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Weltgesellschaft und

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2.1.1

Die Weltgesellschaft erscheint im Anthropozän Für die vom WGBU vorgeschlagene Weiterentwick-lung der Meeres-Governance ist entscheidend, dass die Meere das Medium der Globalisierung und die „liquide“

Grundlage der Weltgesellschaft sind. Wenn der Mensch im Holozän erscheint, wie eine Erzählung des Schweizer Romanciers Max Frisch (1979) metaphorisch (und wis-senschaftlich nicht ganz korrekt) besagt, kommt analog die Menschheit im Anthropozän zum Bewusstsein ihrer globalen Vergesellschaftung und Verantwortung. Ent-standen ist und verfestigt hat sich dieses Bewusstsein mit der Erschließung des Globus durch die transkonti-nentale Seefahrt und damit verbundene Himmelsbeob-achtungen. Im Hegelschen Sinne kommt die Mensch-heit auf den Meeren zum globalen Bewusstsein ihrer selbst, beginnend mit den zeitgenössisch noch wenig reflektierten Raubzügen der Wikinger, die im 9.–11.

Jahrhundert bis nach Nordafrika und Nordamerika aus-griffen, nachdem Phönizier, Griechen und Römer über die Kolonisation des Mittelmeeres bereits erste, mee-resbezogene, regionale Identitäten geschaffen hatten.

Bei den Römern geschah dies in Form eines politischen Imperiums (Mare nostrum) und einer universalistischen Rechtsordnung. Der Hansebund und die kolonialen Expeditionen der europäischen Mächte im „Zeitalter der Entdeckungen“ haben dieses globale Bewusstsein gefestigt und sowohl eine Meereskultur wie auch ein auf die Meere bezogenes Recht hervorgebracht. Die-ses Recht trägt insofern universalistische oder globale Züge, als es nicht auf territorialer Begrenzung fußen kann und die Hohe See als globales Gemeinschaftsgut und sinngemäß als „Erbe der Menschheit“ definiert.

Dieses Potenzial gilt es im Zuge der Bewusstwerdung globaler Interdependenzen und „globaler“ Governance

im Sinne eines Weltgesellschaftsvertrags auszubauen.

Die Weltmeere bildeten die natürliche Umwelt des entstehenden internationalen Staatensystems. Die Her-ausbildung moderner Staatlichkeit und der Weltwirt-schaft wurde wesentlich durch die auf den Weltmee-ren vollzogene erste Welle der Globalisierung im Früh- und Hochkolonialismus, zunächst unter portugiesischer und spanischer, dann niederländischer, britischer und schließlich US-amerikanischer Ägide vorangetrieben.

Internationale Beziehungen, Völkerrecht und freier Welthandel entwickelten sich auf dieser Grundlage.

Die Globalisierung, die vor etwa fünfhundert Jahren einsetzte, ist durch die offene See charakterisiert. Die Expansion ins Meer unterscheidet sich wesentlich von der auf den Landflächen, weil sie nicht durch Grenz-markierungen geleitet und behindert war. Dieser spon-tan-praktische Universalismus und Kosmopolitismus kennzeichnen das Seerecht und die weltumspannenden Handels- und Verkehrsbeziehungen, immer im Dualis-mus zur Entwicklung an Land, die auf der Konstitution, Konzentration und Kooperation, aber auch auf der Abschottung und dem exklusiven Geltungsanspruch nationalstaatlicher Systeme beruhte.

Zugleich übernahmen die Meere ausgleichende Funktionen. Das gilt vor allem für die Küstenstädte, die sich durch globale Vernetzung immer ein Stück aus der Umklammerung der nationalen bzw. imperialen Ord-nungen zu befreien trachteten. Touristen und alle die in der Nähe der Meere lebten, entdeckten die Küsten als ästhetisch-utilitären Vorzugsraum und im 19. Jahr-hundert die Strände als Ort der Erholung und Som-merfrische. Hinzu kam der Kreuzfahrttourismus, der sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts vom Privileg der Aristokratie und Oberschichten zum Meeres-Massen-tourismus entwickelte. In dieser Phase vervielfältigten sich die verschiedenen, im Folgenden näher beleuch-teten Nutzungsformen des Allmendeguts Weltmeere (Kap. 1.1), die zu Übernutzung und Verschmutzung geführt haben (Kap. 1). In diese Periode fallen auch erste – mittlerweile als unzureichend erkannte – Nut-zungs- und Schutzregulierungen auf nationaler, regio-naler und globaler Ebene ( du Jourdin, 1993;

