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Eine Vorhangfassade: Otto Wagners Majolicahaus und die Projektion von Geschichte

Deutlicher als die ausgeführte Fassade zeigt eine in der „Allgemeine Bauzeitung“

publizierte Farblithografie1 für das „Majolica-Haus“ (Linke Wienzeile 40, 1898/99), dass das delikate farbige Blumenmuster der Fliesen einen Spitzenvorhang darstellt2 (Abb. 23–25). Bemerkenswert ist die Detailgenauigkeit, mit der verschiedene Ele-mente und Eigenschaften dieses Vorhangs abgebildet werden: So hängt der Stoff nicht einfach glatt über die gesamte Fassade, sondern ist eindeutig drapiert, wie die elegante Kurve zwischen dem ersten und zweiten Stock (nach Wiener Zählung) ebenso verrät wie die verkürzten Intervalle der Blütenmotive an den Seiten des Gebäudes. Durch diese Raffungen an den Seiten wird eine gewisse Unabhängig-keit des Textils von seinem Untergrund evoziert. Auch über die Beschaffenheit des Vorhangs gibt uns Wagner erstaunlich genau Auskunft: Es ist ein Gewebe mit Ran-ken und Blüten, das von einer Randborte abgesehen einen regelmäßigen Rapport aufweist. Obwohl die Darstellung keine eindeutige Zuordnung zu einer bestimm-ten Spitzentechnik zulässt, legt die gleiche Farbigkeit der Fläche unter und hinter dem dargestellten Vorhang eine Lesart als durchscheinenden Stoff nahe, es handelt sich also, präzise gesagt, um eine Gardine oder einen „Store“, der als semitranspa-renter Sichtschutz eine ausreichende Beleuchtung des Raums zulässt.3 Sogar für die Befestigung der Gardine ist gesorgt: Ringe, die ihrerseits von dreidimensionalen Löwenköpfen getragen werden, halten den Vorhang entsprechend den Gesetzen der Schwerkraft an seinem Platz.

1 „Miethaus an der Magdalenen-Zeile“, in: Allgemeine Bauzeitung, Jg. 65, 1900, S. 33 und Ta-feln 10–12.

2 Siehe: Otto Antonia Graf, Otto Wagner, Das Werk des Architekten 1860–1902, Bd. 1, Wien-Köln-Weimar: Böhlau, 1994, S. 324–326. Die beste Analyse der technischen Aspekte der Bauten Otto Wagners ist: Giovanni Fanelli und Roberto Gargiani: Storia dell‘architettura contempora-nea. Spazio, struttura, involucro, Roma: Laterza, 1998, S. 55 ff.

3 Das Blumenmuster wird von Ákos Moravánszky als Teppich, in den die Fenster willkürlich ein-geschnitten sind, gedeutet, während Anthony Alfosin den organischen Charakter der Fassade betont. Ákos Moravánszky, Competing Visions. Aesthetic Inventions and Social Imagination in Central European Architecture, 1867–1918, Cambridge MA-London: MIT Press, 1998, S. 141–

142 und Anthony Alofsin: When Buildings Speak. Architecture as Language in the Habsburg Empire and Its Aftermath, 1867–1933, Chicago-London: The University of Chicago Press, 2006, S. 65–69.

Das Blumenmuster selbst ähnelt den modernen Spitzen, die etwa zeitgleich am international renommierten Zentralspitzenkurs an der Kunstgewerbeschule ent-worfen und produziert wurden (Abb. 26). Bereits 1879 war an der Kunstgewer-beschule Wien dieser Kurs für Spitzenzeichnen in Verbindung mit einem prakti-schen Spitzennäh- und -klöppelkurs von dem Van-der-Nüll-Schüler Josef Storck eingerichtet worden, um die heimische Spitzenproduktion international wettbe-werbsfähig zu machen. Storck war auch für die Erweiterung der Sammlung von Spitzen des Österreichischen Museums als Vorbildersammlung zuständig. 1898 setzte unter Johann Hrdlicka, seinem Nachfolger als Professor an der Kunstgewer-beschule, eine Neuorientierung ein. Johann und Mathilde Hrdlicka reformierten mit Hilfe von Franziska Hofmanninger die überlieferten Muster und Techniken.

