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Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932

»Scientific revolution is the business not of the poorest but of the richest among the new entrants.«1

Die im Grenzgebiet von Physik und Chemie angesiedelte frühe Radioaktivitätsfor-schung spaltete sich in den 1920er Jahren immer stärker in eine physikalische und eine chemisch-präparative Richtung auf. Die Methode, mit Strahlen oder Partikeln Proben zu beschießen und dadurch Erkenntnisse über den subatomaren Aufbau der Materie zu gewinnen, wurde bestimmend für die von den Zeitgenossen so bezeichnete »Atom-zertrümmerungsforschung«. Sie wurde im physikalischen Bereich mit der Entdeckung des Neutrons 1932 von der Kernphysik im engeren Sinne abgelöst. Die Nuklearche-mie als Untergruppe der physikalischen CheNuklearche-mie beschäftigte sich hingegen mit der Identifizierung und Trennung von Isotopen.2 Anders als beispielsweise in Großbritan-nien oder im Deutschen Reich, wo sich ganze Institute schon bald auf eine der beiden Forschungsrichtungen konzentrierten, fand eine solche institutionelle Trennung am Institut für Radiumforschung nicht statt.3

Nach dem Untergang der Monarchie entstand mit Deutsch-Österreich beziehungs-weise der Republik Österreich ein Rumpfstaat, der geographisch, politisch und wirt-schaftlich ins Hintertreffen zu geraten drohte. Wie wirkte sich diese grundlegend ver-änderte Situation auf die Fortführung der Radioaktivitätsforschung in Österreich aus ? Es wird im Folgenden gezeigt, dass das zentralistische Erbe der Ersten Republik für die Entwicklung der Radioaktivitäts- und Atomzertrümmerungsforschung ambivalente Folgen hatte. Denn einerseits konnte man speziell in Wien auf Ressourcen zurückgrei-fen, die in der Vorkriegszeit akkumuliert worden waren. Andererseits stellten die poli-tischen Umwälzungen das Selbstverständnis und den Anspruch von Radioaktivisten und Radioaktivistinnen aus Österreich in Frage, den Ton in ihrem Forschungsfeld mit anzugeben. Das verarmte Land war auf den Zufluss von ausländischen Ressourcen angewiesen, damit die Radioaktivitätsforschung weitergeführt und die

Atomzertrüm-1 Bourdieu Atomzertrüm-1999, 40.

2 Vgl. Coffey 2008, 209.

3 Vgl. Roqué 2001b, 127.

merungsforschung in Wien als neues Forschungsfeld etabliert werden konnten. Das vorliegende Kapitel untersucht, welche Rolle die vorhandenen Ressourcen und natio-nalen Interessenlagen im Verhältnis zu internationatio-nalen Einflüssen spielten, um die Radioaktivitäts- und Atomzertrümmerungsforschung in Österreich aufrechtzuerhalten.

3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918

Der Forschungs- und Lehrbetrieb war an den Universitäten Wien, Graz und Innsbruck während des Krieges und unmittelbar danach mit Einschränkungen weitergegangen.

In der frühen Nachkriegszeit drohten allerdings schwerwiegende politische, wirtschaft-liche und gesellschaftwirtschaft-liche Probleme das wissenschaftwirtschaft-liche Leben lahm zu legen. Die staatliche Identität der Länder mit mehrheitlich deutschsprachiger Bevölkerung des untergegangenen Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn  – Kärnten, Österreich unter und ober der Enns, Steiermark, Vorarlberg und Salzburg – war zunächst ungeklärt.4 Die deutsch-österreichische Nationalversammlung trat am 21. Oktober 1918 zusam-men und wählte eine Woche darauf den Staatsrat und die erste Staatsregierung. Am 12. November 1918 rief die neue Regierung die Republik aus. Zugleich kam ein Par-lamentsbeschluss zustande, der das Land zu einem Teil des Deutschen Reiches erklärte.

Der Beschluss blieb allerdings folgenlos, da er auf deutscher Seite nicht beachtet wurde und schließlich am Einspruch Frankreichs scheiterte. Der Anschluss Deutsch-Öster-reichs an das Deutsche Reich wurde im Vertrag von Saint-Germain vom September 1919 offiziell verboten.

