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Governance anthropogener

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Meeresnutzung 3

3 Governance anthropogener Meeresnutzung

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3.1.2

Anforderungen an die Meerespolitik aufgrund von Wissensdefiziten

Darüber hinaus ist für die Gestaltung der Meerespo-litik bedeutsam, dass wissenschaftliche Unsicherheit und Nichtwissen über die zukünftige Entwicklung der Meere besteht (Kap. 1.2, 1.3). Die komplexen Inter-aktionen zwischen den Ökosystemen und ihren nut-zungsbedingten und externen Bedrohungen sind viel-fach noch nicht verstanden oder nicht vorhersagbar.

Auch die Wirkungen zukünftiger anthropogener Ein-flüsse sind heute nur begrenzt vorhersagbar. Ebenso sind künftige Nutzungsmöglichkeiten und gesellschaft-liche Bedingungen, unter denen in der Zukunft Ent-scheidungen getroffen werden, unbekannt. Diese Unsi-cherheiten sollten jedoch nicht zum Anlass genommen werden, Maßnahmen zum Schutz und zur nachhalti-gen Bewirtschaftung der Meere zu unterlassen. Auf-grund des besorgniserregenden Zustands der Meere ist vorsorgliches Handeln unabdingbar. Deshalb sollte auch das Vorsorgeprinzip (Kap. 1.4.2.2), das in der Umwelt- und Entwicklungspolitik seit langem etabliert ist, berücksichtigt werden. Das Vorsorgeprinzip ist ein zweites zentrales Kriterium für eine zukunftsorientierte Governance der Meere.

Da sich die Meere und das Erdsystem im Wandel befinden, ist eine dem nachhaltigen Umgang mit den Meeren verpflichtete Meerespolitik zudem auf eine Weiterentwicklung der Wissensbasis angewiesen. Das Wissen über die Ökosystemstrukturen und -dynamiken sollte vertieft werden, um die Entscheidungsgrund-lage für die Politik zu verbessern. Wichtig ist hierbei die zeitnahe Nutzbarkeit des sich weiter entwickeln-den Wissens für entwickeln-den Umgang mit entwickeln-den Meeren, also ein adaptives Management. Aus Sicht des WBGU ist adaptives Management ein weiteres Kriterium, dem die Governance der Meere gerecht werden sollte. Es soll im Sinne eines Lernprozesses zur iterativen Verbesserung von Schutz und Bewirtschaftung der Meere beitragen (Costanza et al., 1998).

Die zeitnahe Verfügbarkeit neuen Wissens setzt transparente Informationen, vor allem den Zugang zu relevanten Daten, für alle Akteure voraus. Die Sicher-stellung transparenter Informationen ist nach Ansicht des WBGU daher ein weiteres Kriterium, dem die Governance der Meere gerecht werden sollte. Dieses Kriterium ist auch für weitere, aus der Eigenschaft der Meere als globales Kollektivgut abgeleitete, Kriterien bedeutsam, etwa die Sicherstellung partizipativer Ent-scheidungsstrukturen (Kap. 3.1.4).

3.1.3

Meere als globales Kollektivgut

Der WBGU betrachtet die Meere als globales Kollektiv-gut, das öffentliche Güter wie Ökosysteme und Öko-systemleistungen sowie Allmendegüter in Form einzel-ner biologischer und nicht biologischer Ressourcen für die Menschheit bereitstellt (Kap. 1, 2; Kasten 3.1-1).

Als Kollektivgüter werden Güter betrachtet, von deren Nutzung aus technischen oder aus gesellschaftli-chen Gründen niemand ausgeschlossen werden kann.

Gleichzeitig kann bei Kollektivgütern Nicht-Rivalität im Konsum auftreten, d. h. dass alle Nutzer ein Gut gleich-zeitig uneingeschränkt nutzen können. Deshalb werden Kollektivgüter nicht über Märkte angeboten, sondern kollektiv über Kooperation erzeugt (Kaul et al., 1999).