Rother-Weltgesellschaft und

Gesellschaftsvertrag 2

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mund, 2002; Weigelin- Schwiedrzik, 2004; Benjamin, 2009; Abulafia, 2011; Thornton, 2012; Winchester und Müller, 2012; Kupperman, 2012; Arthus-Bertrand und Skerry, 2013; Hattingois-Forner, 2013; Roberts, 2013).

2.1.2

Die entstehende Weltgesellschaft und Weltgesellschaftstheorie

Die Verdichtung globaler Trends – wie die Herausbil-dung einer globalen Marktwirtschaft, einer weltwei-ten Kommunikations- und Wissensinfrastruktur, eines den Erdball umspannenden Verkehrs- und Transport-netzes sowie einer zunehmend global vernetzten und agierenden Zivilgesellschaft – hat in den vergange-nen Jahrzehnten schrittweise zur Herausbildung glo-baler Interdependenzen geführt. Diese globalen Ver-flechtungen beeinflussen zunehmend die Entwicklun-gen in den einzelnen Nationalstaaten. Die Meere spie-len als Transportmedium für Güter und Personen nach wie vor eine zentrale Rolle bei der Herausbildung die-ser globalen Zusammenhänge. Heute werden ca. 95 % des globalen Ferngüterhandels (mengenmäßig in Ton-nen) über die See abgewickelt (Flottenkommando der Marine, 2011: 94). Der Personen- und Güterverkehr über die Meere umfasst heute den gesamten Erdball (Abb. 1.1-1).

Wichtiger Bestandteil der globalen Interdependen-zen sind heute auch die von Menschen verursachten globalen Umweltveränderungen, die direkt oder indi-rekt – über den Einfluss von Aktivitäten an Land auf das Meer – das marine Ökosystem betreffen. Wenn das kollektive Ausmaß menschlicher Aktivitäten im Anth-ropozän zu einer dominierenden planetarischen Kraft geworden und die Weltgesellschaft zum zentralen Sub-system des ErdSub-systems avanciert ist, betrifft dies nicht nur die Landoberfläche, sondern ebenso die Welt-meere. Neuere Analysen (Halpern et al., 2008) zeigen, dass heute 40 % der Meere stark durch menschliche Aktivitäten beeinflusst sind, kaum ein Gebiet ist noch unberührt. Werden die Erdatmosphäre, Böden, Wasser und Ressourcen weiter in steigendem Maße übernutzt, droht die Überschreitung planetarischer Leitplanken und damit die irreversible Schädigung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit (WBGU, 1995, 1998, 2000, 2003, 2011; Rockström et al., 2009).

Derartige globale Erdsystemrisiken untergraben die operative Logik der bestehenden nationalstaat-lichen Institutionen, denn sie lassen sich nicht mehr geographisch auf deren Territorium und Zuständigkeit beschränken. Die Globalisierung der Umwelteinflüsse bedeutet, dass wir uns zunehmend alle gegenseitig beeinflussen, egal wo wir leben („ Environmental

glo-balization means that we all increasingly affect each other regardless of where we live“; Harris, 2010: 141).

