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Otto Wagner und Camillo Sitte

In seinem so lange die Forschung zur Wiener Kultur bestimmenden Buch „Fin-de-Siècle Vienna“ hat Carl Schorske der Architektur und vor allem dem Städtebau einen zentralen Platz eingeräumt. Wie um zunächst das Bühnenbild der weite-ren Handlung aufzubauen, legte er das Kapitel „The Ringstrasse, Its Critics, and the Birth of Urban Modernism“ an den Anfang des Buches unmittelbar nach dem Auftakt zu den beiden zentralen Kategorien „Politics and Psyche“. Schorske in-terpretierte die Ringstraße als geglücktes liberales Projekt, als von verschiedenen Akteuren im städtischen Raum umgesetztes Programm liberaler Kerninhalte. Be-sonders das Ensemble von Parlament, Universität, Rathaus und Burgtheater sah er als Rechteck von Recht und Kultur: „They represent as in a wind rose liberalism’s value system: parliamentary government in the Reichsrat building, municipal au-tonomy in the Rathaus, the higher learning in the University, and dramatic art in the Burgtheater.“1 Gleichzeitig legte Schorske nahe, dass auch die Distinktion der verschiedenen gewählten architektonischen Stile der Bauten wie auch ihre städte-bauliche Isolierung einem liberalen Ideal entspräche.

Als Erben und Kritiker der liberalen Ringstraßenplanung führte Schorske Otto Wagner und Camillo Sitte ein. Obwohl er beide als Protagonisten eines modernen Städtebaus würdigte, extrahierte er jeweils zwei grundverschiedene Ausrichtungen ihrer Kritik an der Ringstraße: Sitte als Advokaten der Kleinstadt – Wagner als Pro-pagandisten der Metropole: „Camillo Sitte and Otto Wagner, the romantic archaist and the rational functionalist, divided between them the unreconciled components of the Ringstrassen legacy. Sitte, out of the artisan traditionalism, embraced Ring-strasse historicism to further his project of restoring a communitarian city, with the enclosed square as his model for the future. Wagner, out of a bourgeois affirmation of modern technology, embraced as essence what Sitte most abhorred in the Ring-strasse: the primary dynamic of the street.“2 Vor allem auch in ihrem Umgang mit der unmittelbaren Vergangenheit spielte Schorske Sitte und Wagner gegenein-ander aus: „Where Sitte tried to expand historicism to redeem man from modern technology and utility, Wagner worked in the opposite direction. He wished to roll 1 Carl E. Schorske, Fin-de-Siècle Vienna, Politics and Culture, New York, 1981, S. 36.

2 Ebenda, S. 100.

back historicism in the interest of the values of a consistently rational urban civili-zation.“3 Auch in ihrer Haltung zur Stadt sah Schorske sie als Antipoden: „More specifically, however, it was against the anvil of the Ringstrasse that two pioneers of modern thought about the city and its architecture, Camillo Sitte and Otto Wagner, hammered out ideas of urban life and form whose influence is still at work among us. Sitte’s critique has won him a place in the pantheon of communitarian urban theorists, where he is revered by such recent creative reformers as Lewis Mumford and Jane Jacobs. Wagner’s conception, radically utilitarian in their basic premises, have earned him the praises of modern functionalists and their critical allies, the Pevsners and the Giedions. In their contrasting views, Sitte and Wagner brought to thought about the city archaistic and modernistic objections to nineteenth-century civilizaton that appeared in other areas of Austrian Life.“4