Die Erste Republik kämpfte mit gravierenden Strukturproblemen. Ausgerichtet auf den Wirtschaftsraum der untergegangenen Monarchie, war sie auf den Import von Rohstoffen, Nahrungsmitteln und Energie angewiesen. Ernteausfälle und eine schrumpfende Industrieproduktion ließen das heimische Warenangebot sinken.5 Der Staatshaushalt war durch horrende Kriegsschulden belastet, hinzu kamen neue Ausga-ben für die Arbeitslosenunterstützung, die Subvention von LeAusga-bensmitteln und den Erhalt des aus der Monarchie übernommenen Beamtenapparates. Im Sommer 1921 geriet die Geldentwertung außer Kontrolle, und im Herbst des darauf folgenden Jahres erreichte die Hyperinflation ihren Höhepunkt.

Die Inflation stürzte das wissenschaftliche Personal an den Universitäten und außer-universitären Forschungseinrichtungen Österreichs in blanke materielle Not. Die meisten Professoren und Assistenten hatten durch die Geldentwertung ein derart

ge-4 Vgl. Saage 2008.

5 Vgl. Hanisch 2008.

ringes Einkommen, dass sie auf öffentliche Armenspeisungen und Kleiderzuteilungen angewiesen waren.6 Die wirtschaftliche Misere wirkte sich auch nachteilig auf die internationale Mobilität aus ; Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus Österreich wurden im Ausland weniger sichtbar. Die wenigsten besaßen die nötigen Mittel, um Studien- oder Kongressreisen ins Ausland zu bezahlen. Die wissenschaftliche Infra-struktur war angesichts des zerrütteten Staatshaushaltes nur schwer zu erhalten und auszubauen. Zwar stiegen die jährlich ausgezahlten Zuschüsse des Bundesministeriums für Inneres und Unterricht an Institute und Bibliotheken im Vergleich zur Vorkriegs-zeit nominell an, und die Wiener Professoren wurden anders als ihre Kollegen in Graz und Innsbruck seit Juli 1921 an den Kollegiengeldern der Studierenden beteiligt. Die galoppierende Inflation fraß die Zulagen aber umgehend wieder auf. Die Universitäts-institute mussten von den staatlichen Dotationen neben Assistenten, Technikern und wissenschaftlichen Gehilfen auch die Instrumente und Apparate für Forschung und Lehre, die Energieversorgung, alle anfallenden Renovierungsarbeiten sowie die wissen-schaftliche Literatur bezahlen. Ein speziell für Forschung reserviertes Budget war nicht vorgesehen. Stefan Meyers Freund und Kollege Egon von Schweidler sah in Innsbruck

»die Zeit kommen, wo das experimentelle Arbeiten unmöglich wird wegen der Teue-rung der Apparate und gemeinen Utensilien und Rohstoffe«.7 Den Universitäten in anderen Nachfolgestaaten der Monarchie, wie etwa an der Universität Lwów/Lemberg in Polen, ging es sogar noch schlechter. Dort machte der Mangel an Instrumenten und ausländischer Literatur die Radioaktivitätsforschung fast ganz unmöglich.8

Das Institut für Radiumforschung befand sich als außeruniversitäre Forschungs-einrichtung in einer ähnlich desolaten Lage wie die Universitäten. Der vom Bundes-ministerium für Inneres und Unterricht gewährte finanzielle Zuschuss betrug 1921 nur 2.000 Kronen, was angesichts der Hyperinflation einem Gegenwert von weniger als einem Pfund Sterling entsprach.9 Die Radioaktivitätsforschung aufrechtzuerhalten, schien angesichts der verzweifelten finanziellen Situation und des alltäglichen Überle-benskampfes fast aussichtslos. Allerdings speiste sich nur ein Teil des Institutsbudgets aus staatlichen Dotationen. Hinzu kamen unregelmäßig eingehende Eichtaxen, die

6 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 16, Fiche 256 : Meyer an Lindemann vom 4.5.1920.

7 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 19, Fiche 306 : Schweidler an Meyer vom 28.2.1920.

8 Vgl. CUL, RC, Add 7653, L 144 : Loria an Rutherford vom 29.3.1921.

9 Die geringe Höhe des Zuschusses wird deutlich, wenn man sie mit damals gängigen Grundnahrungs-mittelpreisen vergleicht. Ein Kilogramm Rindfleisch kostete im Frühjahr 1921 300 Kronen und ein Kilogramm Butter 400 Kronen, gegenüber je zwei Kronen im Frühjahr 1914. Ein Herrenanzug schlug mit 8.000 Kronen zu Buche, gegenüber 80 Kronen im Frühjahr 1914. Vgl. Mitteilungen der American Relief Administration Nr. 46–50, Mai 1921, S. 253.