Zwar sind nicht alle Erdregionen gleichermaßen von den Auswirkungen globaler Umweltveränderun-gen betroffen, es stehen aber auch nicht allen Gesell-schaften die gleichen infrastrukturellen, technischen und ökonomischen Anpassungskapazitäten zur Ver-fügung. Gleichwohl lassen sich in einer „Weltrisikoge-sellschaft“ (Beck, 2007), für die ein historisch einzig-artiges Ausmaß an Konnektivität zwischen einer Viel-zahl von Akteuren konstitutiv ist, verschiedene krisen-hafte Erscheinungen kaum noch regional eingrenzen, was insgesamt die Vulnerabilität des sozialen Systems erhöht (Homer-Dixon, 2006: 112 ff.). So ist ein geschei-terter Staat (failed state) wie Somalia eben nicht nur ein Problem für seine eigene Bevölkerung und Anrainer-staaten wie Äthiopien oder Kenia; die vom somalischen Festland ausgehende Piraterie bedroht auch wichtige internationale Schifffahrtsrouten und hat zu anhalten-den militärischen Operationen wie der NATO, der EU oder China in der Region geführt.

Die räumliche Ausweitung sozialer und ökonomi-scher Verflechtungen bei gleichzeitigem Fehlen eines adäquaten Ordnungsrahmens sowie handlungsfähi-ger internationaler Institutionen haben dazu geführt, dass kein Nationalstaat – so mächtig er auch sein mag – heute noch dazu in der Lage ist, die Probleme, welche sich der Menschheit in einer globalisierten Welt stel-len, alleine zu lösen (Beck, 2007: 356 ff.). Die Ohnmacht nationaler Politikmaßnahmen bleibt nicht auf die Ein-dämmung globaler Umweltprobleme beschränkt, son-dern betrifft auch die wirtschaftlichen und sozialen Problemfelder, die aus einer weitgehend ungesteuerten und beschleunigten Globalisierung resultieren. Damit kehren regional und global Herausforderungen wieder, die durch umweltpolitische und wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen auf nationaler Ebene gelöst zu sein schie-nen (Messner, 2000: 55). Globale Umweltprobleme wie der Klimawandel oder die Bedrohung der Meere, aber auch die globale Finanz- und Wirtschaftskrise wirken wie ein „Makroskop“, das den Menschen das weltum-spannende Netz ihrer Interdependenzen verdeutlicht und die entstehende Weltgesellschaft ins Bewusstsein der Menschheit treten lässt.

Die Bindung des Gesellschaftsbegriffs an den Natio-nalstaat – „methodologischer Nationalismus“ ( Regieren jenseits des Nationalstaates; Zürn, 1998) – hat lange Zeit verhindert, die Welt in ihrer Gesamtheit als sozi-ale Einheit eigener Art zu denken (Greve und Heintz, 2005: 89). Dabei beschreibt Erasmus von Rotterdam bereits im frühen 16. Jahrhundert die Welt als „gemein-sames Vaterland aller Menschen“ (von Rotterdam, 1521; Leggewie, 2001). In den Schriften der französi-schen Freimaurer von 1740 wurde die Welt als große 2 Weltgesellschaft und Gesellschaftsvertrag

Weltgesellschaft und Weltmeere 2.1

65 Republik bezeichnet, der jede Nation als eine

Fami-lie und jedes Individuum als Kind angehöre ( Messner, 2000: 45). Im Jahr 1784 hat Immanuel Kant den Begriff der „Weltbürgergesellschaft“ eingeführt und in seiner Schrift „Zum Ewigen Frieden“ (1795) präzisiert. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde durch zwei Weltkriege und die große Weltwirtschaftskrise geprägt.

Die berühmten Bilder vom „blauen Planeten“, die durch die bemannte Raumfahrt Ende der 1960er Jahre mög-lich wurden, übersetzten sich in das Verständnis von der „Einen Welt“ (Messner, 2000: 45). Diese Bilder stel-len somit eine „objektive“ Entsprechung zur subjekti-ven Selbstvergewisserung auf den Meeren in der frü-hen Neuzeit dar, die in Kapitel 2.1.1 als Bewusstsein der globalen Vergesellschaftung und Verantwortung beschrieben wurde.