Camillo Sitte hatte in seinem 1889 erstmals erschienenen Büchlein „Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. Ein Beitrag zur Lösung modernster Fragen der Architektur und monumentalen Plastik unter besonderer Beziehung auf Wien“ 5 just die „Windrose des Liberalismus“ zwischen Parlament und Uni-versität einer radikalen Umplanung unterzogen, weil ihm zwar die Bauten gelun-gen schienen, nicht aber der Städtebau (Abb. 11). Der Platzraum war in seinen Augen nur durch substanzielle Zubauten zu retten: „Glücklicherweise ist aber so viel leerer Raum vorhanden, dass die Schäden der letzteren noch behoben werden können.“6 Und zwar, indem etwa der Rathausplatz mit zwei niedrigen Bauten zur Ringstraße hin abgeschlossen werden sollte. „Durch theilweise Verbauung des zu grossen leeren Raumes wäre ein eigener Rathausplatz G zu schaffen, dem ausschliesslich die Aufgabe zufiele, auf Grundlage der vorhandenen Rathaus-Ar-chitektur ein originelles Stadtbild erstehen zu lassen.“7 Auch Otto Wagner hat 1895 für den Rathausplatz unaufgefordert ein Projekt für ein Denkmal für Kaiser Franz-Joseph eingereicht. Für diesen Vorstoß gab es wohl keinen anderen Anlass als den 65-jährigen Geburtstag des Kaisers8 (Abb.  12). Unaufgefordert Projekte zu entwickeln, war ein für Wagner typisches Vorgehen, der oft Aufträge dadurch 3 Ebenda, S. 73.

4 Ebenda, S. 25.

5 Camillo Sitte, Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. Ein Beitrag zur Lö-sung modernster Fragen der Architektur und monumentalen Plastik unter besonderer Bezie-hung auf Wien, Wien: Graeser, 1889, Reprint der Erstausgabe in: Camillo Sitte. Gesamtaus-gabe, Bd. 3, Wien-Köln-Weimar: Böhlau, 2003.

6 Ebenda, S. 156.

7 Ebenda, S. 167.

8 Otto Antonia Graf, Otto Wagner, Das Werk des Architekten 1860–1902, Bd. 1, , Wien-Köln-Weimar: Böhlau, 1985, S. 254.

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Der Hase und der Igel: Otto Wagner und Camillo Sitte |

anzustoßen versuchte, dass er seine hervorragenden Perspektivzeichnungen zir-kulieren ließ, um so dem Laien das Potenzial einer Intervention vor Augen zu führen. Man kann die Verschiedenheit der städtebaulichen Haltung dieser beiden

„Pioneers of modern urbanism“ eigentlich nicht besser zeigen als mit diesen bei-den Verbesserungsvorschlägen für bei-den Wiener Rathausplatz. Dort wo Sitte bei-den Platz mit niedrigen Riegeln zur Ringstraße abschließt, geht Wagner reziprok vor und legt einen zur Ringstraße geöffneten Halbkreis vor das Rathaus, der durch einen leichten Treppenabsatz und Baumbepflanzung gebildet wird. Dadurch wird der Blick auf den Mittelteil des Rathauses und natürlich auf das Reiterstandbild des Kaisers gelenkt, das an der Grenze zwischen oberem und unterem Platz zu stehen kommt. Wagner spielt die Dialektik von Öffnung und Schließen des zur Ringstraße und dem Burgtheater gelegenen tiefergelegten Platzteiles gekonnt aus, indem er den Durchgang zwischen dem eigentlichen Denkmal und den dazuge-hörigen vier umgebenden Säulen öffnet. Die eigentliche städtebauliche Maßarbeit leistet er aber in der Proportionierung des Denkmals selbst. Die Ansicht der Rei-terstatue vor dem neogotischen Rathaus und die Gegenansicht vor dem neobaro-cken Burgtheater zeigen, wie Wagner diese Skulptur auf beide doch so verschie-denartige Hintergründe abgestimmt hat. Nur durch die Beziehung des Denkmals zu den weit entfernt stehenden Bauten sowie mit einigen wenigen Interventionen am Boden gelingt Wagner es, dem Platz Proportion und Richtung zu geben.

Das städtebauliche Vorgehen von Sitte und Wagner war grundverschieden: Wag-ner integrierte sein neues Denkmal stark in die vorhandene historistische Bebau-ung, während Sitte diese bestehende historistische Bebauung durch seine Neubauten von der Ringstraße aus verdeckte. So gesehen respektierte Otto Wagner die beste-hende Bebauung von Gottfried Semper und Friedrich von Schmidt eher als Camillo Sitte. Ist Wagner also tatsächlich ein rationaler Funktionalist und Sitte ein romanti-scher Archaist oder stehen sich innerhalb beider Architekturauffassungen rationale und romantische Elemente gegenüber, allenfalls in verschiedenen Melangen? Funk-tion und Archaik (vulgo Geschichte) schließen sich aus architektonischer Sicht oh-nehin nicht aus, vor allem nicht bei Otto Wagner. Und vor allem, wie hielten es Sitte und Wagner jeweils mit der Geschichte, speziell der Baugeschichte Wiens?

„Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“ (1889)

Die Intentionen seines Städtebaubuches9 beschrieb Sitte im Vorwort selbst als:

„[…] eine Menge schöner alter Platz- und überhaupt Stadtanlagen auf die Ursache der schönen Wirkung hin zu untersuchen; weil die Ursachen richtig erkannt, dann eine Summe von Regeln darstellen würden, bei deren Befolgung dann ähnliche treffliche Wirkungen erzielt werden müssten.“10 Tief im Positivismus und Histo-rismus verankert, nahm Sitte also an, dass ein sorgfältiges Studium der alten Städte dazu dienen könne, die künstlerische Anlage von neuen Städten zu verbessern, deren technische Weiterentwicklung er gar nicht bestritt. Sich auf Gottfried Sem-pers Epochenwerk „Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder Praktische Aesthetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde“

beziehend sah er sein Bändchen als „Theil des grossen Lehrgebäudes praktischer Aesthetik“.11 Sitte wandte sich bewusst nicht an den Historiker, sondern an den Stadtbautechniker, den Vertreter der eben aufkommenden Disziplin der Stadtpla-nung. Sitte, der zu diesem Zeitpunkt noch keinen einzigen Stadtplan entworfen hatte – vielmehr war er Direktor der Staatsgewerbeschule in Wien –, gliederte das Buch nach seinen eigenen Prinzipien deduktiven Lernens, über die er im Ge-gensatz zu Fragen des Städtebaus bereits eine große Anzahl von Texten publiziert hatte.12 Es ist wichtig zu betonen, dass seine Pläne für kleinere Städte im Habs-burger Reich dem Buch nachgefolgt sind.13 Im „Städte-Bau“ übertrug Sitte seine Annahme, dass sich das Kunstgewerbe durch das Studium von älteren Vorbildern erneuern könnte, auf die Anlage von Städten. Das heißt, er verfolgte seine eigenen schon mehrfach publizierten Ansichten über Kunstentwicklung auf einem neuen Terrain.

9 Zur Editionsgeschichte siehe: Christiane Crasemann Collins, „Sitte als Cicerone“, in: Camillo Sitte. Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, Camillo Sitte. Gesamtedition, Bd. 3, a. a. O., S. 23–33; George R. Collins/Christiane Collins, Camillo Sitte, The Birth of Mo-dern City Planning. With a translation of the 1889 Austrian edition of his City Planning Ac-cording to Artistic Principles, New York: Rizzoli, 1986.

10 Sitte, Städtebau, a. a. O., Vorrede, o. S.

11 Ebenda.

12 Ruth Hanisch, Wolfgang Sonne, „‚Mit der eigenthümlichen Beweglichkeit seines Geistes‘. Ca-millo Sittes Schriften zur Pädagogik“, in: CaCa-millo Sitte. Gesamtausgabe, Bd. 4, Schriften zu Pädagogik und Schulwesen, Wien-Köln-Weimar: Böhlau, 2008, S. 7–49.

13 Einen Überblick über Sittes Planungen bietet: Rudolf Wurzer, „Franz, Camillo und Siegfried Sitte. Ein langer Weg von der Architektur zur Stadtplanung“, in: Berichte zur Raumforschung und Raumplanung, Nr. 3–5, 1989, S. 9–34.

„Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“ (1889) | 83 Sitte strukturierte sein Buch dementsprechend in einer sehr didaktischen und dialektischen Weise. Zunächst präsentierte er historische Beispiele und deren Analysen, dann wurden Beispiele moderner Stadtplanung kritisiert und am Ende zeigte er, wie die modernen Anlagen durch die Anwendung der aus den alten Städten gewonnenen Kriterien verbessert werden können. Das Buch ist reich mit sehr einfachen Grundrisszeichnungen illustriert, alle in ähnlichem Maßstab. Die Einfachheit und Abstraktion der Zeichnungen stärkte die Vergleichbarkeit und betonte nochmals die grundlegende Idee, die „künstlerischen Prinzipien“ aufzu-zeigen. Diese präsentierte Sitte in den Kapitelüberschriften: „Beziehung zwischen Bauten, Monumenten und Plätzen“; gefolgt von „Das Freihalten der Mitte“, „Die Geschlossenheit der Plätze“, „Größe und Form der Plätze“, „Unregelmäßigkeiten alter Plätze“ und zum Schluss „Platz-Gruppen“. Daran schloss er Kapitel über die charakteristischen Fehler der modernen Stadtplanung an: „Die Motivarmuth und Nüchternheit moderner Stadt-Anlagen“, „Moderne Systeme“ und „Die Grenzen der Kunst bei modernen Stadt-Anlagen“. Eine ausführliche Diskussion der Fehler führte Sitte nicht nur aus polemischen Gründen ein, sondern aus pädagogischen.

In seinen Schriften über Kunsterziehung, besonders über den Zeichenunterricht, betonte er, dass die Analyse von Fehlern genauso wichtig sei wie die von Meister-werken. Wenn man die ersten beiden Teile als These und Antithese betrachten will, dann bilden die beiden Schlusskapitel „Verbessertes Modernes System“ und „Bei-spiel einer Stadtregulirung nach künstlerischen Grundsätzen“ die Synthese. Schon an diesem Aufbau des Buches ersieht man leicht, dass Sitte nicht daran gelegen war, ein einfaches Kopieren von älteren Anlagen zu propagieren. Stilkopien lehnte er im Städtebau, im Kunstgewerbe und auch als pädagogisches Prinzip explizit ab.

Vielmehr ging es ihm darum, als gut und richtig erkannte Grundsätze der älteren Vorbilder auf die „modernsten“ Leistungen zu übertragen.

Das moderne System der Stadtplanung – für Sitte war das hauptsächlich das

„Rechtecksystem“ – war dagegen schematisch und uninspiriert. Eines der Haupt-probleme des Rasters war nach Sitte, dass dieses vom Boden aus nicht als solches wahrnehmbar wäre im Gegensatz zu einem einzelnen Platz oder einer einzelnen Straße, die mit einem Blick erschlossen werden könnten, somit entzog es sich einer künstlerischen Gestaltung. Das andere Hauptproblem der modernen Großstadt war ihre schiere Ausdehnung und die dadurch bedingte Wiederholung, die keine künstlerische Behandlung zuließ. Einen weiteren Missstand des modernen Städ-tebaus in künstlerischer Hinsicht identifizierte Sitte im Miethausblock: „Freilich, wenn man nicht den Muth hat, irgend etwas Bestimmtes in Aussicht zu nehmen, dann wird sich zuverlässig jedes Mal der Miethhausbezirk entwickeln, denn in die-ser allgemeinen, aber eben deshalb ödesten und charakterlosesten Formation lässt

sich zur Noth Alles unterbringen: Werkstätten, Arbeiterwohnungen, Handelshäu-ser, Paläste etc. Alles kann der Miethhausblock aufnehmen, aber Alles nur zur Noth, ohne irgend eines der Sonderbedürfnisse ganz und voll zu befriedigen.“14 Es waren aber durchaus nicht nur Fragen des Stadtgrundrisses und der Form der Bebauung der Stadt des 19. Jahrhunderts, die Sitte missfielen, sondern auch bestimmte ästhe-tische Präferenzen, vor allem die Symmetrie: „Das Streben nach Symmetrie ist bis zur Modekrankheit aufgewuchert. Heute ist der Begriff des Symmetrischen schon jedem Mindergebildeten geläufig und dünkt sich Jeder berufen, in so schwierigen Kunstfragen, wie die des Städtebaues, ein Wort mitzureden, denn die allein aus-schlaggebende Regel hat auch er im kleinen Finger – die Symmetrie.“15 Und er schließt den Absatz polemisch mit einer Anekdote: „So verlangt z. B. die bayrische Landes-Bauordnung von 1864 als ästhetische Hauptsache, dass bei Façaden alles zu vermeiden wäre, ‚was die Symmetrie und Sittlichkeit verletzen könnte‘, wobei es wahrscheinlich der Interpretation vorbehalten blieb, gegen welches von beiden ein Verstoss als schrecklicher anzusehen wäre.“16