Auf der Weltausstellung 1900 in Paris wurden diese Bemühungen prompt durch einen grand prix gewürdigt. Johann Hrdlicka publizierte die Produktion seiner Schule 1902 in dem Band „Entwürfe für moderne Spitzen“.4 Eine frühe ausführ-liche Darstellung der österreichischen Spitzenproduktion lieferte die in Wien an-sässige Amalia Sarah Levetus im „International Studio“. Die an Ruskins Schriften geschulte, aus Birmingham stammende Levetus betonte besonders die notwendige enge Zusammenarbeit zwischen den Entwerfern und den Ausführenden dieser neuen auch technisch innovativen Spitzenentwürfe.5

Die Modernisierung der österreichischen Spitzenproduktion und damit deren internationale Wettbewerbsfähigkeit war eine allseits anerkannte Leistung des Ös-terreichischen Museums und der Kunstgewerbeschule. Auch Camillo Sitte fand Gefallen an den modernen Formen der Produkte der Hrdlickas und Hofmannin-gers: „So zum Beispiel haben sich die modernen Spitzenkompositionen, wie sie von der Abteilung für Spitzenindustrie am Österreichischen Museum unter der Leitung von Frau Hrdlicka hinausgegeben werden und, in ‚Art et Décoration‘ und im ‚Studio‘ publiziert, bereits gerechtes Aufsehen erregt haben, sofort unseren Bei-fall erobert. Es ist ganz erstaunlich, wie reizend diese oft durch und durch sezes-sionistischen Kompositionen hauptsächlich in der Ausführung als Spitzenkragen etc. wirken. […] Diese frappierenden Wirkungen dürften nicht allzu schwer er-klärt werden können: alle früheren Spitzenkompositionen halten strenge fest an geometrischen Grundteilungen, Dreiecke, Quadrate, streng reguläre Achtecke und Sechsecke bilden das Kompositionsnetz. Das entwickelte sich in der Zeich-4 Johann Hdrlicka, Entwürfe für moderne Spitzen, Stuttgart: Julius Hoffmann, o. J. [1902].

5 Amalia Sarah Levetus, „Some Modern Austrian Pillow and Point Lace“, in: International Studio, Bd. 18, 1903, S. 164–173. Siehe auch: Gisela Framke, „Der K. K. Zentralspitzen-Kurs in Wien“, in: dies. (Hg.), Spitze. Luxus zwischen Tradition und Avantgarde, Museum für Kunst und Kul-turgeschichte der Stadt Dortmund, Dortmund: Edition Braus, 1999, S. 51–74.

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nung oft zu äußerst interessanten, ja geistreichen Kombinationen. Aber bei der ausgeführten Spitze wirkt das alles wesentlich anders. Jede kleinste Fältelung, jede kleinste Verzerrung der feinen elastischen Fäden zerstört die strenge Regelmäßig-keit des Grundschemas, die Symmetrie der ganzen Anordnung. Ganz anders bei der modernen Spitze mit ihren schön leichthin und frei verlaufend komponierten Gefühlslinien, in Richtung und Krümmung nicht an ein geometrisches Schema gebunden und somit auch leise Verrückungen, Faltenbildungen mit Leichtigkeit vertragend. Dazu kommt noch, daß diese modernen Spitzen sich strenge an den Flächenstil, der auch in der modernen englischen Tapete so vorzüglich ist, halten und demzufolge lediglich darauf ausgehen, eine fein empfundene Linienführung mit einer anmutigen Massengruppierung und Abwechslung von stark durchbro-chenen Flächen im Gegensatze zu stark gefüllten Flächen hervorzubringen.“6 Dahinter steht sicherlich einmal mehr Sittes Generalverdacht gegen alles Symme-trische. Wie er aber in der Folge im selben Text wohl durchaus mit einem bösen Seitenblick auf das Majolicahaus weiter argumentierte, war diese secessionistisch angehauchte Modernisierung der Spitzenindustrie keinesfalls auf die Architektur übertragbar. Es ist anzunehmen, dass diese zeitgleiche Entwicklung des Spitzen-designs um das Ehepaar Hrdlicka an der Kunstgewerbeschule auch im Kreis um Otto Wagner aufmerksam beobachtet wurde. Wagner selbst hatte ja für seine ei-gene Wohnung in der Köstlergasse um die Ecke auf die Wandbespannungen und den Baldachin des Schlafzimmers Kirschblütenzweige nach Entwürfen von Adolf Böhm und Rudolf Jettmar applizieren lassen.7 Die modernen Spitzen waren durchaus nicht nur weiß oder monochrom, sondern es gab auch farbige, das heißt auch in diesem Aspekt weicht die Fassadengestaltung nicht von der zeitgleichen Reformspitze ab.8