Eine Unterkategorie von Kollektivgütern sind All-mendegüter oder sogenannte Poolressourcen wie marine biologische Ressourcen. Marine biologische Ressourcen sind begrenzt, z. B. Fischbestände, und häufig nicht stationär, so dass es bei freiem Zugang oder ungeregelter Nutzung zu einer Übernutzung oder zu einer Degradierung der Ressource kommen kann ( Hardin, 1968; Ostrom, 1990). Bei Allmendegütern besteht Rivalität im Konsum, da die Nutzung der Res-source von einer Person oder einem Staat negative Aus-wirkungen auf die Nutzungsmöglichkeit aller anderen Nutzer hat (Ostrom, 1990; Posner und Sykes, 2010).

Sowohl die Überwindung der „Tragik der Allmende“

(Hardin, 1968; Kap. 1.4.2.3) als auch das Angebot von globalen Kollektivgütern, z. B. von globalem Mee-resschutz, erfordert aufgrund kollektiver Rationalität die Kooperation aller Beteiligten und die Entwicklung von Regeln für den Umgang mit dem globalen Kollek-tivgut (North, 1992; Kaul et al., 1999; Vogler, 2012).

Individuell rational ist es, sich nicht an der Koopera-tion zu beteiligen und keine Kosten zu tragen, son-dern die sogenannte Freifahrerposition einzunehmen ( Weimann, 2010). Diese soziale Dilemmata-Situation fördert die Übernutzung der Meere und macht Investi-tionen in die Bereitstellung mariner Ökosystemleistun-gen für den Einzelnen ökonomisch unattraktiv (Posner und Sykes, 2010).

Aufgrund der grenzüberschreitenden Natur mariner Ökosysteme, ihrer Leistungen sowie ihrer Bedrohun-gen, versagen nationalstaatliche RegulierunBedrohun-gen, da sie das Problem grenzüberschreitender negativer Externa-litäten und das internationale Freifahrerproblem nicht lösen können (Posner und Sykes, 2010). Diese soziale Dilemmata-Situation lässt sich für globale Kollektivgü-ter wie die Meere oder marine Ressourcen nur durch die Kooperation aller Nationalstaaten und die Verein-barung von Regeln im Umgang mit den Kollektivgü-tern auflösen. Gleichzeitig muss kollektiv vereinbart

Spezifika der Meere 3.1

73 werden, wie das internationale Freifahrerverhalten

ausgeschlossen oder sanktioniert wird (Sandler, 1998;

Weimann, 2010).

Soziale Dilemmata bestehen in ganz besonderer Weise bei Maßnahmen, die sich erst langfristig auszah-len, aber heute bereits Kosten verursachen, z. B. nach-haltige Fischerei (Kap. 4.1). Individuell gesehen ist nachhaltige Fischerei nicht rational, kollektiv gesehen wäre sie jedoch rational: Es kommt zu einer Übernut-zung der Fischbestände und über die Zeit hin zu einem Verlust der Nutzungsmöglichkeiten der Allmende. Eine verzerrte Anreizstruktur kann zur Entwicklung nicht nachhaltiger Geschäftsmodelle für die Bewirtschaf-tung globaler Allmendegüter führen und die Über-windung der sozialen Dilemmata-Situation verhindern (Kap. 3.1-1).

Elinor Ostrom hat auf der Basis zahlreicher Fallstu-dien untersucht, wie lokale Gemeinschaften die sozi-ale Dilemmata-Situation für loksozi-ale Allmendegüter wie Wälder, Wasserversorgung, Weideland usw. durch die Entwicklung von Regeln überwunden haben (Ostrom, 1990, 2009a; Ostrom et al., 1999; Cox et al., 2010).

Aus diesen Studien lassen sich verschiedene Maßnah-men ableiten, die für die Ausgestaltung von Regeln im Umgang mit Kollektivgütern konstitutiv sind:

> eindeutige Grenzen zwischen Nutzern und Nicht-nutzern definieren;

> Kohärenz von lokalen sozialen und ökologischen Gegebenheiten sicherstellen;

> das Prinzip gemeinschaftlicher Entscheidungen durchsetzen;

> das Monitoring von Nutzungen sicherstellen;

> Konfliktlösungsmechanismen einrichten;

> Sanktionsmechanismen etablieren;

> die Anerkennung der Rechte lokaler Nutzer sicher-stellen;

> ineinander verschachtelte, nicht hierarchische Ebenen der Entscheidungsfindung etablieren.