sich auf rund 200 US-Dollar pro Jahr summierten.10 Vor dem Krieg hatte die Wiener Akademie naturwissenschaftliche Forschungsarbeiten mit Subventionen gefördert, die aus Stiftungen, Widmungen und Legaten von vermögenden Privatpersonen finanziert wurden. Von diesen Subventionen profitierten vornehmlich Physiker und Chemiker aus Wien, es gab allerdings auch erfolgreiche Antragsteller aus peripheren Universitä-ten wie Graz, Innsbruck oder Lemberg. Zu den bedeuUniversitä-tendsUniversitä-ten Stiftungen der Vor-kriegszeit zählten die Treitl-Stiftung, die Ami-Boué-Stiftung und das Legat Wedl.11 Doch das Vermögen dieser Stiftungen schmolz angesichts der Inflation ebenso dahin wie der Wert von Spenden aus der heimischen Industrie.12 Im Februar 1921 berichtete Meyer seinem Kollegen Ernest Rutherford nach Cambridge : »We can’t look forward with much hope. […] It is quite impossible to go on in this way.«13

In Anbetracht der verzweifelten Situation gründeten sich private Spendenvereine mit dem Ziel, die Budgets der Universitätsinstitute und außeruniversitären Forschungs-einrichtungen aufzustocken. Der Verein der Freunde der Universität Wien warb bei-spielsweise 1921 eine Million Kronen bei britischen Privatleuten ein.14 Das I., II. und III. Physikalische Institut der Universität erhielten davon jeweils 50.000 beziehungs-weise 40.000 Kronen, und das Institut für Radiumforschung immerhin 30.000 Kro-nen. Verglichen mit anderen Instituten der Universität Wien, lagen die Physikalischen Institute mit der Spendenhöhe im oberen Mittelfeld. Lediglich die Chemischen Insti-tute und der Botanische Garten der Universität Wien erhielten höhere Spenden. Auch

10 Siehe zu den Einnahmen des Instituts für Radiumforschung seit Kriegsende The Rockefeller Archive Center Sleepy Hollow, N.Y., International Education Board, ab sofort : RAC, IEB, Series 1.2, Box 25, Folder 360 : Augustus Trowbridge, Memorandum of conversation with Professor Meyer and Karl Przi-bram vom 26.3.1925. Zum Stiftungswesen in Österreich Soukup 2004, 20.

11 Vgl. Sienell 2005, 2, 6–7. Josef Treitl hatte die Akademie 1880 testamentarisch zur Universalerbin seines Vermögens bestimmt ; die Ami-Boué-Stiftung, die ebenfalls auf einer testamentarischen Verfügung be-ruhte, stammte aus dem Jahr 1881. Das Legat Wedl (1891/92) zählte zu den finanzstärksten Stiftungen der Akademie. Siehe zum Stiftungswesen in der Habsburgermonarchie und in Österreich Höflechner 1990, 214–218.

12 Die Ignaz L. Lieben-Stiftung bestand als einzige der großen Vorkriegs-Stiftungen in der Zwischenkriegs-zeit fort. Vgl. Soukup 2004, 21. Vgl. zu den Industriespenden KVA, ASA, Serie E1, Bl. 6 : Ehrenhaft an Arrhenius vom 9.11.1921.

13 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 18, Fiche 294 : Meyer an Rutherford vom 8.2.1921.

14 Der Verein der Freunde der Universität Wien wurde zu Beginn der 1920er Jahre gegründet. Er unter-stützte die Universität Wien finanziell, die über kein eigenes Vermögen oder private Stiftungsgelder ver-fügte. Durch Spenden, die von der österreichischen Bevölkerung und Privatpersonen aus dem Ausland stammten, sollten Lücken in den Beständen der Institutsbibliotheken, Seminare und Laboratorien gefüllt werden, die aufgrund der Dotationskürzungen des Unterrichtsministeriums entstanden waren. Daneben dienten die Spenden dazu, die für den Lehrbetrieb notwendigen Aufwendungen zu decken. Vgl. Archiv der Universität Wien, ab sofort : UAW, Akademischer Senat, Senats-Sonderreihe, Senat S 3 Ausländische Hilfe (1920–1922) : [Verein der Freunde der Universität Wien], Memorandum, undatiert [1921].