Dennoch begnügte sich Sitte weder mit Polemik noch mit Kulturpessimismus, sondern die Intention seiner Schrift war, dass die ästhetischen Prinzipien der alten Stadt durchaus auf die neue anwendbar wären. Sitte war nicht so naiv wie viele seiner Interpreten; er gab unumwunden zu, dass sich viele der Qualitäten der his-torischen Stadt aus technischen, finanziellen, aber auch künstlerischen Gründen in der Gegenwart nicht mehr reproduzieren ließen. Für Sitte war es unabdingbar, dass sich der Städtebau den modernen Bedingungen anzupassen habe, auch der künstlerische, sonst wäre er nicht dauerhaft: „Auch würde selbst ein gewisser Er-folg mit malerischen Anlagen kein durchgreifender, kein bleibender sein können, wenn sie nicht den Verhältnissen des modernen Lebens entsprechen. In unserem öffentlichen Leben hat sich aber Vieles unwiderruflich verändert, was manchen alten Bauformen ihre einstige Bedeutung entzieht, und daran lässt sich eben nichts ändern. Wir können es nicht ändern, dass das gesammte öffentliche Leben heute in Tagesblättern besprochen wird, statt wie einst im alten Rom oder in Griechenland von öffentlichen Vorlesern und Ausrufern in den Thermen und Säulenhallen auf offenem Platz erörtert zu werden.“17 Hier sprach natürlich auch der viel beschäf-tigte Journalist, der sich selbst nur zu gerne des Neuen Wiener Tagblattes bediente, um seine Ansichten über Städtebau zu propagieren.

14 Sitte, „Städte-Bau“, a. a. O., S. 137–138.

15 Ebenda, S. 59.

16 Ebenda, S. 61.

17 Ebenda, S. 112.

„Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“ (1889) | 85 Sittes Publikation – gerne als Wiederentdeckung der historischen Stadt gefeiert – war das Ergebnis eines rigiden Selektionsprozesses auf mehreren Ebenen: Es ist schon mehrfach beobachtet worden, dass Sitte sich auf den geografischen Raum Westeu-ropas beschränkte, was er selbst durch die Tatsache erklärte, dass er hauptsächlich Städte besprach, die er tatsächlich auch bereist hatte. Die Reiseziele Deutschland, Frankreich und Italien waren für einen Wiener Bildungsbürger des 19. Jahrhunderts nicht ungewöhnlich und lassen sich daher nicht als persönliche programmatische Entscheidung Camillo Sittes interpretieren, aus der man auch ideologische Inhalte ableiten könnte.18 Was allerdings ebenso auffällig ist, ist die zeitliche Dominanz von Beispielen aus Antike, Mittelalter und Renaissance und die relative Mühe, die sich Sitte machen musste, um den Barock in seine Darstellung zu integrieren, denn zu stark schienen ihm selbst die Ähnlichkeiten mit dem modernen Vorgehen zu sein und zu sehr schien der Barock seinen künstlerischen Kriterien vor allem der Un-regelmäßigkeit von Stadtanlagen zu widersprechen: Die zeitliche und räumliche Eingrenzung und die Auswahl seiner „künstlerischen“ Grundsätze bedingten sich gegenseitig. Festzuhalten ist aber in jedem Fall, dass Sitte aus der unendlichen Zahl von Merkmalen, die historische Städte bieten, nur eine Handvoll ausgewählt hat, die in einer starken ästhetischen Beziehung zueinander steht und seinen Intentio-nen entgegenkam. Um nur einige Beispiele zu Intentio-nenIntentio-nen: Es fehlen alle Planstädte und Gründungsstädte von der griechischen Antike an, die Planstädte der Renaissance, die barocken Festungsstädte und Neustadtgründungen. Diese hätten nämlich ein völlig anderes Bild der historischen Stadt geboten, das Sitte aber wohl zu stark an die Stadterweiterungen des 19. Jahrhunderts erinnerte. Aber nicht nur die Auswahl der Beispiele ist aus einer bestimmten Absicht heraus getroffen, Sitte hätte in dem von ihm angeführten Platzbeispielen selbst andere Kriterien finden können, wie etwa die gleichförmige Struktur der Bebauung, Parzellengrößen, Dachtraufen etc.; er wollte aber ganz offensichtlich auf eine ganz bestimmte Art des Städtebaus hinaus und hat seine Beispiele entsprechend gewählt. Es ging ihm selbst also nicht nur um ein un-befangenes Lernen von der Geschichte, sondern ebenso um eine Rückversicherung seiner eigenen städtebaulichen Haltung in der Geschichte.

