion im Anhang von v.

GLASERSFELD 1997).

Die Prozesse zur Konstruktion von Wissen werden dabei innerhalb organismischer (und sozio-kultureller, vgl. Kernaussage 3, S. 58 ) Ordnungsstrukturen determiniert: Die Konstruktionsmög-lichkeit eines Organismus ist immer an seine eingeschränkten Konstruktionsfähigkeiten gebunden.

Einschränkend wirken dabei einerseits die anatomischen Gegebenheiten des Gehirns (Aufbau, Unterteilung in Arbeitsbereiche, afferente und efferente "Grobverdrahtung" (ROTH 1995) sowie mögliche krankhafte Veränderungen der Strukturen) und andererseits die Funktionsbereitschaft und Leistungsfähigkeit der Sinnesrezeptoren. Eine Folge der eingeschränkten Konstruktionsfähig-keit ist, dass sinnliches Wahrnehmen - eine Voraussetzung zur Konstruktion von Wissen - durch das Denken für das Individuum unbewusst

gesteuert und ergänzt wird (Ein Beispiel für diese z.B. durch Erfahrung gesteuerte Wahrnehmung ist in Abb. 3-7 "sinnlich wahrzunehmen"; vgl. ROTH 1992).

Von ähnlichen Grundannahmen geht PIAGET aus, wenn er argumentiert: Lernen ist ein Äquilibrationsprozess: Jeder Orga-nismus versucht, in Koexistenz mit seiner Umwelt zu leben, indem er sich ihr an-passt. Durch Assimilation, die Einordnung neuen Wissens in vorhandene Klassifika-tions- und Erklärungsmuster, und Akko-modation, die Veränderung dieser kogniti-ven Strukturen aufgrund von Perturbatio-nen, werden dabei interne, zumeist zeitlich beschränkte Gleichgewichte erreicht, die damit den Aufbau "viabler begrifflicher Strukturen" (v. GLASERSFELD 1996) er-möglichen: "Wer seine Erfahrung

organi-Abb. 3-7: Ein Bild, das auf den ersten Blick nur aus bedeutungslosen Klecksen zu bestehen scheint. Wer einmal den Dalmatiner erkannt hat, wird ihn immer wieder erkennen.

(nach ZIMBARDO 1992)

Grundlagen zum methodischen Ansatz 57 siert, organisiert die Welt" (PIAGET 1974). Aussagen über die Welt sind also nicht mehr die "Ent-deckung" eines Teilbereichs der Realität, sondern eine Konstruktion kognitiver Strukturen (PIAGET 1974, 1980). Realität ist also prinzipiell unerkennbar.

Kernaussage 2: Wissen ist eine kognitive Leistung des Subjekts und ermöglicht viable