im Jahr darauf bekamen die Institute Unterstützung in ähnlicher Höhe.15 Neben dem Verein der Freunde der Universität Wien formierte sich im November 1921 ein Komi-tee zur Gründung der Kreditanstalt der Intellektuellen Österreichs r. G. m. b. H, das vornehmlich in den USA Spendengelder warb.16 Die Spenden waren kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Die schwindenden Mittel für den laufenden For-schungs- und Lehrbetrieb können allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass spe-ziell die Wiener Physikalischen Institute von den baulichen und apparativen Investiti-onen der Vorkriegszeit profitierten.17

3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich

3.2.1 Der Exner-Kreis und die Physik im Nachkriegsösterreich

Trotz oder gerade wegen der politischen Umbrüche der Nachkriegszeit saßen die Mit-glieder des Exner-Kreises in Wien, aber auch in Graz und Innsbruck beruflich fest im Sattel.Zwar waren nach Kriegsende einige Mitglieder des Kreises in der neu gegrün-deten Tschechoslowakei beziehungsweise in Polen von ihren Posten enthoben worden oder hatten diese freiwillig verlassen, um ihre berufliche Karriere in Österreich fortzu-setzen.18 Aber die Ordinariate und Extraordinariate an den dortigen Universitäten wurden trotz der Wirren von Krieg und Nachkrieg weiterhin durch den Exner-Kreis besetzt. Obwohl sie unter der desolaten materiellen Lage litten, waren die Schüler Exners nach dem Krieg wenig mobil. Das lag zum einen daran, dass ausländische Hochschulen nur vereinzelt versuchten, Mitglieder des Kreises abzuwerben.19 Zum

15 Vgl. UAW, Akademischer Senat, Senats-Sonderreihe, Senat S 164.121 : Dekan der Philosophischen Fa-kultät an Akademischen Senat der Universität Wien vom 8.7.1921.

16 Vgl. UAW, Akademischer Senat, Senats-Sonderreihe, Senat S 2 : Ausländische Hilfe (1920–1921), Manu-skript zur Gründung der Kreditanstalt vom November 1921.

17 Vgl. Rentetzi 2005, 275–306.

18 Anton Lampa gab 1918 seine Lehrkanzel für Experimentalphysik an der Deutschen Universität in Prag auf und kehrte nach Wien zurück. Viktor Conrad, seit 1910 als außerordentlicher Professor an der versität Czernowitz tätig, übernahm 1921 ein Ordinariat für Klimatologie und Meteorologie an der Uni-versität Wien. Vgl. Karlik/Schmid 1982, 142–143, 151–152. Erwin Schrödinger konnte 1918 einem Ruf als Extraordinarius nach Czernowitz nicht mehr folgen, da die Universität bereits dem Einflussbereich des Wiener Staatsamtes (vormals k. k. Ministerium für Kultus und Unterricht) entzogen war. Vgl. Schrö-dinger 2006, 18.

19 Unter den Wiener Physikern, die einen Ruf erhielten, war auch Hans Thirring. Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 13, Fiche 203 : Hess an Meyer vom 19.7.1921. Für die Nachbesetzung des Gießener Lehrstuhls schlug Meyer 1929 Karl Przibram, Victor Hess und Fritz Kohlrausch vor. Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 14, Fiche 229 : Meyer an Jaffé vom 27.2.1929. Siehe zur Situation in Innsbruck Oberkofler 1984/1985.

anderen war auswärtige Konkurrenz an österreichischen Universitäten nicht zu be-fürchten, da das Staatsamt für Unterricht und Kultus Berufungen aus dem Ausland aus finanziellen Gründen ablehnte. Die geringen Ordinariengehälter und die bescheidene apparative Ausstattung der meisten Physikalischen Institute machten einen Posten an den Universitäten Wien, Graz oder Innsbruck für auswärtige Bewerber auch nicht unbedingt attraktiv.20 Der sozialdemokratische Abgeordnete Karl Leuthner, Bericht-erstatter für Unterricht bei den Beratungen über den Staatsvoranschlag 1919/20, warnte in einer Rede vor der Konstituierenden Nationalversammlung vor den Folgen der Sparpolitik. Durch die langjährige Vernachlässigung des Hochschulwesens

»würde es heute wohl recht schwer fallen, Männer ersten Ranges zu nennen, die an den deutschösterreichischen Hochschulen tätig sind. Die Universitäten und Technischen Hoch-schulen sind immer mehr in die Gefahr, in die sehr bedenkliche Lage geraten, den Eindruck einer gewissen Durchschnittsmäßigkeit zu machen.«21

Leuthners Mahnung fand im Staatsamt kein Gehör. Gerade im Falle der Physik sei der Bedarf an ausländischen Fachkräften gering, da hier »eine Reihe besonders tüchtiger aus der W[iene]r. Physikerschule hervorgegangener Kräfte zur Verfügung stehen«.22 In der Tat kamen bei der Besetzung der wenigen zwischen 1918 und 1938 vakant werdenden Physikalischen Lehrkanzeln fast ausschließlich Exners Schüler zum Zug, was auch daran lag, dass in Besetzungsfragen das Senioritätsprinzip galt und somit die Chancen der älteren Generation besonders gut waren.