Wagner explorierte das Bekleidungsthema in dieser Fassade auf mehreren Ebe-nen. Nicht nur, dass er das Innenraummotiv des Vorhangs außen an die Fassade projiziert, sondern er lässt auch an den zurückgesetzten Balkonen Kletterpflanzen die Wände hochwachsen, die eine ähnliche diaphane Struktur aufweisen. Dazu

6 Camillo Sitte, „Sezession und Monumentalkunst“, in: Neues Wiener Tagblatt ,5./6. Mai 1903, wiederabgedruckt in: Camillo Sitte. Gesamtausgabe, Bd. 2, Schriften zu Städtebau und Archi-tektur, Wien-Köln-Weimar: Böhlau, 2010, S. 564–576, hier S. 564–565.

7 Peter Haiko, „Otto Wagners Interieurs. Vom Glanz der französischen Könige zur Ostentation der ‚modernen Zweckmässigkeit‘“, in: Paul Asenbaum, Peter Haiko et. al, Otto Wagner – Möbel und Innenräume, Salzburg: Residenz, 1984, S. 11–63, speziell S. 28–34.

8 Siehe: Spitze und so weiter…Die Sammlung Bertha Pappenheims im MAK, Lace and so on…

Bertha Pappenheim’s Collections at the MAK, hg. von Peter Noever, Wien: Schlebrügge.Editor, 2007, vor allem die Katalognummern Nr. 242 und Nr. 251, S. 82 u. S. 84.

fügen sich auch die beiden Untergeschosse für die Geschäfts- und Büroräume, die aus einer vorgehängten Eisenglaskonstruktion bestehen, die eine ebenso durch-scheinende Struktur wie der Vorhang und die Kletterpflanzen zeigt. Dass Wagner Eisenkonstruktionen mit Textilien gleichgesetzt hat, zeigt auch die Studie für ein Hochbahn-Viadukt über den Gürtel aus „Einige Skizzen, Projecte und ausgeführte Bauwerke“ Band II (ursprünglich für den Genralregulierungsplan), auf der ein spitzenartiges Eisengitter die Werbung der Wiener Textilfirma Backhausen trägt, für die Wagner ja auch tatsächlich Textilien entworfen hat9 (Abb. 27). Auch die eisernen Rollläden begannen in dieser Umgebung wie textile Elemente zu wirken.

Dieses gemeinsame „Thema“ der Architekturelemente bedingt, dass die gesamte Dekoration beweglich zu werden scheint: Wie die Rollläden scheint auch die Vor-hangdekoration der Wohngeschosse hochziehbar. Die Fassade drückt so eine neue Art von Beweglichkeit und Unabhängigkeit von ihrem Untergrund aus. Etwas, das schon Manfredo Tafuri am Majolicahaus beobachtet hat: „Besides, aren’t the pavil-ions for the Viennese underground railway perhaps points of rest which ‚redeem‘

the flux which they emphasize? And doesn’t the façade of the Majolikahaus repre-sent an analogous conflict between a magical flowing and the vacancy of stasis?“10 Im Motiv des Vorhanges konnte Wagner wesentliche Neuerungen seiner „mo-dernen Architektur“ exemplarisch und ökonomisch verdeutlichen. Er konnte seine städtebauliche Vision für Wien an einer für ihn zentralen Stelle pars pro toto verwirklichen, die moderne innere Struktur eines Mietzinspalastes nach außen hin verständlich machen und last but certainly not least seine neue Konstruktionsweise propagieren. Wenn man das Nachbarhaus im Blick behält, fällt auf, dass es ähn-lich wie das Majolicahaus aufgebaut ist, die Dekoration in Materialität, Farbigkeit und Motivik aber sehr verschieden ausgefallen ist (Abb. 28). Wagner beschäftigte sich bekanntlich intensiv mit Fragen des Städtebaus, vor allem in seinem Wett-bewerbsbeitrag für den Wiener Generalregulierungsplan von 1892 bis 1894. In seinem Lehrbuch „Moderne Architektur“ von 1896 verdeutlichte er, wie er sich die Architektur der modernen Großstadt vorstellte. Große Blöcke in einem strengen Rastersystem sollten die Bausteine einer Großstadt bilden, die in ihrer Gleichför-migkeit die Anonymität des modernen Lebens aufnehmen und verstärken konnte.