Das Kollektivgut Meer wird von vielen Akteuren mit unterschiedlichen Interessen genutzt (Kap. 2). Diese Konstellation sowie die sich in den letzten 20 Jahren stark ausgeweiteten globalen Verflechtungen unter-graben die Logik der bestehenden nationalstaatlichen Institutionen, denn diese Akteurskonstellationen und Verflechtungen lassen sich nicht mehr geographisch auf deren Territorium und Zuständigkeit beschränken.

Zur Internalisierung externer Effekte bei der Meeresnutzung und beim Meeresschutz ist es entschei-dend, dass Nutzungsrechte im ökonomischen Sinne am Kollektivgut Meer definiert und zugewiesen werden (Kaul et al., 1999; Costanza et al., 1999; Gawel, 2011).

Gleichzeitig sollten lokale, regionale und nationale Nut-zungsregelungen in das globale Nutzungsregime einge-bettet und das Trittbrettfahrerverhalten auf jeder Gover-nance-Ebene unterbunden werden. Kaul et al. (1999) stellen dazu fest, dass die Entkopplung von nationa-ler und internationanationa-ler Politik behoben werden muss.

In diesem Kontext sollten Regeln für gemeinschaftli-che Entsgemeinschaftli-cheidungen entwickelt werden, um die sozia-len Dilemmata überwinden (Kap. 2). Globale Koopera-tionsmechanismen sind ein weiteres Kriterium für die Bewertung der Governance des globalen Kollektivguts Kasten 3.1-1

Die Meere als globales Kollektivgut –

Nicht nachhaltige Geschäftsmodelle als Folge falscher Anreize

Die bisherigen Geschäftsmodelle der maritimen Wirtschaft wie Fischerei, Transport oder Bergbau sind meist auf kurz-fristigen Nutzen ausgerichtet und daher nicht nachhaltig.

Langfristige Wirkungen einzelner Nutzungen, wie etwa der Fischerei, der Gewinnung von Öl und Gas oder auch der Abwassereinleitung sowie die Interdependenzen zwischen den verschiedenen Nutzungsformen werden von den jewei-ligen Nutzern häufig nicht berücksichtigt. Hierbei besteht eine für negative Externalitäten typische Konstellation, bei der die einzelnen Akteure keine Anreize haben, längerfris-tig zu denken. Neben fehlenden bzw. falschen Anreizen wird die Kurzfristigkeit der unternehmerischen Geschäftsmodelle auch dadurch begünstigt, dass viele aktuelle Meeresnutzer (auf der Produzenten- wie der Konsumentenseite) von diesen Geschäftsmodellen profitieren und auf der politischen Ebene entsprechendes Lobbying betreiben (WBGU, 2011).

Das grundsätzliche Spannungsfeld zwischen kurzfristigen Interessen und der Gewinnmaximierung und langfristigen,

z. T. irreversiblen Schäden und Kosten ist auch für andere globale Kollektivgüter bestimmend: Biodiversitätsverlust, Habitatverlust und Klimawandel werden durch kurzfristig ausgerichtete Geschäftsmodelle und die Kurzfristorientie-rung politischer Systeme verursacht; die entsprechenden Langzeitfolgen (wie Kipppunkte, schleichende Übernutzung) und auch die Kosten werden auf künftige Generationen ver-schoben (WBGU, 2011). Ein prominentes Beispiel hierfür ist der Klimawandel: Trotz wissenschaftlichem Konsens ist die Menschheit auf dem Weg, die 2 °C-Leitplanke zu überschrei-ten (WBGU, 2009b).

Der ehemalige Weltbank-Chefökonom Nicholas Stern hat bereits 2006 dargelegt, dass Investitionen in die Vermeidung von Treibhausgasemissionen kostengünstiger sind als Anpas-sungsmaßnahmen an die schädlichen Auswirkungen des Kli-mawandels (Stern, 2006). Investitionen in die Vermeidung müssten jedoch in der Gegenwart getätigt werden, während notwendige Anpassungsmaßnahmen, vor allem in westlichen Industrienationen, erst in der Zukunft erwartet werden. Mit einem ähnlichen Widerspruch zwischen kurzfristigen Kosten und langfristigen Erträgen haben wir es auch im Zusammen-hang mit der Nutzung und dem Schutz von Meeren zu tun (WBGU, 2009b; 2011).