Während Begriffe wie „Weltwirtschaft“, „Weltlitera-tur“, „Weltbürger“ oder „Weltfrieden“ Teil des täglichen Sprachgebrauchs sind, bleibt das Konzept der „Weltge-sellschaft“ umstritten (Messner, 2000: 46). Anfang der 1970er Jahre führte eine Reihe von Autoren nahezu zeitgleich und dennoch unabhängig voneinander das Theorem „Weltgesellschaft“ (Greve und Heintz, 2005) in die wissenschaftlichen Debatten ein. Dazu zählen John Burton (1972), Niklas Luhmanns (1975) sys-temtheoretische Weltgesellschaftstheorie, die im Kon-text der Entwicklungssoziologie entstandene Weltge-sellschaftstheorie von Peter Heintz (1974) sowie die World-polity-Theorie von John Meyer (1980). Alle Weltgesellschaftstheorien teilen die Vorstellung, dass im Laufe der historischen Entwicklung ein umfassen-der globaler Zusammenhang entstanden ist, umfassen-der eine eigene Form der Sozialorganisation bildet. Die Weltge-sellschaft zeichnet sich durch nicht reduzierbare Struk-turmerkmale aus, und alle sozialen Prozesse und Ein-heiten sind als Folge dieser sich herausbildenden globa-len Strukturmerkmale aufzufassen (Greve und Heintz, 2005).

Dies unterscheidet Weltgesellschaftstheorien von konventionellen Globalisierungstheorien, die überwie-gend bei der Beobachtung einer zunehmend vernetzten Welt stehen bleiben. „Weltgesellschaft“ hat dagegen eine doppelte Bedeutung. Zunächst meint der Begriff – hier besteht Übereinstimmung mit dem Globalisie-rungstheorem – dass ein globaler Wirkungszusammen-hang entstanden ist, der nationale Grenzen überschrei-tet (Greve und Heintz, 2005: 110). Darüber hinaus seien aber innerhalb dieses globalen Interdependenz-geflechts übergeordnete Strukturen entstanden, die auf die Ereignisse und Prozesse der unteren Systeme-benen einwirken (Greve und Heintz, 2005: 110). Damit sind nicht allein supranationalstaatliche Organisationen gemeint, sondern auch übergeordnete Ordnungsstruk-turen und Institutionen wie eine weltweit zu

beob-achtende makroökonomische Konvergenz (Marktwirt-schaft), transnationale Milieus und Mentalitäten (eine internationale Business Class sowie weltweite Migran-ten-Diasporas) sowie grenzüberschreitende normative Ordnungen (wie Menschenrechte, Demokratisierung, die Rechtsformel „Responsibility to Protect“ usw.).

Diese zweite Bedeutungsebene der Weltgesellschafts-these ist umstritten. Kritiker des Konzeptes argumen-tieren, dass eine Weltgesellschaft ein Minimum an Kon-sens, d. h. einen impliziten oder expliziten Gesellschafts-vertrag voraussetze. Dies sei gegenwärtig nicht gegeben und die Voraussetzungen eines solchen gemeinsamen geteilten Verständnisses – wie vergleichbare sozioöko-nomische Lebensbedingungen oder ein gemeinsames Wir-Gefühl – fehlten (Messner, 2000: 46).

Die sich entwickelnde Weltgesellschaft unterschei-det sich von nationalstaatlich organsierten Gesellschaf-ten vor allem in Bezug auf das Fehlen einer wirksa-men Exekutivgewalt. Im Völkerrecht bilden sich aber vielfältige entsprechende Regularien oder Instituti-onen, deren Bedeutung stetig zunimmt (lex mercato-ria, Welthandelsrecht; WTO und Weltbank; regionale Menschenrechtsgerichtshöfe, Internationaler Seege-richtshof, ständiger Internationaler StrafgeSeege-richtshof, Überwachungsorgane der universellen Menschen-rechtspakte, die „Rio-Konventionen“ zu Klima, Biodi-versität und Desertifikation usw.). Diese Entwicklung findet ihren Niederschlag aber auch in der wachsenden Bedeutung globaler Rating-Agenturen oder privater Schiedsgerichte für Streitschlichtung zwischen trans-nationalen Unternehmen, wie etwa des Intertrans-nationalen Zentrums zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten ICSID (Fischer-Lescano und Möller, 2012: 17 ff.) Das Staatensystem bildet weiterhin die Legitimationsgrund-lage und gewissermaßen das Gerippe dieser supra- und transnationalen Übereinkünfte und Gremien, aber die Nationalstaaten haben kein Gestaltungsprimat: „Die Weltgesellschaft ist eine Gesellschaft ohne Spitze und ohne Zentrum. (...) Diese Dezentrierung und Ausdiffe-renzierung (...) ist janusköpfig. Sie bietet neue Chancen und verändert die Machtverhältnisse, produziert aber auch massive Gefährdungslagen“ (Fischer-Lescano und Möller, 2012: 16 ff.).