Doch auch diese Gleichförmigkeit galt es zu gestalten und dies blieb die Aufgabe des Architekten: „Der Architekt wird daher bei Miethhäusern, welche doch im-9 Heike Kahmann: Österreichische Textilien von 18im-97 bis 1im-908. Untersuchungen zum

Orna-ment, Diss. Bonn 1987, Abb. 8 und 9.

10 Manfredo Tafuri, „Am Steinhof – Centrality and ‚surface‘ in Otto Wagner’s architecture“, in:

Die Kunst des Otto Wagner, hg. von Gustav Peichl, Wien Ausst. Kat. Akademie der Bildenden Künste, 1984, S. 61–75, hier S. 63.

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mer die Hauptfactoren des Strassenbildes bleiben werden, durch Decorierung der Fläche, in untereinander constrastirenden Bildern, durch einfache und richtig gewählte Details, durch deutliche Betonung der Construction zu wirken suchen, ohne dass dies, wie es leider nur zu häufig beliebt ist, in ein gegenseitiges Über-trumpfen auszuarten braucht.“11 An der Ecke Wienzeile-Köstlergasse verschaffte sich der Architekt Otto Wagner als sein eigener Investor die Gelegenheit, diese

„contrastierenden Bilder“ exemplarisch in drei Wohn- und Geschäftshäusern um-zusetzen. Dafür bot sich das textile Bild an, denn in der Idee der Bekleidung ist ja enthalten, dass man diese auch wechseln kann. So können gleiche Baukörper mit verschiedenen Bekleidungen versehen sein. Leopold Bauer sah gerade darin den revolutionären Schritt Wagners: In seinem Beitrag zu dem von der Zeitschrift

„Der Architekt“ ausgeschriebenen Wettbewerb „Die alte und neue Richtung in der Baukunst“ stellte er seine Argumentation vor: „Das künstlerische System der Aus-drucksmittel in der Architektur ist die Combination. Die einfachen symbolisch gewordenen Formen haben sich frühzeitig zu gewissen feststehenden Elementar-combinationen vereinigt, welche schließlich unverrückbare Begriffe für alle Zeiten geworden sind: Säulen, Capitäle, Gesimse, Bögen, in ähnlicher Weise wie sich die Musik auf feststehenden Tonverbindungen aufbaut.“ Und weiter: „Die ganze Ent-wicklung einer Kunst, die im wesentlichen auf dem Combinationsprincip beruht, ist ein immer höheres Organisieren, indem die Elementsbegriffe erweitert werden, sobald eine Combinationsgruppe eine relativ höchste Vollkommenheit erreicht hat.“ Da sich die einzelnen Elemente nicht mehr weiterentwickeln können, weil sie schon perfekt sind, wurde das „Haus mit Zwang zu einem neuen Element. Nicht die Säule, nicht die Fenster mit carrikiertem Tympanon sind Grundlage unserer neuen Architektur, sondern das Haus selbst ist ein elementarer Begriff: denn das Kunstwerk heißt Straße.“ Und Bauer schließt daraus: „Dieses neue Bauelement, welches unserem heutigen Zustande entspricht, haben wir in dem Zinshause von Otto Wagner. Es ist seit der Antike das erste Mal der Fall, dass die Architektur ein neues Element höherer Ordnung hervorgebracht hat. Von diesem Standpunkte aus muss die Idee des Wagner’schen Zinshauses beurtheilt werden – dann wird der Geist dieser neuen Schöpfung jedem klar werden.“12 Das Zinshaus wird somit zum Baustein der neuen Stadt: „Das Wagner’sche Zinshaus ist die erste Type eines solchen Zukunftshauses,

11 Otto Wagner: Moderne Architektur. Seinen Schülern ein Führer auf diesem Kunstgebiete, Wien: Schroll, 1896, S. 83–84.

12 Alle Zitate: Leopold Bauer, „Die alte und die neue Richtung in der Baukunst. Eine Parallele mit besonderer Rücksicht auf die Wiener Kunstverhältnisse. III. Preis“, in: Der Architekt, 4. Jg., 1898, S. 32.

weil es alle Eigenschaften eines neuen Architekturelementes hat, nämlich relative Vollkommenheit und unbegrenztes Combinationsvermögen.“13