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Meer (WBGU, 2011; Kap. 3.1.4).

Ostrom (2009b) spricht in diesem Zusammenhang auch von einer polyzentrischen Governance, die ange-sichts der mit globalen Kollektivgütern wie der Atmo-sphäre oder den Meeren verbundenen Herausforde-rungen notwendig sei. Hiermit wird unterstrichen, dass die globale Governance-Architektur auf eine Viel-zahl öffentlicher und privater Akteure, global bis lokal, abgestimmt werden muss. Global kollektives Handeln erfordert systemisches Denken (Kap.1.4.2.1, 3.3.1), adäquate Partizipationsmöglichkeiten für gesellschaft-liche Akteure und eine Aufgabenteilung nach dem Sub-sidiaritätsprinzip (Kap. 2). Das SubSub-sidiaritätsprinzip erfordert im Verständnis des WBGU, dass die Kompe-tenz für zu lösende Aufgaben zunächst auf der unteren Ebene liegen soll. Die nächsthöhere Ebene ist erst zum Handeln legitimiert, wenn sie Strategien für eine nach-haltige Nutzung der Meere effizienter umsetzen und finanzieren kann (WBGU, 2003: 152). Globale Regel-werke sollten genügenden Handlungsspielraum las-sen, um regional angepasste Lösungskonzepte auszu-arbeiten und zu implementieren (WBGU, 2011). Der WBGU erachtet subsidiäre Entscheidungsstrukturen als ein weiteres zentrales Kriterium für die Governance der Meere, weil sie Akzeptanz und Effektivität verbes-sern helfen (Kap. 3.1.4). Alle relevanten Akteure soll-ten frühzeitig in die Gestaltung des Umgangs mit dem globalen Kollektivgut Meer einbezogen werden. So kann die „Passgenauigkeit“ von Regeln und auch ihrer Umsetzbarkeit gewährleistet werden. Partizipative Ent-scheidungsstrukturen sind daher ein weiteres wichtiges Kriterium für eine erfolgreiche Governance der Meere.

Da globale Kollektivgüter grundsätzlich Gefahr lau-fen, einem Marktversagen zum Opfer zu fallen, d. h. dass aus individuell rationalen Erwägungen eine kurzfristige Gewinnmaximierung angestrebt wird und die damit verbundenen externen Kosten auf die Allgemeinheit (und hier insbesondere auf zukünftige Generationen, Kasten 3.1-1) abgewälzt werden, sollte die Governance der Meere entsprechende Anreize für die Entwicklung langfristiger, nachhaltiger Geschäftsmodelle setzen (WBGU, 2011). Der WBGU erachtet daher Anreize zu Innovationen für nachhaltige und risikoarme Meeres-nutzungen als ein weiteres zentrales Kriterium für eine erfolgreiche Governance der Meere (Kap. 3.1.4).

Das Vorhandensein einer attraktiven und effizienten Anreizstruktur ist eine grundlegende Voraussetzung auch für die Überwindung nationalstaatlicher Partiku-larinteressen und deren Einbindung in die internatio-nale Zusammenarbeit (Kap. 2; WBGU, 2011). Es soll-ten also neben Mechanismen zur Allokation von Nut-zungsrechten auch Regeln zur Verteilung der Gewinne aus der Nutzung und der Kosten für den Schutz etab-liert werden. Diese Verteilungsmechanismen sollten auf

Gerechtigkeitsprinzipien basieren. Aus Sicht des WBGU sollte die Governance der Meere also über faire Ver-teilungsmechanismen für die Kosten- und Nutzentei-lung sowohl zwischen Staaten als auch zwischen ver-schiedenen Verwaltungsebenen eines Staates verfügen (WBGU, 2009b).

Die Einhaltung von Regeln kann teilweise auch dadurch sichergestellt werden, dass ihre materielle und prozedurale Ausgestaltung von allen Akteuren als gerechtfertigt und sinnvoll akzeptiert wird (Kap. 2;

Mitchell, 1994; WBGU, 2011). Die Verteilung von Kosten und Nutzen nach einem Mechanismus, des-sen inhaltliche Ausgestaltung als fair angesehen wird und dessen Zustandekommen unter Einbeziehung möglichst vieler Akteure stattgefunden hat, wird aller Wahrscheinlichkeit nach eher befolgt werden als einer, der materiell und prozedural gegenteilig ausgestal-tet ist. Letztlich können Interessendivergenzen jedoch nie in Gänze durch Verhandlungen aufgelöst werden.