Die Berufungspolitik, die für das Feld der Radioaktivitätsforschung personell, ma-teriell und auch ideell weitreichende Folgen hatte, spielte auch im Streit um das Erbe Franz Serafin Exners eine ausschlaggebende Rolle. Die Regelung seiner Nachfolge zeigt exemplarisch die Bedingungen, unter denen seine Schüler ihren Einfluss auf die phy-sikalische Ausbildung im Allgemeinen und die Radioaktivitätsforschung im Besonde-ren festigen konnten. Dass der langjährige inoffizielle Leiter des Instituts für Radium-forschung, Stefan Meyer, die Institutsleitung übernehmen würde, war im Staatsamt unstrittig :

20 Die Diskussion um die im Vergleich zu deutschen Ordinarien geringere Besoldung der Professoren in Österreich entspann sich bereits um die Jahrhundertwende. Vgl. Höflechner 1993, 9, 13.

21 Abg. K. Leuthner in der 78. Sitzung der Konstituierenden Nationalversammlung der Republik Öster-reich am 29.4.1920, zitiert bei Buchegger 1981, 252–254.

22 ÖStA, AVA, Ministerium für Kultus und Unterricht 1848–1940, F 640/4/19906, Bl. 4–7 : Antrag des mit der Leitung des Unterrichtsamtes betrauten Unterstaatssekretärs, Ernennung zweier Universitätspro-fessoren vom 29.9.1920.

»Da die Radiologie – in theoretischer wie in praktischer Hinsicht eines der fruchtbarsten Gebiete der Physik, dem noch eine große Zukunft bevorsteht – an unserer Universität und in Österreich überhaupt keine spezielle Vertretung hat, so scheint der Vorschlag, auch absehen von St[efan]. Meyers persönlichen Verdiensten um die Wissenschaft, meritorisch ge-rechtfertigt, da es sehr wünschenswert ist auch dieses Forschungsgebiet den Studierenden zugänglich zu machen. Dafür ist aber gerade Wien der günstigste Boden wegen des hier bestehenden Radiuminstitutes, welches aber selbst nicht Unterrichtszwecken dient.«23 Meyer wurde 1920 zum Ordinarius berufen. Für die Nachfolge des Leiters der Lehr-kanzel für Experimentalphysik am II. Physikalischen Institut der Universität Wien kamen ebenfalls ausschließlich Exner-Schüler der ersten Generation in Betracht : Gus-tav Jäger, der 1918 als ordentlicher Professor die Lehrkanzel für theoretische Physik an der Universität Wien übernommen hatte, Egon von Schweidler, seit 1911 ordentlicher Professor für experimentelle Physik an der Universität Innsbruck sowie der seit 1908 an der TH Wien wirkende Heinrich Mache.24 Ein Teil der Professorenschaft unter-stützte zudem die Kandidatur des Wiener Physikers und Exner-Schülers Felix Ehren-haft, der seit 1913 als besoldeter außerordentlicher Professor für Physik an der Univer-sität Wien tätig war und der ein eigenes Institut mit entsprechender Ausstattung for-derte, nachdem er zum Ordinarius ernannt worden war.

Gegen Ehrenhaft formierte sich umgehend eine Koalition von Wiener Physikern, die seine »Tätigkeit […] als die der Opposition auf physikalischem Gebiet« ansah.25 Ihre Kollegen in Graz und Innsbruck, denen Ehrenhafts Arbeiten und sein Auftreten in Wien aus Berichten bekannt waren, leisteten Schützenhilfe.26 Auch hochkarätige

23 ÖStA, AVA, Ministerium für Kultus und Unterricht 1848–1940, F 640/4/5770, Bl. 91–92 : Kommis-sionsbericht betreffend die Wiederbesetzung der Lehrkanzel für Physik am II. Physikalischen Institute, undatiert [1920].