Während an der Existenz der Weltgesellschaft im Sinne eines globalen Interdependenzgeflechts kaum noch gezweifelt werden kann, sind übergeordnete Ord-nungsstrukturen bislang in einem unterschiedlichen Maße realisiert.

Erschwert wird der Aufbau globaler Ordnungsstruk-turen und Institutionen durch die vergleichsweise gro-ßen räumlichen sowie die kulturellen und sozialen Distanzen zwischen Akteuren, die an der Genese und Reproduktion globaler Strukturen beteiligt sind (Greve und Heintz, 2005: 111). Das Problem der räumlichen

2 Weltgesellschaft und Gesellschaftsvertrag

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Distanz verlor in der letzten Dekade zunehmend an Gewicht, vor allem durch deutlich erleichterte Reise-möglichkeiten und die Revolution in den Kommuni-kationstechnologien. Das Vorhandensein einer techni-schen Infrastruktur reicht jedoch nicht aus, um welt-umspannende Zusammenhänge entstehen zu lassen:

„Um der kulturellen und sozialen Heterogenität ent-gegenzutreten, bedarf es zusätzlich einer kulturellen, Infrastruktur‘“ (Greve und Heintz, 2005: 112).

Die Meere haben als Globalisierungsmedium wesentlich zur Herausbildung der Weltgesellschaft bei-getragen und stellen noch immer ihr Rückgrat dar. Eine reformierte Meeres-Governance könnte daher auch Anstöße für eine zukunftsfähige Gestaltung der Welt-gesellschaft bieten. Längst hat sich für den Schutz und die nachhaltige Nutzung der Meere ein internationa-ler Ordnungsrahmen herausgebildet (z. B. zu Fischerei, Schifffahrt), der zwar noch weiter entwickelt werden muss, der aber bereits jetzt weit über das Niveau hin-ausreicht, das wir in anderen Bereichen der internati-onalen Beziehungen bzw. zur Governance anderer glo-baler öffentlicher Güter vorfinden (Kap. 3). Trotz der Bedeutung der Meere als Beispiel für ein vergleichs-weise weit entwickeltes internationales Institutiona-lisierungsniveau haben die Meere und die Meeres-Governance in den verschiedenen Versuchen zur Theo-retisierung der Weltgesellschaft bislang kaum Berück-sichtigung gefunden.

2.1.3

Die kosmopolitische Herausforderung

Die Entstehung der Weltgesellschaft ist weder auto-matisch friedensfördernd noch führt sie gerade-wegs zu mehr Wohlfahrt. Die politische sowie insti-tutionell-rechtliche Einhegung der marktgetriebenen Globalisierungsprozesse ist eine der Zukunftsaufga-ben des 21. Jahrhunderts (Messner, 2010: 53, 71). Eine Möglichkeit, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich die politischen Entscheidungsspielräume wie-der vergrößern, liegt in wie-der Etablierung „kosmopoliti-scher Formen der Staatlichkeit“ (Beck 2007: 128), wie sie im Prozess der europäischen Integration, der Her-ausbildung internationaler Organisationen sowie ver-schiedener Varianten der Global Governance zum Aus-druck kommen (Beck, 2007: 126 ff.). Die Europäisie-rung und – auf globaler Ebene – KosmopolitisieEuropäisie-rung des politischen Ordnungsrahmens wie auch der Institu-tionen böten nicht nur die Möglichkeit, Probleme wie die globale Finanz- und Wirtschaftskrise, sozioökono-mische Ungleichheit oder auch die Herausforderungen, vor welche uns globale Umweltveränderungen wie die Schädigung der marinen Ökosysteme stellen, effektiver