Anreize zur Nichteinhaltung der Regelungen (non-compliance) bleiben also für einzelne Akteure bestehen (Mitchell, 1994). Auch durch sich verändernde Rah-menbedingungen (z. B. Zugang zu neuen Ressourcen in der Arktis aufgrund des Abschmelzens der arktischen Eismassen) können neue, in vorher verhandelten Über-einkommen nicht berücksichtigte Konflikte auftreten.

Daher sind Konfliktlösungsmechanismen notwendig, um eine Abstimmung der sich dynamisch entwickeln-den Nutzungsinteressen sicherzustellen. Nicht zuletzt sind auch Sanktionsmechanismen erforderlich, um die Einhaltung vereinbarter Regelungen zu gewährleisten und Freifahrerverhalten auszuschließen.

3.1.4

Prüfsteine zur Bewertung der bestehenden Governance der Meere

Die Prüfsteine zu Bewertung der bestehenden Gover-nance der Meere beruhen auf den skizzierten beiden grundlegenden Betrachtungsweisen bzw. handlungs-leitenden Prinzipien „systemischer Ansatz“ und „Vor-sorgeprinzip“ (Kap.1.4.2, 7.1.2, 7.1.3). Des Weiteren bezieht der WBGU die in Kapitel 3.1.1 bis 3.1.3 dar-gestellten Kriterien in die Prüfung ein, die zur Ana-lyse der bestehenden Meeres-Governance auf den ver-schiedenen Ebenen von lokal bis global dienen sollen.

Diese zehn Kriterien berücksichtigen sowohl die Spe-zifika der Meere als auch generelle Anforderungen an Governance.

> Der systemische Ansatz (Kap. 3.1.1) soll im Gegen-satz zu den heute üblichen sektoralen Ansätzen dazu beitragen, dass Schutz, Nutzungen und Belastungen mitsamt ihrer Wechselwirkungen beim Umgang mit

Spezifika der Meere 3.1

75 den Meeren in einer Gesamtschau integriert werden.

Der Ansatz beinhaltet vier Ebenen: Erstens sind Meeresökosysteme selbst komplexe Systeme, die nach einem „ökosystemaren Ansatz“ geschützt und genutzt werden sollten (CBD, 2000, 2004c). Zwei-tens sollten auch Land/Meer-Interaktionen berück-sichtigt werden. Zudem sollten drittens die Kopp-lungen im Erdsystem berücksichtigt werden. Vier-tens sollte berücksichtigt werden, dass auf allen diesen Ebenen komplexe und dynamische Wechsel-wirkungen zwischen Gesellschaft und Natur beste-hen.

> Das Vorsorgeprinzip (Kap. 3.1.2) sieht vor, dass nach dem (neuesten) Stand von Wissenschaft und Tech-nik Vorsorge gegen mögliche Umweltschäden getrof-fen wird, auch wenn keine vollständige Gewissheit über die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Schadens oder die Schadenshöhe besteht. Bei komplexen Sys-temen, zu denen die Meeresökosysteme mitsamt ihrer Land/Meer-Interaktionen gehören, ist die Anwendung des Vorsorgeprinzips besonders wich-tig, da ihre Reaktion auf Einflüsse oder Störungen schwer abschätzbar ist.

> Adaptives Management (Kap. 3.1.2) zielt darauf, die Wissensbasis für die Governance kontinuierlich zu verbessern und sie zeitnah für den Umgang mit den Meeren zu nutzen. Adaptives Management soll im Sinne eines Lernprozesses das Wissen über Ökosys-temstruktur und -dynamik vertiefen und somit Schutz und Bewirtschaftung der Meere iterativ ver-bessern.

> Transparente Informationen (Kap. 3.1.2) stellen sicher, dass die relevanten Daten für alle Akteure zugänglich sind.