24 Neben Heinrich Mache hatte Ludwig Flamm die andere Lehrkanzel für Physik an der TH Wien inne, Franz Aigner besetzte die außerordentliche Professur und war Assistent Maches. Vgl. ÖStA, AVA, Mini-sterium für Kultus und Unterricht 1848–1940, F 640/4/5770 (1920), Bl. 71–72 : Kommissionsbericht betreffend die Wiederbesetzung der Lehrkanzel für Physik am II. Physikalischen Institute, undatiert [1920]. Daneben wurden der in Graz lehrende Hans Benndorf und Anton Lampa genannt. Lampa war bei seiner Rückkehr nach Wien 1918 zunächst ohne berufliche Position und arbeitete später im Bundes-ministerium für Unterricht. Seit 1921 wirkte er als außerordentlicher Professor an der Universität Wien.

Vgl. Karlik/Schmid 1982, 142–143.

25 UAW, PA Felix Ehrenhaft, PH PA 1537, Kiste 67, Bl. 55 : Abstimmungsergebnis über die Eignung Eh-renhafts als Nachfolger auf dem Exner-Lehrstuhl vom 3.3.1920. Siehe zu den Argumenten im Streit um Ehrenhafts wissenschaftliche Leistungen Braunbeck 2003, 34–35.

26 Vgl. ÖStA, AVA, Ministerium für Kultus und Unterricht 1848–1940, F 640/4/5770, Bl. 1–9 : Beset-zungsvorschlag für die nach Prof. Hofrat Dr. Franz Exner in Erledigung kommende ordentl. Lehrkanzel der Physik vom 24.3.1920.

Fachkollegen aus dem Ausland wie Albert Einstein und Max Planck wurden einge-schaltet, um den wissenschaftlichen Wert der Ehrenhaft’schen Forschung zu beurtei-len.27 Ehrenhafts Arbeiten zum Nachweis kleinster Teilchen (Subelektronen) mithilfe eines Ultramikroskops waren in der physikalischen Fachwelt des In- und Auslands umstritten.28 Während die Kollegen aus dem Ausland Ehrenhafts wissenschaftliche Beiträge unterschiedlich beurteilten, waren sich die Wiener Physiker in ihrer Befürch-tung einig, dass er im Fall seiner Berufung die Ressourcen des II. Physikalischen Insti-tuts für seine Forschungen nutzen und »die Lehrkanzel ihres universellen experimen-tellen Charakters berauben und in ein ausschließliches Forschungsinstitut für das Sub elektron verwandeln würde«.29Ehrenhaft war dafür bekannt, seine physikalischen Ansichten selbstbewusst zu vertreten, auch wenn sie gegen anerkannte Lehrmeinungen verstießen.30 Zudem stand er im Ruf, in seinen materiellen Ansprüchen keine Gren-zen zu kennen und die notwendigen Mittel für seine Forschung zu beschaffen, ohne auf die Interessen seiner Kollegen Rücksicht zu nehmen. Darüber hinaus war er von einem starken Bedürfnis nach öffentlicher Geltung erfüllt. Gemeinsam mit seiner Gattin Olga Steindler, die als eine der ersten Frauen an der Wiener Universität bei Franz Serafin Exner dissertiert hatte, führte er in Wien ein großbürgerliches Haus, in dem Vertreter der in- und ausländischen Naturwissenschaft und Kunst aufeinander trafen.31Da Ehrenhaft selbst aus einer arrivierten jüdischen Wiener Familie stammte, trug die Kritik an ihm nicht selten einen antisemitischen Unterton. Unter den Wiener Physikern blieb er fachlich wie sozial ein Außenseiter.

Im Kern des Besetzungsstreits, der sich an Ehrenhaft entzündete, stand die Frage, wie die Physikalischen Institute der größten Universität Österreichs künftig inhaltlich ausgerichtet und materiell ausgestattet sein sollten. Dabei geriet auch die bisherige Arbeitsteilung zwischen dem Institut für Radiumforschung und dem II. Physikalischen Institut auf den Prüfstand. Schweidler befürchtete nicht zu Unrecht, dass der primo loco gesetzte Jäger ebenso ungeeignet sei wie Ehrenhaft, das II. Physikalische Institut im Sinne Exners als Universalinstitut zu leiten, in dem die Radioaktivitätsforschung nur eines von mehreren Lehr- und Forschungsgebieten war. Seinem Freund Meyer gab er zu bedenken, dass

27 Vgl. die Stellungnahmen von Max Planck, Albert Einstein und anderen im Konvolut ÖStA, AVA,

27 Vgl. die Stellungnahmen von Max Planck, Albert Einstein und anderen im Konvolut ÖStA, AVA,