Nach dem Erscheinen von Sittes Buch wurde er vor allem in Deutschland schnell als Begründer einer neuen Richtung im Städtebau, dem sogenannten „malerischen Städtebau“, gefeiert.19 Oft wurde Sittes Städtebaubuch auf einige Aspekte reduziert;

18 Andrew Herscher, „Städtebau as Imperial Culture. Camillo Sitte’s Urban Plan for Ljubljana“, in:

Journal of the Society of Architecture Historians 62, Nr. 2, 2003, S. 212–227.

19 Ákos Moravanszky, Erzwungene Ungezwungenheiten. Camillo Sitte und das Paradox des Ma-lerischen, in: Klaus Semsroth, Kari Jormakka, Bernhard Langer (Hg.), Kunst des Städtebaus:

Neue Perspektiven auf Camillo Sitte, Wien-Köln-Weimar: Böhlau, 2005, S. 47–62.

vor allem die Frage nach der „geraden oder krummen Straße“ verselbständigte sich in der Folge, obwohl sie in Sittes Urtext eigentlich gar keine Rolle spielte, sondern erst von Camille Martin in die französische Übersetzung eingeführt wurde, die Sitte dann allerdings so anerkannt hat.20 Seine zahlreichen anderen Schriften über Mu-sik, Pädagogik, Kunst, Wahrnehmung und Perspektive wurden vergessen und erst vor Kurzem wiederentdeckt.21 Die „moderne Bewegung“ hat ihn zunächst bewun-dert und dann fallen gelassen. Sitte wurde als „Troubadour, der mit seinen mittelal-terlichen Liedern das Getöse der modernen Industrie übertönen wollte“22 (Sigfried Giedion) und Promotor des „pack-donkey’s path“ (Le Corbusier)23 bezeichnet. We-niger Beachtung fand allerdings, dass sich wohl auch Otto Wagner offensichtlich unter den genauen Lesern von Sittes Band fand. Seine erste umfassende Buchpu-blikation „Moderne Architektur“ setzte sich nämlich in einigen wenigen Punkten sehr genau mit dem „Städte-Bau“ auseinander und in anderen sehr genau davon ab.

Man kann „Moderne Architektur“ sicher nicht als Gegenschrift zum „Städte-Bau“

bezeichnen, aber an einigen Stellen bekommt man deutlich den Eindruck eines di-rekten Dialoges Wagners mit dem sieben Jahre älteren Städtebaubuch Sittes.

„Moderne Architektur“ (1896)

Otto Wagner publizierte sein Lehrbuch „Moderne Architektur“ erstmals 1896, weitere zum Teil stark überarbeitete Auflagen erschienen 1898, 1902 und 1914.24 20 David Frisby, Straight or Crooked Streets? The contested rational Spirit of the Modern Metro-polis, in: Iain Boyd Whyte (Hg.), Modernism and the Spirit of the City, London: Routledge, 2003, S. 57–84.

21 Mit Camillo Sittes über den Städtebau hinausgehenden Schriften beschäftigen sich: Michael

21 Mit Camillo Sittes über den Städtebau hinausgehenden Schriften beschäftigen sich: Michael