zu bearbeiten. Hieraus ergäben sich auch grundlegend neue Partizipations- und Demokratiemöglichkeiten;

die Weltgesellschaft muss nicht zwangsläufig in einer undemokratischen Weltregierung münden, wie mah-nende Stimmen befürchten. Beispielsweise verfügen heute an vielen Orten der Welt Menschen über keine oder nur eingeschränkte politische Teilhaberechte, weil ihre nationalstaatliche Zugehörigkeit nicht mit dem Staat identisch ist, in dem sie leben. Wie Formen der

„kosmopolitischen Demokratie“ (Gilroy, 2004: 7) genau aussehen könnten, ist aber gegenwärtig noch nicht zu sagen; Paul Gilroy spricht daher auch von einem

„ cosmopolitan yet-to-come“ (Gilroy, 2004: 334).

Solche kosmopolitischen Perspektiven sowie Diskussionen um die Weltgesellschaft und eine Welt-regierung werden in der Regel als realitätsfern und Wunschdenken abgetan. Doch ist Kosmopolitismus nicht länger ein utopisches Prinzip sozialwissenschaft-licher bzw. philosophischer Elfenbeinturmdebatten, sondern im Erdzeitalter des Menschen die Einsicht in bereits existierende Zwänge und Interdependenzen.

Aus dieser Perspektive sind nicht die Verfechter einer kosmopolitischen Ordnung welt- und realitätsfremd, sondern all jene, die in einer global verflochtenen Welt am primären Organisationsrahmen des Nationalstaats festhalten wollen (Beck, 2007).

Die Unzulänglichkeit der internationalen Koopera-tionen und InstituKoopera-tionen, die z. B. bei der politischen Bearbeitung des anthropogenen Klimawandels oder der Weltfinanz- und -wirtschaftskrise beobachtet wer-den kann, darf nicht wer-den Blick darauf verstellen, dass bereits zahlreiche globale Institutionen existieren, die mehr oder weniger gut funktionieren. So z. B. die Weltbank, die Weltgesundheitsorganisation, aber auch internationale Nichtregierungsorganisationen wie das Rote Kreuz, Amnesty International oder Greenpeace.

Für Schutz und Nutzung der Meere gibt es heute bereits umfassende internationale Arrangements, wie das UN-Seerechtsübereinkommen (UNCLOS) oder private Initi-ativen transnationalen Zuschnitts, wie den Marine Ste-wardship Council (MSC; Kap. 3.5.2).

Die Existenz solcher transnationalen Institutionen bedeutet selbstverständlich nicht, dass die starken Widerstände außer Acht gelassen werden können, die der Etablierung kosmopolitischer Formen der Gover-nance entgegenwirken. Dieser Widerstand kann von nationalen politischen Entscheidungsträgern ausgehen, die Machtverlust fürchten, oder von Akteuren der Wirt-schaft, deren Gewinninteressen die organisierte globale Unverantwortlichkeit in die Karten spielt. Nicht zu ver-nachlässigen ist auch die Bedeutung der angewöhnten Fixiertheit auf den Nationalstaat („Habituszwang“), die es Menschen heute erschwert, sich mit übernational-staatlichen gesellschaftlichen Einheiten und

Institutio-Ein Gesellschaftsvertrag für die Meere 2.2

67 nen zu identifizieren (Elias, 1987: 301 ff.). Beobachtet

werden kann dies etwa im europäischen Einigungspro-zess. Diese Widerstände sind enorm und es ist möglich, dass alle Bemühungen, eine Kosmopolitisierung des Institutionsgefüges herbeizuführen, scheitern werden.

Die Schwierigkeit besteht darin, einerseits das Denken und Empfinden („Wir-Gefühle“) und andererseits die sozialen und politischen Institutionen mit den faktisch bereits bestehenden globalen Verflechtungen in Ein-klang zu bringen. In diesem Sinne beschreibt Kosmo-politismus nicht einfach den Namen einer Lösung, son-dern einer Herausforderung (Appiah, 2007: 11).