Aber nicht nur das, die Wienzeile sollte in Wagners Entwurf für den Wettbe-werb um einen Generalregulierungsplan für Wien (1892–1894) als monumentaler Prachtboulevard die alte kaiserliche innerstädtische Hofburg mit dem Sommer-sitz in Schönbrunn verbinden und war somit auch ein Projekt zu Ehren des Ho-fes.14 Otto Wagner war bekanntlich schon zuvor als Gestalter von Einzügen und Umzügen des Hofes hervorgetreten, etwa bei der Festdekoration für den Einzug der Prinzessin Stephanie von Belgien – der Braut Kronprinz Rudolfs –, für den 1881 auf der alten Elisabethbrücke über die Wien nicht weit von den späteren Wienzeilenhäusern ein Pavillon mit textilen Dekorationen aufgebaut worden war.15 Festarchitekturen waren schon seit der Antike – in Wien aber ganz speziell seit dem Barock – aufs Engste mit Textilien verknüpft und so darf man in der De-koration der beiden Wienzeilenhäuser mit Vorhang, Bändern, Manschetten und Palmwedeln durchaus auch eine kristallisierte Festarchitektur entlang der neuen Prachtstraße erkennen. Dass Wagner tatsächlich die Bekleidung des menschlichen Körpers mit der von Festgerüsten gleichgesetzt hat, kann man auf einem Skizzen-blatt in der Akademie der bildenden Künste ganz direkt beobachten, wenn er auf der Rückseite des Blattes eine Vorskizze für das Festgerüst und eine Kleiderstudie (wahrscheinlich für seine zweite Frau Louise Stiffel) so überlagerte, dass sich der Baldachin direkt aus dem Faltenwurf der Tornüre entwickelte.16

Das Vorhangmotiv bot sich aber auch an, weil damit auch eine Revolution in der räumlichen und der sozialen Struktur des Zinshauses an der Fassade dargestellt werden konnte. Die innere Struktur des Zinshauses hatte sich im späten 19. Jahr-hundert insofern verändert, als die Einführung des Personenliftes das Verhältnis der Geschosse radikal egalisierte, wie Peter Haiko sehr überzeugend gezeigt hat.17 Traditionell war es die „Beletage“ oder das „Piano nobile“ (auf gut Wienerisch auch „Nobelstock“ genannt) gewesen, die den besten und teuersten Wohnraum bot. Der Vorteil ist klar: Hoch genug, um nicht einsichtig zu sein, musste man 13 Ebenda.

14 Otto Wagner: Erläuterungsbericht zum Entwurfe für den General-Regulierungsplan, 2. Auf-lage, Wien, 1894, hier zit nach: Graf, Otto Wagner 1, a. a. O., S. 102–107.

15 Otto Antonia Graf, Otto Wagner. Das Werk des Architekten 1860–1902, Bd. 1, S. 41–43.

16 Ebenda.

17 Peter Haiko, „Einige Skizzen, Projecte und ausgeführte Bauwerke“ von Otto Wagner. Doku-mente seiner Baukunst, Vorwort zu: Einige Skizzen, Projecte und ausgeführte Bauwerke von Otto Wagner. Vollständiger Nachdruck der vier Originalbände von 1889, 1897, 1906, 1922, Tübingen: Wasmuth, 1987, S. 10 und ders., „Otto Wagners Interieurs. Vom Glanz der französi-schen Könige zur Ostentation der ‚modernen Zweckmässigkeit’“, a. a. O., S. 32 ff.

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dennoch nicht zu weit steigen. Dementsprechend war diese Etage auch am stärks-ten durch Säulen, Balkone etc. betont worden. Durch die Einführung des Perso-nenliftes waren alle Stockwerke im Prinzip gleichwertig geworden, wenn nicht das oberste der Aussicht wegen ein wenig gleicher wurde. In Wagners Fassade wird nun genau dieses neuartige Verhältnis durch die Verdichtung der Ornamentierung im obersten Geschoss ausgedrückt. Etwas überspitzt formuliert wird die architek-tonische Ordnung, statt von unten aufgebaut, von oben abgehängt und dies im Motiv des Vorhangs ausgedrückt. Ähnliches lässt sich auch am Nachbarhaus beob-achten, wo es auch zu einer Konzentration der Dekoration nach oben hin kommt.

Der Architekt Wagner griff also dem Investor Wagner unter die Arme, indem er die Wertsteigerung der oberen Stockwerke an der Fassade ankündigte.