> Eine klare Zuweisung von Nutzungsrechten (Kap. 3.1.3) ist notwendig, um die Übernutzung des Kollektivguts Meer zu verhindern. Dies ermöglicht die Ausschließbarkeit von Nutzern und somit eine Koordinierung der Nutzung, sei es über Märkte oder über Verhandlungen. Zudem können die gesellschaft-lichen Kosten der Nutzung nach dem Verursacher-prinzip den Nutzern angelastet werden, so dass die externen Kosten internalisiert werden.

> Ohne ein bisher nicht erreichtes Niveau globaler Kooperationskultur und globaler Kooperationsme-chanismen (Kap. 3.1.3) sind Schutz und nachhaltige Nutzung des globalen Kollektivguts Meer unmög-lich. Globale Kooperation ist Grundlage für die Ent-wicklung internationaler Übereinkommen für Mee-resschutz und -nutzung sowie für deren gemein-schaftliche Umsetzung.

> Subsidiäre Entscheidungsstrukturen (Kap. 3.1.3), die Entscheidungskompetenzen primär bei dezentralen Entscheidungsträgern auf regionaler oder lokaler

Ebene und sekundär bei zentralen internationalen Stellen ansiedeln, sind für die Akzeptanz globaler und nationaler Regulierungen entscheidend. Darü-ber hinaus wird durch eine derart verstandene Sub-sidiarität die effiziente Durchsetzung der Regulie-rungen erleichtert.

> Partizipative Entscheidungsstrukturen (Kap. 3.1.3) ermöglichen es, Interessen offenzulegen und führen zu Entscheidungen, die für alle Akteure nachvoll-ziehbar sind.

> Anreize für Innovationen (Kap. 3.1.3) für eine nach-haltige und risikoarme Nutzung der Meere sollen Akteure belohnen, die statt kurzfristiger Gewinnma-ximierung langfristig gedachte, nachhaltige Geschäfts-modelle für Nutzung und Schutz der Meere entwi-ckeln.

> Faire Verteilungsmechanismen (Kap. 3.1.3) sollen die gerechte Aufteilung der Gewinne aus mariner Res-sourcennutzung sowie der Kosten z. B. von Schutz, Monitoring, Überwachung und Sanktionierung gewährleisten. Dies gilt für die Kosten- und Nutzen-teilung sowohl zwischen Staaten als auch zwischen verschiedenen Verwaltungsebenen eines Staates.

> Konfliktlösungsmechanismen (Kap. 3.1.3) sind not-wendig, um die vielfältigen Nutzungsinteressen ver-schiedener Akteure (z. B. Staaten und Individuen) abzustimmen.

> Sanktionsmechanismen (Kap. 3.1.3) auf den ver-schiedenen Governance-Ebenen sind zentrale Inst-rumente, um die Einhaltung von Nutzungsregelun-gen durchzusetzen.

3.1.5

Gemeinsames Erbe der Menschheit

Das Konzept „Gemeinsames Erbe der Menschheit“ ist für globale Kollektivgüter im 20. Jahrhundert entwi-ckelt und im Zeitgeist der 1960er Jahre als Konzept in vier internationalen Abkommen (UN-Weltraumvertrag von 1967, UN-Seerechtsübereinkommen 1982, Ant-arktis-Vertrag 1961 und Welterbekonvention 1972) verankert worden (Baslar, 1998; Taylor, 2012). Als ethisch-rechtstheoretischer Ansatz beinhaltet das Kon-zept „Gemeinsames Erbe der Menschheit“, dass globale Kollektivgüter – wie der Weltraum, die Atmosphäre, der Meeresboden, oder die Antarktis – allen Menschen gehören, heute und in Zukunft, so dass nationale Sou-veränitätsrechte nicht beansprucht werden können.

Für die internationale Umweltpolitik bedeutet dies, dass die natürlichen Ressourcen der Erde erhalten und geschützt werden sollen, damit sie auch von zukünf-tigen Generationen genutzt werden können (Baslar, 1998).

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Das gemeinsame Eigentum an globalen Kollektivgü-tern, das mit dem Ansatz des Gemeinsamen Erbes der Menschheit verbunden wird, erfordert einen Sachwal-ter, ein ausschließlich friedlichen Zwecken dienendes Schutz- und Nutzungsregime sowie eine Teilungsregel, so dass die Vorteile und Kosten des Regimes gerecht verteilt werden (Wolfrum, 1983; Baslar, 1998; Taylor, 2012). Die Weltgemeinschaft übernimmt die Ver-antwortung für den Erhalt und die Nutzung globaler Umweltgüter und hat als Nutzer der globalen Umwelt-güter mithin kooperativ auch den Schutz zu organisie-ren und zu gestalten sowie die Vorteile der Nutzung und ihre Kosten gerecht zu verteilen.

Im Zeitalter des Anthropozäns und den Erfordernis-sen einer nachhaltigen Entwicklung (Kap. 1.4) ergibt sich zudem eine neuartige Verantwortlichkeit der Staatengemeinschaft, die natürlichen Lebensgrundla-gen der Menschheit zu erhalten (WBGU, 2011). Das Anthropozän erfordert eine neue Ethik, damit der Mensch seiner gestaltenden Verantwortung gerecht werden kann. Bezogen auf die Meere bedeutet dies, dass die spezifischen Eigenschaften der Meere berück-sichtigt werden (Kap. 3.1.1, 3.1.2). Aus dem Ansatz der nachhaltigen Entwicklung folgen die Gerechtigkeits-normen der intra- und intergenerationellen Gerech-tigkeit, die für Schutz und Nutzung der Meere zentral sind (Kap. 3.2). Folglich bedarf das globale Kollektivgut Meer im 21. Jahrhundert eines erweiterten Schutz- und Nutzungsregimes, um der Verantwortung des Men-schen im Anthropozän gerecht zu werden (Kap. 7).

Es stellt sich also die Frage, inwiefern die bereits in den 1960er Jahren von Arvid Pardo und Elisabeth Mann Borgese entwickelte und in den politischen Pro-zess der Entstehung von UNCLOS eingebrachte Idee, dass auch die Meere das Gemeinsame Erbe der Mensch-heit sind (Mann Borgese, 1999), als Leitidee für den Schutz und die Nutzung der Meere trägt (Kap. 2, 3.2.2;

Kasten 3.2-2).

3.2

Völkerrechtlicher Rahmen der Meeres- Governance: UNCLOS

Das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (United Nations Convention on the Law of the Sea, UNCLOS) ist die wichtigste völkerrechtliche Grundlage für den Schutz und die Nutzung der Meere (Wolfrum und Fuchs, 2011). Das Vertragswerk wird auch als „Ver-fassung der Meere“ bezeichnet (UN, 2002). Es stellt einen umfassenden Ordnungsrahmen für Schutz und Nutzung sämtlicher Meere auf und normiert als Rah-menübereinkommen Rechte und Pflichten für die ver-schiedensten Nutzungen des Meeresraumes und seiner

Ressourcen (Czybulka und Kersandt, 2000). Es wurde 1982 verabschiedet, trat 1994 in Kraft und fasst das vorher geltende, in den Genfer Seerechtskonventionen kodifizierte Recht zusammen. Bis Januar 2013 hatten 164 Staaten und die Europäische Union das Abkommen ratifiziert. Obwohl die USA wesentlich an der Formulie-rung des Vertragswerks mitwirkten, haben sie UNCLOS bis heute nicht ratifiziert (Borgerson, 2009). UNCLOS muss durch nationales Recht oder internationale Über-einkommen konkretisiert werden ( Kasten 3.2-1).

Den Grundkonflikt zwischen der freien Nutzung der Meere für alle Staaten und der Beanspruchung des Meeres durch einzelne Küstenstaaten (Kasten 3.2-2) versucht UNCLOS durch die Zonierung der Meere auf-zulösen (Wolfrum und Fuchs, 2011). Dabei gilt der Grundsatz, dass die nationalstaatlichen souveränen Rechte und Hoheitsbefugnisse, also insbesondere

Den Grundkonflikt zwischen der freien Nutzung der Meere für alle Staaten und der Beanspruchung des Meeres durch einzelne Küstenstaaten (Kasten 3.2-2) versucht UNCLOS durch die Zonierung der Meere auf-zulösen (Wolfrum und Fuchs, 2011). Dabei gilt der Grundsatz, dass die nationalstaatlichen souveränen Rechte und Hoheitsbefugnisse, also insbesondere

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