2.1.4

Die globale Wertschätzung der Meere

„Wir müssen die Meere in unser Herz schließen“ erklärte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich einer Meeresschutzkonferenz ihrer Partei im Jahr 2011 (Merkel, 2011). Sie hat damit einerseits überrascht, da die Meere und ihr Zustand in Deutschland kein Spit-zenthema sind, andererseits breite Zustimmung her-vorgerufen, da auch in Deutschland die Meere von der Bevölkerung als sehr wichtig bewertet werden und ihr Schutz hohe Priorität genießt. Dieser Befund aus vergleichenden demoskopischen Umfragen und eini-gen wenieini-gen Hinweisen aus dem World Value Survey (WVS, 2011) wird bestätigt durch empirische Detail-studien in den USA, Neuseeland, Australien, Großbri-tannien und anderen Ländern (Spruill, 1997; Arnold, 2004; Sesabo et al., 2006; Mee et al., 2008; Whitmarsh und Palmieri, 2009; Freeman et al., 2012; Halpern et al., 2012; Ressurreição et al., 2012; Ranger et al., o. J.). Dabei wurden u. a. die Errichtung von Meeresschutzgebieten, die Notwendigkeit einer ökosystemaren Meeresraum-planung und die Umsetzung der europäischen Meeres-schutzrichtlinien thematisiert. Diese Studien zeigen, dass

> die Meere unter den ökologischen Krisen in der öffentlichen Wahrnehmung nicht an erster Stelle ran-gieren, dass aber das Verständnis für ihre zentrale Rolle im Umweltsystem und beim Umweltschutz gewachsen ist;

> die generelle Öffentlichkeit mit den Meeren starke positive Assoziationen und gefühlsmäßige Bindungen verbindet. Das Motiv der Nachhaltigkeit wird am Beispiel der Meere besonders plausibel, d. h.: der Ver-zicht auf nicht nachhaltige Nutzung wird im Blick auf die Erhaltung der Meeresqualität gesellschaftlich breit befürwortet;

> die Öffentlichkeit die Meere überwiegend für bedroht hält und allgemein eine stärkere Regulierung und mehr Schutzanstrengungen und eine Erweiterung der Schutzgebiete befürwortet. Sie vermutet ein höheres

Schutzniveau als es tatsächlich gibt. Dem Schutz der Küsten wird eine leicht höhere Präferenz eingeräumt als dem Schutz der Tiefsee, Einträge von Land werden als gefährlicher bewertet als z. B. die negativen Folgen der Überfischung;

> die Öffentlichkeit Forschungs- und Erholungsaktivi-täten zum bzw. am Meer befürwortet und kommer-ziellen Nutzungen gegenüber eher zurückhaltend bis skeptisch gegenüber steht.

Dieser Befund wirft Handlungsdilemmata und For-schungsfragen auf. Erstens sollte die generelle Bewer-tung der Meere und ihres Schutzes differenzierter als bisher und im Zeitverlauf abgefragt werden. Dabei soll-ten (1) Positionen wichtiger Akteure (der Fischerei- und Aquakulturindustrien, der Natur- und Umwelt-schutzverbände, der Tourismusbranche) mit den gene-rellen Einstellungen und Werthaltungen ermittelt, (2) stärker nach kulturellen Traditionen, Einkommen und geografischer Lage differenziert, sowie (3) sektorale Vorhaben und Planungen besser mit ökosystemischen

Dieser Befund wirft Handlungsdilemmata und For-schungsfragen auf. Erstens sollte die generelle Bewer-tung der Meere und ihres Schutzes differenzierter als bisher und im Zeitverlauf abgefragt werden. Dabei soll-ten (1) Positionen wichtiger Akteure (der Fischerei- und Aquakulturindustrien, der Natur- und Umwelt-schutzverbände, der Tourismusbranche) mit den gene-rellen Einstellungen und Werthaltungen ermittelt, (2) stärker nach kulturellen Traditionen, Einkommen und geografischer Lage differenziert, sowie (3) sektorale Vorhaben und Planungen besser mit ökosystemischen

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