Am Wesentlichsten in Hinblick auf zentrale Begriffe seiner eigenen Theorie ist aber, was Otto Wagner an der Fassade des Majolicahauses über die Konstruktion des Hauses – speziell über den Wandaufbau – zu sagen hatte. In „Moderne Archi-tektur“ von 1896 verabschiedete er die monumentale Steinbauweise: „Diese Art der Herstellung soll als ‚Bauart der Renaissance‘ bezeichnet und ihr im Nachstehen-den eine ‚moderne Bauart‘ gegenüber gestellt werNachstehen-den. Zur äusseren Bauverkleidung […] werden […] Platten verwendet. Diese Platten können in ihrer Cubatur bedeu-tend geringer angenommen werden, dafür aus edlerem Materiale […] projectiert sein.“18 Das heißt, was Wagner uns mit den diversen textilen Motiven des Majo-licahauses noch einmal sehr deutlich vor Augen führen wollte, ist die recht simple Tatsache, dass es sich hierbei um einen in seinem Sinne modernen zweischichtigen Wandaufbau handelte, um eine Ziegelwand, die zwecks besserer Haltbarkeit und Reinigung sowie aus Kostengründen mit Fliesen verkleidet war. Darin folgte Wag-ner durchaus seiWag-ner eigenen schon zitierten Devise vom Primat der Konstruktion über die Form. Für die von ihm geforderte Darstellung der inneren Struktur des Baus an der Fassade wird die äußerste Schicht entscheidend: Die oberste gebrannte Farbschicht der Majolicafliesen trägt nämlich die Darstellung des Vorhanges und bildet gleichzeitig die letzte entscheidende wasserabweisende Schutzschicht: Or-nament und Konstruktion fallen ineinander. Das Material stammte von der mit Wagner eng verbundenen Wienerberger Ziegelfabrik; sowohl der Entwurf als auch die Herstellung und Verlegung mussten eine gewisse logistische Herausforderung gewesen sein, da es sich ja nicht in allen Fällen um repetitive Elemente handelte, lediglich die Blüten selbst sind identisch, die verbindenden Ranken mussten aber jeweils angepasst werden. Die Darstellung musste also zunächst liegend auf der

18 Otto Wagner: Moderne Architektur, a. a. O., S. 63.

gesamten Fläche der Fliesen aufgebracht worden sein und diese daraufhin durch-nummeriert und entsprechend der Nummerierung an der Fassade verlegt werden.

Einen vierten möglichen Bezugsrahmen möchte ich noch andeuten: Das Ma-jolicahaus war von Anfang an Sitz des spanischen Konsuls Mariano Duràn de los Rios y Castillo.19 Ob das einen Bezug zur Gestaltung des Hauses mit Keramik-fliesen, spanisch Azulejos, hatte, muss offenbleiben, aber es ist schon eigentüm-lich, dass einer der wenigen Wiener Bauten um 1900, die eine Fliesenverkleidung hatten, tatsächlich auch von Anfang an einem spanischen Konsul als Wohn- und Arbeitssitz dienen sollte. Für einen wie auch immer gearteten Zusammenhang mit spanischen und portugiesischen Fliesenbildern spricht auch, dass es sich ja nicht um eine einfache Musterung oder ein Mosaik, sondern tatsächlich um ein Fliesen-bild handelt, das zwar keine szenische Darstellung, aber immerhin eine einigerma-ßen detaillierte Abbildung eines Vorhanges zeigt.

Das Prinzip der Bekleidung der Bekleidung der Bekleidung

Natürlich bezog sich Wagner mit all diesen vielfältigen textilen Referenzen auf Gottfried Sempers „Prinzip der Bekleidung“, jenes zentrale Kapitel seines theore-tischen Hauptwerkes „Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder Praktische Aesthetik“,20 das Semper der Frage des Aufbaus der Wand und ihres Ver-hältnisses zum Textilen widmete. 21 Vieles an der Fassadendekoration des Majolica-hauses und des benachbarten Hauses Linke Wienzeile 38 lässt sich ganz direkt aus Sempers „Stil“ ableiten: die Benutzung von Fliesen etwa, über die Semper schrieb:

Natürlich bezog sich Wagner mit all diesen vielfältigen textilen Referenzen auf Gottfried Sempers „Prinzip der Bekleidung“, jenes zentrale Kapitel seines theore-tischen Hauptwerkes „Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder Praktische Aesthetik“,20 das Semper der Frage des Aufbaus der Wand und ihres Ver-hältnisses zum Textilen widmete. 21 Vieles an der Fassadendekoration des Majolica-hauses und des benachbarten Hauses Linke Wienzeile 38 lässt sich ganz direkt aus Sempers „Stil“ ableiten: die Benutzung von Fliesen etwa, über die Semper schrieb: